Hat die Bundesanwaltschaft im NSU-Prozess entlastende Aussagen unterschlagen? Der Verteidiger des Mitangeklagten Ralf Wohlleben wirft den Anklägern vor, seinen Mandanten gezielt in ein schlechtes Licht gerückt zu haben.
Wann es genau geschah, daran kann sich Carsten S. heute nicht mehr erinnern. Irgendwann in den neunziger Jahren, als er noch in der rechten Szene von Jena steckte und mit seinen Gesinnungsgenossen um die Häuser zog. Da beschimpften Jugendliche einen von ihnen als „Scheißnazi“. Die rechte Truppe verwandelte sich in einen braunen Mob, traktierte die Rufer mit Schlägen und Tritten und flüchtete, bevor Polizei und Krankenwagen kamen.
In seiner Aussage zu Beginn des NSU-Prozesses im Mai 2013 erwähnte S. die Episode beinahe beiläufig. Nun, mehr als drei Jahre später, sorgt sie für einen Eklat im Terrorprozess. Dabei geht es um die Glaubwürdigkeit von S. und die des ebenfalls auf der Anklagebank sitzenden Ralf Wohlleben.
Gemeinsam sollen S. und Wohlleben im Jahr 1999 oder 2000 die Pistole Ceska 83 besorgt haben, mit der die NSU-Mitglieder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt neun Menschen erschossen haben sollen. S. hatte zu Prozessbeginn ausgesagt, dass Wohlleben ihm den Auftrag erteilt und das Geld gegeben habe. Er habe die Waffe gekauft und sie dem NSU überbracht, hatte S. gesagt. Wohlleben stritt das in seiner eigenen Aussage vom Dezember vergangenen Jahres ab.
Wegen des Geständnisses ist Wohlleben in einer unangenehmen Situation. Mehrmals haben die Richter angedeutet, dass sie die Vorwürfe gegen ihn für plausibel halten. Seine Anwälte versuchen dieser Tage darum immer wieder, S. als unglaubwürdig darzustellen. Dafür wäre es hilfreich, ihn einer unwahren Aussage zu überführen. Das ist bislang nicht gelungen.
In der Sitzung vom heutigen Montag nahm Wohllebens Anwalt Olaf Klemke sich viel Zeit, um zu sezieren, wie vor Gericht mit der Prügelei von Jena umgegangen wurde. Im Fokus seines Anlaufs stand dieses Mal die Bundesanwaltschaft. Die Vertreter der Karlsruher Anklagebehörde, glaubt Klemke, haben Material unterschlagen, das ihren Mandanten entlastet.
Zur Prüfung der Glaubwürdigkeit von S. hatten Ermittler des Bundeskriminalamts zweimal den Zeugen Sven K. vernommen, der nach Wissen von S. bei der Schlägerei mitgemacht hatte. Laut Klemke sagte K. bei der ersten Vernehmung noch vor Prozessbeginn auf die Frage nach dem Vorfall: „Ich habe mich an so einer Schlägerei nie beteiligt.“ Er habe allerdings große Schwierigkeiten, sich an die Zeit zu erinnern.
Im Oktober 2013, nach dem Geständnis von S. in der Verhandlung, wurde K. erneut beim BKA vorgeladen. Dabei wurde er in aller Deutlichkeit befragt: „Erinnern Sie sich vielleicht jetzt an die Schlägerei?“ Die Erinnerung bei K. kam nicht zurück, er räumte aber zumindest ein: „Das kann schon sein, dass das so war.“
Für Klemke ist klar, dass durch den Vorhalt von S.‘ Aussage Erinnerungen „verfälscht oder kreiert“ worden sind. Die Vernehmungsbeamten hätten K.s deutliche Distanzierung von der Tat „ausbügeln“ wollen. Der wahre Skandal habe aber erst im Anschluss begonnen: Von den Protokollen der BKA-Befragung gab die Bundesanwaltschaft demnach nur eines an das Gericht weiter – und zwar das zweite. Dadurch wirkte die Erinnerung von K. möglicherweise viel schwammiger, als sie es sonst getan hätte.
Anwalt Klemke kritisierte, die Anklagebehörde habe nicht riskieren wollen, ihren „Kronzeugen“ Carsten S. zu diskreditieren, da dies den Tatvorwurf gegen Wohlleben schwächen könnte. „Das wirft alles in allem kein gutes Licht auf die Bundesanwaltschaft“, sagt er.
Die Karlsruher täten gut daran, eine Erklärung zu liefern: Da wird ein Zeuge befragt, Anlass ist das Ermittlungsverfahren im NSU-Komplex – doch die Abschrift des Gesprächs landet zunächst in einer Schublade statt auf dem Richtertisch? Tatsächlich mag eine Vernehmung unspektakulär erscheinen, in der ein Zeuge angibt, zur Sache nichts sagen zu können. Doch dass unvollständige Ermittlungsakten später zum Problem werden können, hätten Deutschlands oberste Staatsanwälte ahnen können.
Für Klemke dürfte damit dennoch wenig gewonnen sein: Das Ereignis kann locker zwei Jahrzehnte zurückliegen – eine Zeit, in der Gedächtnisschwund oder einander widersprechende Erinnerungen auftreten können. Zeuge K. hatte denn auch ausgesagt, dass gewalttätige Auseinandersetzungen damals ständig vorkamen. Carsten S. dürfte in den Augen der Richter genauso glaubwürdig dastehen wie zuvor. Und dennoch verschießt Klemke in einer zweiten Stellungnahme noch spitzere Giftpfeile: Das Verhalten der Bundesanwaltschaft sei eine Unverschämtheit, an der Aussage sei eine „falsche Etikettierung“ angebracht worden.
Er endet mit einer Warnung an die Richter um den Vorsitzenden Manfred Götzl: Sollte das Gericht die Ankläger nicht zur Ordnung rufen und deren Verhalten billigen, „muss es gewahr sein, dass mal jemand sagt: Herr Wohlleben hat kein faires Verfahren gehabt“. Die Botschaft: Folgen die Richter nicht Klemkes Sichtweise, wird der Anwalt versuchen, das Urteil in der Revision anzugreifen. Das dürfte er aber ohnehin wegen etlicher anderer vermeintlicher Fehler vorhaben.
Zu Wort meldeten sich am Montag auch die drei Altverteidiger der Hauptangeklagten Beate Zschäpe. Anwalt Wolfgang Heer beantragte, etliche Fragen als nicht zulässig zurückzuweisen, die Vertreter der NSU-Opfer seiner Mandantin Anfang Juli gestellt hatten. Zschäpe, die seit über einem Jahr nicht mehr mit den dreien redet, war der Vorstoß offensichtlich nicht bekannt: Ihr Wahlverteidiger Hermann Borchert hatte geplant, in der Sitzung erste Antworten auf die Fragen zu verlesen.