Auf dem Z2X-Festival habe ich einen Blitzvortrag gehalten. Ich bin davon überzeugt, dass gleichberechtigte Teilhabe nur gelingen kann, wenn wir Behinderung neu denken. Hier kommt der Vortrag in Textform.
Die Welt ist im Pokémon Go-Fieber. Vor Kirchen, Wanderwegweisern und Bahnhöfen versammeln sich plötzlich Scharen von Menschen, die auf ihr Handy starren und versuchen Pokémons zu fangen oder einen virtuellen Kampf zu gewinnen. Ziel des Spiels: so viele verschiedene Pokémons wie möglich fangen. Millionen von Menschen sind weltweit auf der Jagd nach den Figuren. Weiter„Pokémons im Rollstuhl fangen – der Weg ist das Ziel“
„Randgruppen-Artikel“ steht über dem Text. Das ist, zugegeben, keine sehr originelle Überschrift, aber der Text selbst hat es in sich. Er stammt aus der Abizeitung der Liebfrauenschule im hessischen Bensheim aus dem Jahr 1996. Der ironische Text macht die Leser darauf aufmerksam, dass sich im Abiturjahrgang der katholischen Mädchenschule nicht weniger als 41 Randgruppen befunden hätten – und das bei einer Jahrgangsgröße von etwas mehr als 90 Abiturientinnen. Weiter„Debattenkultur: Wenn Randgruppen nicht mehr am Rand stehen“
Wohl jeder Rollstuhlfahrer, der öffentliche Verkehrsmittel nutzt, kennt die Situation: Man möchte mit dem Bus fahren, der Bus kommt, aber man kommt nicht hinein, weil der Rollstuhlplatz mit Kinderwagen vollgestellt ist. In Großbritannien muss sich mit diesem Problem seit vergangener Woche der oberste Gerichtshof, der Supreme Court in London, befassen. Er muss die Frage klären, ob eine Busgesellschaft verpflichtet ist, den Rollstuhlplatz an Rollstuhlfahrer zu geben, wenn diese ihn benötigen und wie das durchgesetzt werden soll.
Der Rollstuhlfahrer Doug Paulley aus Nordengland hatte geklagt. Er wollte einen Zug erreichen und wollte dafür mit dem Bus zum Bahnhof fahren, doch der Rollstuhlplatz war mit einem Kinderwagen belegt. Der Aufforderung, den Kinderwagen zusammenzuklappen, kam die Mutter nicht nach und so ließ der Busfahrer den Rollstuhlfahrer einfach stehen. Doug Paulley verpasste daraufhin seinen Zug und klagte wegen Diskriminierung.
Diskriminierungsverbot
Behinderte Menschen in Großbritannien dürfen nach dem Gesetz nicht aufgrund ihrer Behinderung diskriminiert werden und Unternehmen sind verpflichtet, angemessene Vorkehrungen zu treffen, um Diskriminierungen, Barrieren etc. zu beseitigen. Was angemessen ist, entscheidet im Streitfall ein Gericht, wie in diesem Fall. Ein Novum ist, dass sich damit jetzt der oberste Gerichtshof beschäftigen muss, was daran liegt, dass vorherige Instanzen unterschiedlich entschieden haben – mal gaben sie dem Rollstuhlfahrer recht, dass die Busfirma mehr hätte tun können, mal nicht – sowie an der grundsätzlichen Problematik, was die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel durch Rollstuhlfahrer angeht.
Im Gegensatz zu Deutschland hat Großbritannien eine höhere Geburtenrate. Dementsprechend ist auch das Kinderwagenaufkommen höher. Aber selbst in kontinentaleuropäischen Ländern kommt es vor, dass man nicht in die öffentlichen Busse hineinkommt, weil die Rollstuhlplätze durch andere belegt sind. Gerade deshalb wird dieser britische Fall auch außerhalb Großbritanniens mit Spannung verfolgt.
Und bevor jetzt jemand sagt, die Plätze seien nicht nur für Rollstuhlfahrer – das stimmt so nicht. Ein Rollstuhlstellplatz ist in öffentlichen Linienbussen EU-weit gesetzlich vorgeschrieben. Kinderwagen haben bislang keinen eigenen Stellplatz vom Gesetzgeber zugewiesen bekommen, aber natürlich ist es kein Problem, wenn diese den Rollstuhlplatz nutzen. Das Problem entsteht erst dann, wenn die Eltern glauben, das sei ihr Platz und ihn nicht freimachen, wenn ein Rollstuhlfahrer kommt.
Nachmittags chancenlos
Angesichts der Tatsache, dass es erheblich mehr Kinderwagen als Rollstuhlfahrer gibt, sind die Chancen für Rollstuhlfahrer, Busse zu nutzen, zu bestimmten Uhrzeiten relativ schlecht. Zwei, drei oder sogar vier Busse hintereinander nicht nutzen zu können, ist in London keine Seltenheit und das, obwohl die Londoner Verkehrsbetriebe viel striktere Regeln haben als die beklagte Busfirma in Nordengland.
Das ist umso paradoxer, wenn man bedenkt, wer sich jahrzehntelang für die Rollstuhlplätze eingesetzt hat: die Rollstuhlfahrer. Nur haben sich alle so daran gewöhnt, dass es diese Plätze jetzt gibt und dass Busse nur noch eine Stufe haben, dass alle meinen, sie auch nutzen zu können.
Unterstützung von Eltern-Community
Unterstützung bekommt Doug Paulley von ganz unerwarteter Seite: Das größte Elterninternetportal Mumsnet in Großbritannien hat sich für die Priorisierung von Rollstuhlfahrern ausgesprochen und betroffene Eltern haben sich dort in Diskussionsforen mehrheitlich dafür ausgesprochen, Rollstuhlfahrern Platz zu machen. Auch das wurde als Argument vor Gericht vorgetragen.
Die Anhörung war sehr interessant. Zum einen ist das britische Rechtssystem völlig anders als das Deutsche, aber auch der Austausch zwischen den sieben Richtern und den Anwälten war sehr aufschlussreich. Der Vertreter des Klägers führte beispielsweise an, dass in einer Richtlinie ganz klar geklärt ist, was ein Busfahrer zu tun hat, wenn jemand im Bus isst. Das geht von der Aufforderung, das Essen zu beenden bis dahin, die Polizei zur Hilfe zu holen. Wenn also jemand dagegen verstößt, den Rollstuhlplatz nicht freizugeben, wiegt das weniger schwer, als wenn jemand sein Mittagessen im Bus verzehrt, obwohl er da nicht einmal einen anderen Gast daran hindert, mit dem Bus zu fahren?
Die Gegenseite sah das natürlich anders und fühlte sich nicht in der Verantwortung, den Rollstuhlplatz zu verteidigen. Wie die ganze Sache ausgeht, wird man erst am Ende des Jahres wissen. So lange wird es voraussichtlich dauern, bis die sieben Richter ihr Urteil gefällt haben. Bis dahin geht der Rollstuhl-Buggy-Kampf in britischen Bussen weiter.
Es sollte eine ganz normale Filmpremiere in London werden: Für Me before you oder Ein ganzes halbes Jahr, wie das Buch und der Film in Deutschland heißen, hatte man den roten Teppich ausgerollt und viele Fans warteten auf die Schauspieler Sam Claflin (Hunger Games) und Emilia Clarke (Game of Thrones).
Aber nicht nur Fans des Films waren anwesend, sondern auch eine Gruppe von Rollstuhlfahrern, die gegen den Film und das zugrunde liegende Buch protestierten.
Spoilerwarnung! Nicht weiterlesen, wenn man die Handlung des Buchs oder des Films nicht vorab wissen möchte.
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Der erfolgreiche Geschäftsmann Will ist vom Hals abwärts querschnittgelähmt und seine Eltern suchen für ihn eine neue Assistentin, die ihn rund um die Uhr pflegt. Sie finden Louisa, die zwar völlig unerfahren ist, aber, da sie bislang beruflich wenig Glück hatte, bereit ist, den Job anzunehmen. Die beiden verlieben sich ineinander, verbringen nach großen Anlaufschwierigkeiten eine tolle Zeit miteinander und trotzdem will sich Will umbringen, weil er sein Leben für nicht mehr lebenswert hält. Am Ende tut er das auch. Er reist in die Schweiz und stirbt mit Hilfe von einer Sterbehilfeorganisation. Kein Happy End. Das Buch ist todtraurig, der Film ist es sicher auch. Ich habe das Buch gelesen und kenne auch schon die Fortsetzung des Romans.
Um es vorweg zu sagen, ich mochte das Buch. Ich mag auch Jojo Moyes‘ Schreibstil. Ich mochte die Liebesgeschichte und die Hauptperson der Handlung, Louisa. Was ich nicht mochte, war alles, was mit dem Tod von Will zu tun hatte und seinen Tod überhaupt. Und ja, es gibt Stellen in dem Buch, da kann ich als selbst querschnittgelähmte Frau nur mit dem Kopf schütteln. Da merkt man dann schon, dass das jemand geschrieben hat, die nicht querschnittgelähmt ist und auch nie eine Beziehung mit jemandem hatte, der diese Behinderung hat, sondern alles nur vom Hörensagen interpretiert.
Warum nun also der Aufschrei? Sowohl in den USA, Kanada als auch in Großbritannien, wo der Film diese Woche anläuft, gibt es Proteste von behinderten Menschen. Auch auf Twitter wird lautstark protestiert.
Nicht behinderte Schauspieler spielen behinderte Menschen
Es ist wirklich fast schon lächerlich, aber ja, auch in Hollywood spielen nicht behinderte Schauspieler behinderte Rollen – und das meist ziemlich schlecht. Ich werde langsam wirklich müde, mich darüber aufzuregen. Es nervt halt einfach nur noch. Dementsprechend gibt es auch wenig Akzeptanz für diese Filme vonseiten vieler behinderter Menschen. Sie empfinden es wie „Blackfacing„, das Anmalen von weißen Schauspielergesichtern mit schwarzer Farbe, statt gleich schwarze Schauspieler einzusetzen.
One day, I hope to see a movie where the disabled character is written by a disabled writer, played by a disabled actor & they #LiveBoldly
Das Argument gegen das Buch und den Film, das Leben mit einer Behinderung wird als unwert dargestellt, kann ich durchaus verstehen. Will beantwortet die Frage, warum genau er eigentlich sterben möchten, fast immer nur damit, dass er so – also behindert – nicht leben möchte. Er sei nicht der Typ, der sein Schicksal einfach akzeptiert. Na prima!
Und das, obwohl er eigentlich recht angenehm leben könnte: Er hat mit Louisa am Ende eine tolle Freundin, seine Eltern bemühen sich, ihm das Leben so angenehm wie möglich zu gestalten, er hat ein schönes Haus und ziemlich viel Geld, kann das Haus verlassen, zu Veranstaltungen gehen und vieles mehr. Zudem wird für den Film auch noch mit „Lebe mutig“ geworben (#liveboldly), was man entweder so verstehen kann, dass das Leben mit Behinderung immer Mut erfordert. Das ist eine typische Heroisierung behinderter Menschen, wie es auch gerne Medien machen. Aber auch die andere Interpretation, dass man sein Leben so lange mutig leben soll, wie man es noch kann, ist nicht viel besser.
Das Buch setzt schon fast als logisch voraus, dass man nach einer Querschnittlähmung nicht mehr leben möchte. Dass das behinderte Menschen auf die Palme bringt, vor allem querschnittgelähmte Menschen, verstehe ich, denn klar ist, die Mehrheit möchte leben und das vermutlich meist unter weit schwierigeren Umständen als der Rollstuhlfahrer im Buch.
Hey, everyone involved in @mebeforeyou: I’m a disabled woman and I #LiveBoldly by embracing my life as it is and accepting myself as I am.
Sexualität und Behinderung wird falsch oder gar nicht dargestellt
Eines der dümmsten Vorurteile, denen man als behinderter Mensch so im Laufe des Lebens immer wieder begegnet, ist, dass behinderte Menschen keinen Sex haben können oder gar keine Sexualität haben. Da könnte man meinen, wir leben in einer aufgeklärten Welt, in der jeder weiß, dass es Sex in den unterschiedlichsten Facetten gibt, aber das scheint sich weder bis zur Autorin noch nach Hollywood rumgesprochen zu haben, denn auf eine gute Sexszene wartet man auf den vielen Seiten des Buches vergeblich. Damit wird ernsthaft der Eindruck erweckt, ein querschnittgelähmter Mann könne kein Sex haben oder wenn, dann sicher keinen erfüllenden, dann kann man es auch gleich lassen.
Der US-amerikanische Regisseur Dominick Evans, der selbst im Rollstuhl sitzt, schrieb über den Film: Behinderte Menschen „haben es satt, Filme anzuschauen, in denen behinderte Menschen falsch dargestellt werden. Auch weil wir nicht miteinbezogen werden, nirgendwo. Wir wurden zum Drehbuch nicht befragt. Kein Rollstuhlfahrer hat das Drehbuch geschrieben. Sogar die Hauptrolle spielt ein nicht behinderter Schauspieler, was dazu führt, dass er nicht einmal weiß, ob er gut spielt, wie schädlich seine Darstellung und wie unauthentisch das Drehbuch ist.“ Ohne behinderte Menschen einzubeziehen, fahre das „nicht behinderte Hollywood“ damit fort, das Leben für behinderte Menschen schwerer zu machen, weil es das sei, was Menschen sehen und sie annehmen, das sei die Wahrheit.
Mit dieser Meinung steht Dominick Evans nicht alleine da. Hunderte englischsprachige Tweets und zahlreiche Kommentare in amerikanischen und britischen Medien gab es in den vergangenen Tagen. Bleibt abzuwarten, welche Reaktionen der Film in Deutschland auslöst, wenn er am 23. Juni in die Kinos kommt.
Ich hatte mich so auf den Eurovision Song Contest in Stockholm gefreut. Eigentlich war ich nie ein großer ESC-Fan, bis ich im vergangenen Jahr zum ersten Mal den Wettbewerb in Wien erlebt habe. Was für eine tolle Stimmung der Song Contest im Publikum, vor den Fernsehgeräten und nicht zuletzt im Pressezentrum erzeugt! Das macht einfach Spaß.
Meine Stimmung ist allerdings in diesem Jahr bislang noch nicht so richtig toll – und das liegt am ESC-Pressezentrum.
Welche deutsche Metropole ist die barrierefreieste Stadt Deutschlands? Wenn man der Umfrage des Marktforschungsinstituts Innofact im Auftrag der Aktion Mensch glaubt, ist es München. Frankfurt, Hamburg und Berlin belegen die Plätze zwei bis vier – Schlusslicht ist Köln.
Bewohner der fünf Metropolen sowie aus ganz Deutschland wurden aufgefordert, die Barrierefreiheit
ihrer Stadt zu bewerten. München liegt in der Gesamtbewertung über dem Bundesdurchschnitt. So bestätigen zum Beispiel 41 Prozent der Münchener, dass ihre Stadt viel für Menschen mit Behinderung macht. Zum Vergleich: In Köln stimmen dieser Aussage nur 22 Prozent zu. Die Aktion Mensch ließ für die repräsentative Studie 1.295 Personen zwischen 18 und 65 Jahren in Berlin, Hamburg, München, Köln und Frankfurt am Main befragen sowie rund 1.000 weitere Bundesbürger in anderen Städten.
14 Prozent behinderte Befragte
„Aus der bundesweiten Stichprobe ergibt sich auch ein repräsentativer Anteil (14 Prozent) von Menschen mit Behinderungen“, so die Aktion Mensch in ihrer Pressemitteilung. Zur Vergleichbarkeit der Bewertung der Barrierefreiheit in deutschen Städten wurden in der Studie unter anderem die Zugänglichkeit von verschiedenen Orten und Einrichtungen, das städtische Engagement für Barrierefreiheit sowie die Einbindung von Menschen mit Behinderung in den Städten abgefragt. Das heißt, unter den 1.000 Befragten waren 140 Menschen mit Behinderungen. Das ist zwar repräsentativ, die Frage ist, wie sinnvoll das ist.
Wie viele nichtbehinderte Menschen können wirklich beurteilen, wie barrierefrei ihre Stadt ist? Ich behaupte, nicht wirklich viele. Ruft man beispielsweise in einem durchschnittlichen Restaurant an und fragt nach der Anzahl der Stufen am Eingang, heißt es fast immer, es gebe keine. Und fast immer gibt es welche. Für nichtbehinderte Menschen sind ein oder zwei Stufen keine Barriere. Dementsprechend nehmen sie diese auch nicht wahr. Sie empfinden also Restaurants oder andere Einrichtungen als barrierefrei, die gar nicht barrierefrei sind. Auf völlige Ahnungslosigkeit stößt man, wenn man nach einer barrierefreien Toilette fragt. Die meisten Menschen, die nicht darauf angewiesen sind, haben noch nie darauf geachtet, ob es in ihrem Lieblingscafé eine barrierefreie Toilette gibt. Wie sollen sie beurteilen, wie barrierefrei ihre Stadt ist?
Frankfurt? Nicht im Ernst!
Deshalb wundert mich das Ergebnis auch nicht. Während ich mich mit München als Gewinner noch arrangieren kann (ich persönlich hätte allerdings Berlin gewählt), ist Frankfurt auf Platz zwei wirklich ein Witz. In Frankfurt habe ich beruflich schon sehr viel Zeit verbracht und hatte unzählige Erlebnisse, die gegen die Stadt auf einem der vorderen Plätze sprechen.
Frankfurt ist für mich die Bundeshauptstadt defekter Aufzüge (wenn es überhaupt welche gibt!) und Gewinner beim chronischen Mangel an barrierefreien Hotelzimmern. Das Maß an Barrierefreiheit dieser Stadt lässt sich sehr schön an der Höhe der Stufe zwischen Bahnsteig und S-Bahn bemessen. Rollstuhlfahrer, die vom Frankfurter Flughafen die S-Bahn in die Stadt nehmen wollen oder wieder zurück, kommen ohne Hilfe nicht zurecht. Und jedes Mal spielen sich unglaubliche Szenen ab, wenn Leute ihre Koffer aus der S-Bahn wuchten. Ich habe schon Menschen aus der S-Bahn auf ihre Koffer fallen sehen.
Mich wundert, dass Berlin so schlecht abschneidet. Immerhin kann man in Berlin die öffentlichen Verkehrsmittel relativ gut nutzen, es gibt verhältnismäßig viele Restaurants und Cafés mit barrierefreien Toiletten und ein barrierefreies Hotelzimmer findet sich auch immer.
In diesem Sinne ist das vielleicht eine gut gemeinte Studie, aber die Aussagekraft ist wohl eher mäßig. Es befragt auch keiner Kinderlose, welche Stadt die schönsten Spielplätze hat.
Nun ist er da, der Entwurf zum Bundesteilhabegesetz. Er ist 360 Seiten lang und soll das Leben behinderter Menschen nachhaltig verbessern. Seit Monaten war der Entwurf erwartet worden. Nicht zuletzt Menschen, die mit Assistenz leben, hatten sich von dem Gesetz viel versprochen. Dass sie mehr als 2.600 Euro ansparen dürfen zum Beispiel. Dass Assistenz und Teilhabe vom Sozialhilferecht entkoppelt wird. Dass Leistungen bundesweit vereinheitlicht werden. Dass die Partner von behinderten Menschen kein finanzielles Risiko eingehen, wenn sie eine behinderte Frau oder einen behinderten Mann heiraten. Das alles waren Forderungen der Behindertenverbände, der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung und vielen anderen. Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) zeigte sich begeistert darüber, wie viele behinderte und nichtbehinderte Menschen zu dem Gesetz angehört worden seien. Aber eine Anhörung heißt ja nicht, dass man auch wirklich zuhört und sich danach richtet, was gesagt wurde.
Schlag ins Gesicht
Der Entwurf liegt nun auf dem Tisch. „Sehr ernüchternd“, „bin entsetzt“, „das Gesetz sei ein Schlag ins Gesicht behinderter Menschen“ – das waren die ersten Reaktionen, die ich zu dem Entwurf las und das hat mehrere Gründe.
Ein Gesetz, dass die Situation von behinderten Menschen verbessern sollte …
… aber mehr Bürokratie bringt und bisherige Rechte einschränkt.
Das wird aber auch weiterhin dazu führen, dass Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen zur Verwirklichung verbriefter Menschenrechte ihr eigenes Einkommen und Vermögen einsetzen müssen. Das läuft nicht nur dem Grundgedanken des Nachteilsausgleichs zuwider. Es ist auch keineswegs im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention. Teilhabeleistungen, die keine Unterhaltsleistungen sind, dürften demnach nicht angerechnet werden. Aber dazu konnte sich die Bundesregierung schon wieder nicht durchringen.
Familien weiter belastet
Dabei spielt Geld natürlich eine Rolle. Die Bundesregierung spricht von Millionenbeträgen, die das neue Gesetz kosten soll, ohne aber zu erwähnen, dass das genau die Kosten sind, die bislang von behinderten Menschen selbst und ihren Angehörigen getragen wurden und dass diese weiterhin nicht vollständig entlastet werden. Kosten entstehen der Regierung dadurch, dass Vermögensgrenzen angehoben wurden – aber die Hoffnung war, dass sie beseitigt werden. Dazu konnte man sich dann doch nicht durchringen.
Die Grundlagen für die Berechnung der erhöhten Freibeträge sind außerdem abenteuerlich. Wie ein behinderter Mensch für das Alter vorsorgen soll, ist immer noch nicht geklärt. Bei 50.000 Euro Vermögen – das ist die letzte Stufe der Gesetzesänderung, die 2020 in Kraft treten soll – ist Schluss. Ein Eigenheim finanzieren? In einen Vorsorgeplan einzahlen? Das Vermögen der Eltern oder des Ehepartners erben? Gibt’s nicht! Auch weiterhin hält das Sozialamt die Hand auf, sobald ein bestimmter Betrag erreicht ist.
Auch das Vermögen des Ehepartners wird immer noch angerechnet. Wer mit einem behinderten Menschen verheiratet ist, zahlt also weiterhin drauf. Verunglückt der Ehepartner zum Beispiel und sitzt nach dem Unfall im Rollstuhl und braucht umfassende Assistenz, dann hat die Familie nicht nur den Unfall zu verdauen, sondern auch noch massive finanzielle Einbußen. Wer zu viel Vermögen hat (mehr als 25.000 Euro, später 50.000 Euro) bekommt nichts für Teilhabemaßnahmen oder Assistenz. Es erbt dann also schon zu Lebzeiten indirekt das Sozialamt und nicht die Ehefrau oder der Ehemann.
Gesetz bringt sogar Verschlechterungen
Was hat das mit gleichberechtigter Teilhabe zu tun? Mit dem Gesetz drohen sogar Verschlechterungen. Denn nur die Menschen sind leistungsberechtigt, die in fünf (von neun) Lebensbereichen ohne Unterstützung nicht teilhaben können oder in drei Lebensbereichen auch mit Unterstützung nicht teilhaben können. Es geht also nicht darum, wer wirklich Unterstützung braucht, sondern ob die Lebenssituation der Person bürokratischen Kriterien entspricht. Ein sehbehinderter Student beispielsweise, der „nur“ Unterstützung beim Lesen für sein Studium braucht, bekäme künftig zum Studieren keine personelle Hilfe mehr. Das ist weder im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention noch im Sinne des Gesetzgebers.
Durch das #Bundesteilhabegesetz wird der individuelle Anspruch auf Integrationshelfer an Schulen quasi abgeschafft. (§112 IV)
Das Gesetz ist enttäuschend. Darüber können auch die Selbstbeweihräucherungsreden der Regierung nicht hinwegtäuschen. Sie hat versucht, die UN-Behindertenrechtskonvention in ein nationales Gesetz zu gießen. Das bedient sich nur aus den Begriffen der Konvention, wendet sie aber nicht an. Selbstbestimmung, ambulantes vor stationärem Wohnen, die Freiheit, sich die Assistenz selbst zu organisieren, und vieles, vieles mehr sind jedoch Grundprinzipien der UN-Behindertenrechtskonvention, die Deutschland ratifiziert hat. „Entscheidend ist, was hinten ‚rauskommt“, hat Helmut Kohl einmal gesagt. Ein Gesetz, das sich Teilhabegesetz nennt, aber am Ende nicht die Teilhabe sichert, sondern alten Wein in neuen Schläuchen verkauft, braucht niemand.
Um es vorweg zu sagen: Nein, ich bin keine Raucherin, der die Bilder auf Zigarettenpackungen lästig sind. Ich rauche nicht. Aber mich irritiert der Warnhinweis, der jetzt in ganz Europa auf Zigarettenpackungen auftaucht, dennoch: „Rauchen verursacht Schlaganfälle und Behinderungen“ ist dort seit Neuestem zu lesen. Dazu wird das Bild einer blassen, apathischen Frau im Rollstuhl gezeigt oder das Bild eines Mannes, der künstlich beatmet wird.
Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes hat heute eine Studie zum Thema Diskriminierung in Deutschland vorgelegt. Wenig überraschend erst einmal: Diskriminierung gibt es häufig, viele erleben sie. Nahezu jeder dritte Mensch in Deutschland (31,4 Prozent) hat in den vergangenen zwei Jahren eine Diskriminierung erfahren. Vergleichsweise häufig kommt Benachteiligung aufgrund des Alters (14,8 Prozent) vor, gefolgt von Diskriminierung aufgrund des Geschlechts (9,2 Prozent). Diskriminierung aufgrund von Behinderung haben 7,9 Prozent der Befragten erlebt. Wenn man bedenkt, dass 13 Prozent der Deutschen behindert sind, ist die Zahl relativ hoch.
Menschen wehren sich öfter
Die Befragung der Antidiskriminierungsstelle basiert auf zwei Säulen: In einer repräsentativen Umfrage des Bielefelder Forschungsinstituts SOKO Institut für Sozialforschung und Kommunikation wurden rund 1.000 Menschen ab 14 Jahren bundesweit telefonisch befragt. Diese Ergebnisse geben einen Überblick darüber, wie verbreitet Diskriminierung in Deutschland ist. In einer umfassenden schriftlichen Betroffenenbefragung konnten überdies alle in Deutschland lebenden Menschen ab 14 Jahren über selbst erlebte oder beobachtete Diskriminierungserfahrungen berichten. Mehr als 18.000 Personen haben sich beteiligt und knapp 17.000 selbst erlebte Situationen beschrieben.
„Diskriminierung ist alles andere als ein Nischenthema“, sagte die Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Christine Lüders, bei der Vorstellung der Ergebnisse. „Jeder Mensch kann betroffen sein. Es ist also in unser aller Interesse, mit ganzem Einsatz gegen jede Form von Diskriminierung anzugehen.“ Immerhin, die Mehrheit der Menschen hat die Diskriminierung nicht einfach hingenommen, sondern sich gewehrt oder zumindest mit jemanden darüber gesprochen und sich beraten lassen. „Die Menschen sind nicht gewillt, Diskriminierung einfach zu erdulden“, sagte Lüders. Sie brauchten aber mehr und bessere Unterstützung: „Knapp zehn Jahre nach Inkrafttreten des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes ist es höchste Zeit für eine rechtliche Stärkung der Menschen, die Diskriminierung erleben. Auch sollten wir jetzt eine Fortentwicklung des gesetzlichen Diskriminierungsschutzes in den Blick nehmen.“
Klagerecht gefordert
Lüders regte deshalb ein eigenes Klagerecht für Diskriminierungsverbände sowie für die Antidiskriminierungsstelle an: „Es muss endlich möglich sein, Betroffene vor Gericht effektiv zu unterstützen – wie es in vielen anderen europäischen Ländern längst möglich ist.“
Zumindest im Bereich behinderter Menschen könnte die Bundesregierung sofort etwas ändern, indem sie nämlich das Behindertengleichstellungsgesetz auf die Privatwirtschaft ausweitet. Es genügt ja nicht, Studien zu veröffentlichen, wer alles diskriminiert wird, sondern Ziel muss doch sein, die Diskriminierung praktisch abzustellen oder zumindest den Menschen das Gefühl zu geben, dass das gesellschaftlich nicht toleriert wird.
Wenn ich in London an einen Busfahrer gerate, der sich weigert, mir die Rampe auszufahren, dann habe ich ein starkes Gesetz im Rücken, das sogar Schadenersatz vorsieht. Wenn mir das in Berlin, Hamburg oder München passiert, kann ich froh sein, wenn ich von den Verkehrsbetrieben ein angemessenes Entschuldigungsschreiben bekomme. Und dabei geht es nicht einmal ums Geld, sondern um das Bewusstsein in der Gesellschaft, das so etwas nicht mehr toleriert wird und dass der Staat derartige Ausgrenzung nicht mehr hinnimmt, was eben bedeutet, dass man etwas zahlen muss, wenn man diskriminiert.
Die ganze Thematik Diskriminierung zeigt übrigens sehr schön, dass es keineswegs ums Geld geht, das angeblich fehlt, sondern um die richtige Einstellung. Nur ein Beispiel: Blindenführhunde in Restaurants zu lassen – und zwar so, dass sich die Restaurantbesitzer schadenersatzpflichtig machen oder ein Bußgeld zahlen müssen, wenn sie blinde Menschen deshalb rauswerfen – kostet den Staat keinen Cent. Aber es wäre extrem wichtig, um das Selbstbewusstsein blinder Menschen mit Blindenführhunden zu stärken und klar zu machen, dass so ein Verhalten heutzutage nicht mehr geht. Exklusion muss Folgen haben. Das ist zielführender als Inklusion immer nur zu fordern oder in Studien festzuhalten, wie viele Menschen von Ausgrenzung betroffen sind.