Jean Grae führt auf ihrem dritten Album „Jeanius“ vor, wie kraftvoll HipHop heute noch klingen kann. Dabei hatte sie erst vor Kurzem frustriert das Mikrofon an den Nagel gehängt
Vor ein paar Wochen bot jemand auf der populären amerikanischen Internetseite Craigslist seine Dienste als Texter an: „Offensichtlich wurde schon wieder ein von mir nicht autorisiertes Album veröffentlicht. Wenn jeder Geld mit mir verdient, warum soll ich mich nicht direkt an die Leute wenden, die meine Musik lieben? Ihr habt Beats? Ich rappe 16 Zeilen für 800 Dollar!“ Steckte da jemand in Schwierigkeiten? Ja, das kann man wohl sagen. Die hier werbende Rapperin Jean Grae stolpert nämlich von einer Schwierigkeit in die nächste.
Geboren wurde sie als Tsidi Ibrahim 1976 in Kapstadt, ihre Eltern sind Jazzmusiker. Die Familie floh vor dem südafrikanischen Regime nach New York, dort kam Jean Grae mit der HipHop-Szene in Kontakt. Nach kurzer Mitgliedschaft in einer Band veröffentlichte sie im Jahr 2002 ihr viel versprechendes Soloalbum Attack of The Attacking Things.
Sechs Jahre sind seitdem vergangen. Sechs Jahre, in denen ihre Eloquenz, ihr Humor, ihre Wandlungsfähigkeit und ihre Kompromisslosigkeit unermüdlich gelobt wurden; in denen sie auf zahlreichen Alben anderer Rapper Gastauftritte hatte; in denen sie von ihren Anhängern und selbst von manchem Kritiker als bester MC schlechthin bezeichnet wurde. Allein, sie blieb den meisten eine Unbekannte – wohl auch, weil sie in der ganzen Zeit nur ein einziges reguläres Album veröffentlichte, This Week im Jahr 2004.
An Kreativität mangelte es ihr nicht, viel mehr an Kontrolle über ihr Werk. An einem Tag etwa wurden zwei ihrer Alben gleichzeitig unautorisiert im Internet verbreitet. Zwei weitere Alben brachte ihre Plattenfirma offiziell auf den Markt, allerdings ohne Jean Graes Zustimmung. Zuvor hatte sie ihre Probleme in ihren Stücken reflektiert und Zeilen wie diese getextet: „Not a thug, not a drugseller, not a gunshooter / Not a stripper, sex symbol or anything you’re used to / Marketing nightmare, I don’t fit into categories.“ Doch das ging ihr zu weit, im April 2008 kündigte sie ihren Rückzug aus dem Musikgeschäft an. Ihre Karriere schien beendet zu sein, ehe sie richtig begonnen hatte.
In den vergangenen Monaten hat sie offenbar neue Hoffnung geschöpft. Vor kurzem ist ihr Album Jeanius offiziell in den USA erschienen – es war eines der zuvor illegal verbreiteten. Die Importversion haben nun auch die einschlägigen Händler in Deutschland ins Programm genommen. Jean Grae führt auf Jeanius vor, welche Schlagkraft der HipHop heute noch entwickeln kann. Im autobiografischen My Story erzählt sie bildreich von einer Fehlgeburt, ihren Herzproblemen, einem Selbstmordversuch. Auch von einer Abtreibung berichtet sie. Im Interview sagt sie dazu: „Ich wollte, dass man als Hörer dabei ist. Im Raum. Schon bei der Anästhesie.“ – Oh ja, man ist dabei. In anderen Stücken beklagt sie die ermüdenden Sexismen des Genres, den schnöden Materialismus, die wie in Zement gegossenen Rollenklischees – und ist stets eine Geschichtenerzählerin, keine Predigerin oder Einpeitscherin. Die Klänge und Rhythmen des Albums ordnen sich ihrem individualistischen Konzept unter. Jeanius ist Kopfhörermusik mit humanistischer Prosa über die Widersinnigkeiten des Lebens.
Ist Jean Grae nun also ihre Probleme los? Wer das Video zur Single Love Thirst gesehen hat, kennt die Antwort. In Strapsen räkelt sie sich plump auf der Rückbank eines Taxis. Umgehend distanzierte sich Jean Grae davon; die Plattenfirma habe ihr dieses sexistische Video untergeschoben. Und neben Jeanius steht mittlerweile The Evil Jeanius in den Plattenläden, wiederum nicht von Jean Grae autorisiert. Ihre Reaktion darauf ist im ersten Absatz dieses Artikels nachzulesen.
„Jeanius“ von Jean Grae & 9th Wonder ist als CD und Doppel-LP bei Blacksmith erschienen und im Import erhältlich
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