Gestern vor einem Jahr begann der Prozess gegen Beate Zschäpe und vier mutmaßliche Unterstützer des NSU. Weit über 100-mal trat der Staatsschutzsenat seitdem zusammen, er hörte Opfer, Zeugen und mögliche Helfer.
Was hat das Gericht in dieser Zeit erreicht? Zum Jahrestag spiegelt sich das Verfahren umfangreich in den Medien wider. ZEIT ONLINE hat den markanten Termin genutzt, um Übersicht in dem komplexen Verfahren zu schaffen: In einer Infografik lassen sich alle wichtigen Orte anzeigen, die einen Bezug zum NSU haben. Jeder kann nachvollziehen, mit welcher Streuwirkung das Trio seinen Kampf aus dem Untergrund führte – und wie nahe der rechte Terror ihm selbst gekommen ist.
An jedem Werktag sichten wir für das NSU-Prozess-Blog die Medien und stellen wichtige Berichte, Blogs, Videos und Tweets zusammen. Wir freuen uns über Hinweise via Twitter mit dem Hashtag #nsublog – oder per E-Mail an nsublog@zeit.de.
Die Fortschritte
Deutlich wird am Prozess auch Deutschlands Antwort auf die rassistische Serie: „Der NSU wollte Deutschland aus den Angeln heben – nun sitzen Menschen aus dem ganzen Land zu Gericht, um die Taten aufzuarbeiten“, heißt es im Text dazu. Das Verfahren habe die „Bedeutung eines gesamtdeutschen Forums“ bekommen, seit dem Beginn sei es trotz zahlreicher Konflikte gut vorangekommen.
Der Prozess habe „bisher mehr geleistet, als man ihm zugetraut hatte“, bilanziert Annette Ramelsberger in der Süddeutschen Zeitung. So biete er der Gesellschaft Möglichkeiten zur Selbstreflektion, „gerade wenn dort wieder Polizisten auftreten, die keinerlei Fehler bei sich finden wollen“. Zugleich biete er Einblicke in Ecken der Gesellschaft, die viele Bürger nicht sehen oder sehen wollen – vor allem, wenn Menschen aus dem Umfeld der rechten Szene aussagen: „Da finden scheinbar bürgerliche Zeugen nichts dabei, dass ihr Freund, ihr Mann, ihr Schwager Ausländer hasst.“
Die Ernüchterungen
Und dennoch: An vielen Stellen hakt es im Prozess – die Rolle des dubiosen V-Manns Andreas T. ist bis heute nicht befriedigend geklärt, viele Rechte können vor Gericht ungestraft Erinnerungslücken vorschützen, was viele Opfervertreter auf die Palme bringt. Die Terrorserie wirft bis heute etliche Fragen auf. „Die Antworten darauf sind – ein Jahr nach Beginn des Strafverfahrens – unbefriedigend“, kommentiert Marcel Fürstenau in einem Beitrag für die Deutsche Welle, der auch auf Englisch erschienen ist. Das liege insbesondere daran, dass die Hauptangeklagte Beate Zschäpe schweigt. „So wird der NSU-Prozess womöglich enden, ohne dass die mutmaßlichen Todesschützen von ihrer wichtigsten Helferin oder anderen Mitwissern ausdrücklich der Taten bezichtigt werden.“
Zwischen Erwartungen und juristischer Realität klafft eine enorme Lücke – diese Erkenntnis hat sich mittlerweile allgemein durchgesetzt. „Ein Jahr und 109 Verhandlungstage später herrscht Ernüchterung vor“, analysiert Martin Debes in der Thüringer Allgemeinen. Daran tragen offenkundig auch die Opfervertreter einen Anteil, denn sie wollten „jenen staatlichen Skandal aufdecken, den die Untersuchungsausschüsse nicht fanden“.
Das sieht auch Holger Schmidt vom Südwestrundfunk so: „Die Erwartungen mancher Nebenkläger und Teilen der Öffentlichkeit müssen am Ende geradezu zwangsläufig enttäuscht werden. Weil sie unrealistisch hoch sind.“ Zudem gehe es vielen von ihnen mehr darum, ihre Ideologie in den Prozess einzubringen, als ihren Mandanten eine Stimme zu geben. Solveig Bach zitiert in einem Artikel auf n-tv.de den Strafrechtsprofessor Martin Heger, der rät, man sei „gut beraten, die Exkurse zu den allgemeinpolitischen Umständen und dem polizeilichen Versagen in Grenzen zu halten“.
Trotzdem: Das Verfahren ist komplex, eine kritische Begleitung durch die Nebenklage ist nahezu unverzichtbar. 13 Jahre zwischen dem Untertauchen des Trios im Jahr 1998 bis zur Enttarnung 2011 sind das Thema in München. „Für diese Zeit (…) muss das Leben der Angeklagten und das Sterben der Opfer aufgearbeitet werden“, schreibt Karin Truscheit in der FAZ.
Die Medien
Zum Jahrestag erinnern auch mehrere Autoren an den Eklat um die Vergabe der Presseplätze vor Prozessbeginn – damals hatten mehrere etablierte Medien keinen Platz zugelost bekommen, manch kleine Lokalzeitung hingegen schon. Im Rückblick eine überflüssige Aufregung: „Die Stammbesatzung umfasst zwischen 20 bis 30 Journalisten. Somit kommt es inzwischen des Öfteren vor, dass mehr als die Hälfte der 50 Presseplätze leer bleiben“, stellt Debes in der Thüringer Allgemeinen fest.
Ein gewisser Kern an Journalisten berichtet allerdings beständig aus dem Saal und sorgt dafür, dass das Thema nicht aus dem gesellschaftlichen Diskurs verschwindet. Zudem verfolgen noch immer viele Zuschauer die Verhandlungen. Tim Aßman vom Bayerischen Rundfunk beobachtet, dass „das Medieninteresse (…) weiter ungewöhnlich groß“ sei.
Die Sicht der Türkei
Nach einem Jahr gibt es immer noch keine Antworten – so lautet das Resümee von Celal Özcan in der türkischsprachigen Tageszeitung Hürriyet. Das Gericht versuche die Mosaiksteine zu einem Bild zusammenzufügen, der Prozess insgesamt sei jedoch sehr angespannt. „Von fünf Angeklagten schweigen vier kontinuierlich. Die Zeugen aus dem Umfeld der Angeklagten behaupten, sich nicht mehr an die Ereignisse zu erinnern“, schreibt Özcan.
Der Autor geht außerdem auf die Aussage eines Polizisten ein, nach dessen Angaben im Jahr 1998 Beate Zschäpes Haus durchsucht worden war. Dabei seien Waffen und zwei Messer gefunden worden. Das sei eigentlich ein wichtiges Indiz für Zschäpes Billigung der Morde, analysiert der Autor. Doch sofort hätten sich Zschäpes Verteidiger eingeschaltet: Die Aussage des Polizisten könne nicht verwendet werden, denn die Durchsuchung wurde ohne Gerichtsbeschluss durchgeführt.
In der Sabah beschäftigt sich Kolumnist Yavuz Donat mit dem anstehenden Deutschland-Besuch des türkischen Ministerpräsidenten Erdoğan am 24. Mai. Erdoğan wird in Köln eine Rede halten. Das sei eine gute Gelegenheit, Deutschland an seine eigenen Hausaufgaben zu erinnern – etwa an die Aufarbeitung der NSU-Morde. Der Prozess würde verschleppt, Beweise verdunkelt. Der deutsche „tiefe Staat“ (also ein Staat im Staate) würde versuchen diesen „Schmutz“ zu bedecken, so der Autor. Die deutschen Medien dagegen ignorierten diese angeblichen Verstrickungen. Erdoğan müsse einige Dinge ansprechen, so Donat. Er erinnert an die Worte, die Bundespräsident Joachim Gauck in Ankara gesprochen hatte: „Freunde sagen manchmal auch unangenehme Dinge.“
Der 110. Prozesstag
Der Jahrestag an sich war nicht sonderlich ergiebig. Gehört werden sollten drei Polizisten zu verschiedenen Tatkomplexen – doch bereits nach einer halben Stunde war die Beweisaufnahme zu Ende, weil Beate Zschäpe über Übelkeit klagte. Es dauerte allerdings noch sechs Stunden, bis Richter Manfred Götzl die Sitzung abbrach. Zwischenzeitlich stritten die Prozessbeteiligten über ein Gutachten des Arztes, der Zschäpe untersucht hatte. Ihm hatte sie gesagt, ihr sei übel geworden, nachdem sie eine Mitteilung erhalten hatte – welche, das sagte sie nicht. „Zschäpe scheint von der Nachricht, die sie kurz vor Prozessbeginn erhalten hat, schwer getroffen zu sein“, beobachtet Annette Ramelsberger in der Süddeutschen.
Mittlerweile liegt eine Meldung vor, die Aufschluss über den Inhalt der schlechten Nachricht für Zschäpe geben könnte: Nach Informationen der Nachrichtenagentur dpa erwägt das Gericht, drei Briefe zu beschlagnahmen, die sie an einen Gleichgesinnten in Nordrhein-Westfalen geschrieben hatte. Auf deren Grundlage soll ein Sprachgutachten klären, ob Zschäpe Mitautorin des sogenannten NSU-Manifests ist. Das hatte das Gericht in einem Schreiben vom Freitag angekündigt. Seitdem hat Zschäpe vermutlich erst am Dienstag wieder ihre Anwälte getroffen – und von der Maßnahme erfahren.
Mitarbeit: Mirjam Schmidt
Das nächste Medienlog erscheint am Donnerstag, 8. Mai 2014.