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Der Kampf des Sohnes

 

Im NSU-Prozess setzen die Hinterbliebenen ihre Plädoyers fort. Am Beispiel der Familie des ersten Mordopfers zeigt sich, wie sehr die Angehörigen unter den falschen Verdächtigungen der Ermittler litten.

Er wird froh sein, wenn es vorbei ist. Sich der Sache stellen. Denn nichts sagen, nicht hingehen und andere reden lassen – das geht ja nicht. Und so steht Abdul Kerim Şimşek am Dienstag vor dem Münchner Oberlandesgericht mit glasigen, dunkel umrandeten Augen. Seine Stimme zittert. „Ich will es einfach hinter mich bringen“, sagt er.

Der 30-Jährige ist Nebenkläger im NSU-Prozess. Verhandelt wird dort auch der Mord an seinem Vater, dem Blumenhändler Enver Şimşek. Am 9. September 2000 war Şimşek das erste Opfer der rechtsextremen Terrorgruppe geworden. Bis der NSU gut elf Jahre später aufflog, galten die Familienmitglieder der Polizei als Verdächtige. An diesem Tag endet die Winterpause des Verfahrens.

Wie alle Nebenkläger kann Abdul Kerim Şimşek in dem Verfahren ein Plädoyer halten. Nur wenige tun das. Doch für ihn, den hier geborenen Deutschtürken, sei es praktisch Pflicht. „Das ist die einzige Gelegenheit, bei der ich eine Stimme kriege. Ich tue das für meinen Vater“, sagt er.

Der Vater sei nämlich in den Ermittlungen, genau wie seine Angehörigen, „mit Dreck beworfen“ worden. So sagt es die Anwältin Seda Basay. Sie vertritt mit anderen Anwälten die Familie Şimşek. Im Namen aller übernimmt sie das juristische Plädoyer. Es ist nicht nur eine Abrechnung mit den Angeklagten, mit den Ermittlern und dem Gericht. Es ist vor allem eine Richtigstellung. Basays Vortrag macht den Getöteten lebendig, seinen Charakter, seinen Fleiß, sein gutes Verhältnis zu Deutschland.

Şimşek wurde 1961 im Südwesten der Türkei geboren. In seinem Heimatdorf lernte er seine Frau Adile kennen. Sie heirateten aus Liebe, das betont Basay. Das Paar ging nach Deutschland, in die hessische Provinz, sie bekamen zwei Kinder. Şimşek war zunächst Fabrikarbeiter, später machte er sich als Blumenhändler selbstständig. Irgendwann plante er, wieder in die Türkei zu gehen. „Sie hätten ihn nicht umbringen müssen, um den Erhalt der deutschen Nation zu sichern. Er wäre auch so zurückgekehrt“, merkt die Anwältin bitter an.

„Ein Angriff auf das Leben der Verbliebenen“

Die Worte „Erhalt der deutschen Nation“ hatte sie einem NSU-Video entnommen. Damit begründete die Gruppe ihre Gewalttaten. In einem Manifest sprachen sie außerdem vom „wahren Kampf“.

Dieser begann mit Enver Şimşek. Acht Schüsse trafen ihn auf einem Parkplatz in Nürnberg. Dort verkaufte er Blumen aus einem Lieferwagen heraus. Seine Mörder machten Fotos, wie er schwerverletzt da lag. Zwei Tage später starb er im örtlichen Krankenhaus.

Die Tat sei auch „ein Angriff auf das Leben der Verbliebenen“ gewesen, sagt Basay. Am Fall Şimşek schildert sie, wie sehr die Familien der NSU-Opfer gelitten haben. Nachdem Polizisten Şimşek auf der Ladefläche seines Lieferwagens entdeckt und in die Notaufnahme hatten bringen lassen, informierten Beamte im hessischen Schlüchtern seine Frau. Sie wurde zwar nach Nürnberg gebracht, aber nicht in die Klinik, sondern aufs Polizeirevier. Zur Vernehmung.

Fragen nach dem Sexleben

Daraufhin hörten die Ermittler zehn Monate lang die Telefonanschlüsse der Familie ab. Sie hielten es für höchst verdächtig, dass er so häufig nach Holland gefahren war. Dort kaufte er Ware auf einer Blumenbörse. Außerdem installierten sie in Şimşeks Lieferwagen eine Wanze. Zwei Monate nach dem Mord durchsuchten sie die Firma und die Wohnung der Familie. Die Witwe stand weinend daneben.

Vor Adile Şimşek behaupteten die Ermittler, sie hätten erfahren, ihr Mann sei daran beteiligt gewesen, „Streckmittel für Heroin von Holland nach Deutschland zu bringen“. Sie antwortete, das glaube sie nicht. Die Ermittler hielten ihr vor, er habe eine Freundin gehabt. Auch das konnte sie sich nicht vorstellen. Die Ermittler fragten, wie oft die Eheleute noch miteinander geschlafen hätten. Die Witwe beantwortete alles, in der Hoffnung, bei der Aufklärung zu helfen.

Doch die „großartige kriminalistische Arbeit der Ermittlungsbehörden“, wie Basay sie sarkastisch nennt, scheint  nur ein Muster zu kennen: Opfer gleich Täter. Wenn sich die Mörder nicht im nächsten Umfeld ausmachen lassen – wo dann?

Im Strom der Verdächtigungen und Vorhalte bewies die Familie einen großen Durchhaltewillen: Die Witwe führte den Blumenhandel noch eine Zeitlang weiter. Sie hoffte, die Mörder ihres Mannes zu einer weiteren Tat zu provozieren. Damit die Polizei eine Chance hätte, sie zu ergreifen. „Ich weiß auch gar nicht, warum ich weiterleben soll. Enver war heuer so gut zu mir, und da möchte ich ihm folgen“, sagte Adile Şimşek in einer Vernehmung.

Dann muss die Anwältin ihre Schilderungen unterbrechen. Mittagspause. Nach einer Stunde verkündet Richter Manfred Götzl jedoch, die Sitzung müsse ganz abgebrochen werden. Der Mitangeklagte Ralf Wohlleben leide an Rückenschmerzen. Der Sohn kommt nicht mehr zu Wort.

Draußen, vor dem Gericht, steht Abdul Kerim Şimşek wieder mit glasigem Blick. Enttäuscht sei er, aber der Prozess dauere schließlich bald fünf Jahre. Da komme es auf ein paar Tage mehr oder weniger nicht an. „Das ist halt Rechtsstaat“, sagt er. Ob er diesen nach alledem mal verlassen will? „Nein. Ich kämpfe für mein Land“, sagt er. Es sei seine einzige Heimat. Am nächsten Tag will er wiederkommen und selbst sprechen.