Soziale Verdrängung, Konfliktbereitschaft, die deutsche Regierung oder grundlegend die Asylgesetzgebung in Deutschland: was sind die Ursachen für die Situation von Flüchtlingen in Deutschland? Unterstützer des refugee protest, Politiker und Polizei auf der Suche nach Gründen – und Lösungen.
„Wir sind auch Menschen, aber so werden wir in Deutschland und in den Flüchtlingslagern nicht behandelt. Jeden Tag bringen sich Flüchtlinge um, weil sie die oft jahrelange Warterei nicht mehr aushalten“, erklärte einer der Flüchtlinge des refugee protest in seiner Rede bei der großen Jubiläums – Demonstration am 23.März in Berlin. Viele Flüchtlinge machen die Politiker oder ganz konkret die deutsche Regierung und Kanzlerin Merkel für die Missstände in Deutschland verantwortlich. Aber in den verschiedenen politischen Parteien und unter allen Beteiligten am refugee protest in Berlin gibt es verschiedene Ansichten zu den Gründen für die Situation von Asylsuchenden.
Canan Bayram, Grünen-Abgeordnete im Berliner Abgeordnetenhaus, glaubt, dass das grundlegende Problem in der deutschen Asylpolitik darin läge, dass Migranten nicht als Menschen betrachtet werden. „Eigentlich brauchen die Flüchtlinge psychologische Hilfe und keine Verfahren, die sie noch mehr verängstigen“, meint Bayram. Es dürfe keine Einordnung in Gruppen geben. „Denn wir sind alle Menschen, auch wenn die Gesetze den Eindruck machen, als haben die Flüchtlinge nicht dieselben Menschenrechte“, betont die Berlinerin. Jeder Mensch habe laut unserem Gesetz das Recht auf Freiheit, Arbeit, Wohnen und eine Grundversorgung.
Das sieht Dirk Stegemann, versammlungsrechtlicher Vertreter und Unterstützer der Flüchtlinge ähnlich. Er weiß: „Wenn es um gesellschaftliche Teilhabe in Deutschland geht, stellt sich in der Politik immer die Frage nach der Finanzierung.“
Daher lebten Asylbewerber in Deutschland in Flüchtlingsheimen abseits der Gesellschaft – sie seien rechtlich extrem eingeschränkt, so Stegemann. Dass die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer, im November 2012 ein Gespräch mit den Flüchtlingen im Bundestag geführt hat, hatte seiner Meinung nach nur ein klares Ziel: „Die Politiker wollten unter dem Vorwand, die Bedingungen für Flüchtlinge ändern zu wollen, die Aktivisten dazu bringen, den Hungerstreik zu beenden.“
Eine Unterbrechung des Hungerstreiks am Brandenburger Tor haben die Abgeordneten damals auch erreicht – aber nur für ein paar Tage. Als es nach dem Gespräch nämlich keine Reaktion aus dem Bundestag mehr gab, haben die Flüchtlinge den Hungerstreik fortgesetzt. An den Bedingungen für die Flüchtlinge in Berlin hat sich seither nichts geändert.
Maria Böhmer betont aber, dass sie die Situation der Flüchtlinge und Asylbewerber weiterhin sehr ernst nehme. Sie erinnert sich an die Abmachung mit den am Brandenburger Tor streikenden Flüchtlingen: „Die Flüchtlinge haben uns damals zugesagt, ihren Hungerstreik abzubrechen und ich habe ihnen ein Gespräch mit Abgeordneten des Bundestags versprochen“.
Am 22.Novemeber 2012 fand dieses Gespräch mit Vertretern des Innenausschusses im Bundestag statt. Außerdem habe Böhmer als Vorsitzende des Integrationsbeirats „rechtliche Verbesserungen für Flüchtlinge und Menschen ohne Aufenthaltsstatus in Deutschland gefordert“. Sie erklärt: „Ich unterstütze die Forderung des Beirats, allen Einwanderern so schnell wie möglich Zugang zu Integrationskursen zu ermöglichen, damit sie dort die deutsche Sprache lernen können“.
Die Staatsministerin fordere außerdem einen Zugang zum Arbeitsmarkt der Asylbewerber nach spätestens sechs Monaten. „Wer einer Arbeit nachgehen kann, fühlt sich wertgeschätzt und kann ein selbstständiges Leben führen“, findet Böhmer. Zum Verlauf des Gesprächs mit den Flüchtlingen oder Ergebnissen äußert sich die Integrationsbeauftragte nicht.
Das macht dafür der CDU-Abgeordnete Wolfgang Bosbach, der als Vorsitzender des Innenausschusses das Gespräch mit den Flüchtlingen im Bundestag moderiert hat. Für ihn sei die Erinnerung an dieses Treffen Ende November unangenehm: „Unsere Hoffnung war, dass die Flüchtlinge uns ihr persönliches Lebensschicksal schildern, aber davon haben wir nichts erfahren.“ Er erzählt, dass die Flüchtlinge nur ihre Protestforderungen vorgelesen und „massive Vorwürfe gegen unser Land erhoben haben“. Die Abgeordneten haben damals plötzlich auf der Anklagebank gesessen und seien über die Heftigkeit der Vorwürfe überrascht gewesen.
Bosbach meint: „Es hat nicht an uns gelegen, dass das Gespräch nicht funktioniert hat“. Er weist darauf hin, dass die Residenzpflicht ja schon in einigen Ländern gelockert worden sei und die Problematik des Arbeitsverbots schon auf der Tagesordnung des Innenausschusses stehe. „Es ist höchst problematisch, den Flüchtlingen sofort nach Einreise eine Arbeitserlaubnis zu geben“, erklärt er und fügt hinzu: „Wir sollten alles unterlassen, was den Anreiz erhöhen könnte, dass Flüchtlinge ausschließlich aus wirtschaftlichen Gründen einreisen“.
Dass Bürger mit ihren Forderungen in den Bundestag eingeladen werden, sei sowieso ungewöhnlich, aber die Abgeordneten haben einen Beitrag leisten wollen, um die angespannte Situation zu entschärfen, so der CDU-Politiker. „Aber ein Gespräch in dieser Form hat offensichtlich keinen Sinn“, meint er und fügt hinzu: „Ein positiverer Verlauf des Gesprächs hätte sicherlich andere Konsequenzen gehabt“.
Enno Lenze, Unternehmer in Berlin, steht dieser Argumentation kritisch gegenüber. Er glaubt: „Die Flüchtlinge mit ihren Anliegen sind kein wichtiges Thema für Politiker. Damit bekommen sie keine Wählerstimmen und damit machen sie keinen Profit.“ Vielmehr haben die Politiker Angst, sich bei einem solchen Thema die Finger zu verbrennen, vermutet Lenze.
„Die Probleme, wegen denen die Menschen aus ihrer Heimat fliehen müssen, wurden unter anderem von den Bundespolitikern im Rüstungsexportausschuss verursacht“, erklärt der 30-Jährige. Dort entscheiden diese, mit ihren Exporten in andere Länder Kriege zu unterstützen, die die Einwohner von dort vertreiben. „Aber nicht die Bundespolitiker, sondern die Bezirke und Bürgermeister müssen sich dann um die Konsequenzen kümmern, nämlich den Flüchtlingen Hilfe anbieten“, erklärt Lenze. Er war während dem Hungerstreik der Flüchtlinge am Brandenburger Tor sehr viel vor Ort und hat miterlebt, wie viele Probleme es mit den Auflagen der Polizei für die Versammlung gab, die der Bezirk Berlin Mitte genehmigt hat.
In diesem Zusammenhang erklärt der Sprecher der Berliner Polizei, Stefan Redlich, die Rolle der Polizisten während Protestaktionen: „Wir als Polizei sind dafür da, dass Demonstrationen friedlich ablaufen. Aber wir dürfen uns dabei kein Thema, für das protestiert wird, zu Eigen machen“. Redlich betont: „Die Polizei ist kein Verhandlungspartner der Demonstranten.
Es ist nicht unsere Aufgabe, Stellung zu den politischen Forderungen zu beziehen.“ Er hatte den Eindruck, dass die Polizei während des Hungerstreiks am Brandenburger Tor instrumentalisiert wurde, um mediale Aufmerksamkeit zu bekommen.
Christopher Lauer, Fraktionsvorsitzender der Piraten in Berlin, bezweifelt das. Er habe den Protest der Flüchtlinge am Brandenburger Tor als sehr friedlich und ernst gemeint wahrgenommen. Lauer spricht sich für eine „möglichst moderate Flüchtlingspolitik“ aus. Seiner Meinung nach sollte die Maxime lauten: „Lieber einen zu viel aufnehmen, als einen zu wenig“.
Denn dass in Deutschland Flüchtlinge auf die Straße gehen und demonstrieren, zeige ja, dass das Asylsystem nicht funktioniere. „Wegen des demografischen Wandels fehlen uns doch sowieso junge Leute. Deshalb sollten wir uns intensiv um sie kümmern, erst recht, wenn sie aus dem Ausland kommen“, so der 28-Jährige.
Diese Forderung unterstützt Mareike Peter, Mitglied der Piratenpartei. Sie kritisiert, dass der Wohlstand in Deutschland darauf basiert, dass andere Länder ausgebeutet werden. „Die Gesellschaft blendet das aus und die Politiker sehen, dass es so gut für sie funktioniert“, meint Peter. Die Berlinerin ist seit dem Hungerstreik am Brandenburger Tor Unterstützerin der Flüchtlinge und sieht die Probleme der Asylbewerber in der Asylgesetzgebung, die sich seit 20 Jahren nicht geändert hat. „Das Asylrecht wurde damals stark eingeschränkt“, weiß die Berlinerin.
Am 6.Dezember 1992 haben CDU, FDP und SPD nämlich in ihrem „Asylkompromiss“ das Asylgrundrecht stark eingeschränkt. Sie wollten damit einen „Missbrauch des Asylrechts“ verhindern und versprachen den Aufbau eines europäischen Asylsystems. Das gibt es bis heute noch nicht.
Aber die Aktivisten in Berlin geben nicht auf. Ihre Wut auf die Politik wird größer und die Parolen lauter. So endete auch die letzte große Demonstration der Flüchtlinge in Berlin mit einer großen Menschenmasse, die vor dem Bundestag im Chor rief: „We are here and we will fight, freedom of movement is everybody’s right“. („Wir sind hier und wir werden kämpfen, jeder hat das Recht auf Bewegungsfreiheit“.)
Das war der 20. Teil meiner Artikel-Serie über das Refugee Camp Berlin.