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Warten auf den Kakerlaken-Moment

Tyler, The Creator könnte einer der großen Rapper seiner Generation werden. Sein drittes Album „Wolf“ zeigt den Weg, schöpft aber noch nicht alle Möglichkeiten aus.

© Frazer Harrison/Getty Images
© Frazer Harrison/Getty Images

Ein junger Mann beißt in eine Kakerlake, übergibt sich, reißt sich das Hemd von der Brust und erhängt sich. Mit dieser Szene betrat Tyler, The Creator vor zwei Jahren die Weltbühne. Weiter„Warten auf den Kakerlaken-Moment“

 

16 Zeilen für 800 Dollar

Jean Grae führt auf ihrem dritten Album „Jeanius“ vor, wie kraftvoll HipHop heute noch klingen kann. Dabei hatte sie erst vor Kurzem frustriert das Mikrofon an den Nagel gehängt

Vor ein paar Wochen bot jemand auf der populären amerikanischen Internetseite Craigslist seine Dienste als Texter an: „Offensichtlich wurde schon wieder ein von mir nicht autorisiertes Album veröffentlicht. Wenn jeder Geld mit mir verdient, warum soll ich mich nicht direkt an die Leute wenden, die meine Musik lieben? Ihr habt Beats? Ich rappe 16 Zeilen für 800 Dollar!“ Steckte da jemand in Schwierigkeiten? Ja, das kann man wohl sagen. Die hier werbende Rapperin Jean Grae stolpert nämlich von einer Schwierigkeit in die nächste.

Geboren wurde sie als Tsidi Ibrahim 1976 in Kapstadt, ihre Eltern sind Jazzmusiker. Die Familie floh vor dem südafrikanischen Regime nach New York, dort kam Jean Grae mit der HipHop-Szene in Kontakt. Nach kurzer Mitgliedschaft in einer Band veröffentlichte sie im Jahr 2002 ihr viel versprechendes Soloalbum Attack of The Attacking Things.

Sechs Jahre sind seitdem vergangen. Sechs Jahre, in denen ihre Eloquenz, ihr Humor, ihre Wandlungsfähigkeit und ihre Kompromisslosigkeit unermüdlich gelobt wurden; in denen sie auf zahlreichen Alben anderer Rapper Gastauftritte hatte; in denen sie von ihren Anhängern und selbst von manchem Kritiker als bester MC schlechthin bezeichnet wurde. Allein, sie blieb den meisten eine Unbekannte – wohl auch, weil sie in der ganzen Zeit nur ein einziges reguläres Album veröffentlichte, This Week im Jahr 2004.

An Kreativität mangelte es ihr nicht, viel mehr an Kontrolle über ihr Werk. An einem Tag etwa wurden zwei ihrer Alben gleichzeitig unautorisiert im Internet verbreitet. Zwei weitere Alben brachte ihre Plattenfirma offiziell auf den Markt, allerdings ohne Jean Graes Zustimmung. Zuvor hatte sie ihre Probleme in ihren Stücken reflektiert und Zeilen wie diese getextet: „Not a thug, not a drugseller, not a gunshooter / Not a stripper, sex symbol or anything you’re used to / Marketing nightmare, I don’t fit into categories.“ Doch das ging ihr zu weit, im April 2008 kündigte sie ihren Rückzug aus dem Musikgeschäft an. Ihre Karriere schien beendet zu sein, ehe sie richtig begonnen hatte.

In den vergangenen Monaten hat sie offenbar neue Hoffnung geschöpft. Vor kurzem ist ihr Album Jeanius offiziell in den USA erschienen – es war eines der zuvor illegal verbreiteten. Die Importversion haben nun auch die einschlägigen Händler in Deutschland ins Programm genommen. Jean Grae führt auf Jeanius vor, welche Schlagkraft der HipHop heute noch entwickeln kann. Im autobiografischen My Story erzählt sie bildreich von einer Fehlgeburt, ihren Herzproblemen, einem Selbstmordversuch. Auch von einer Abtreibung berichtet sie. Im Interview sagt sie dazu: „Ich wollte, dass man als Hörer dabei ist. Im Raum. Schon bei der Anästhesie.“ – Oh ja, man ist dabei. In anderen Stücken beklagt sie die ermüdenden Sexismen des Genres, den schnöden Materialismus, die wie in Zement gegossenen Rollenklischees – und ist stets eine Geschichtenerzählerin, keine Predigerin oder Einpeitscherin. Die Klänge und Rhythmen des Albums ordnen sich ihrem individualistischen Konzept unter. Jeanius ist Kopfhörermusik mit humanistischer Prosa über die Widersinnigkeiten des Lebens.

Ist Jean Grae nun also ihre Probleme los? Wer das Video zur Single Love Thirst gesehen hat, kennt die Antwort. In Strapsen räkelt sie sich plump auf der Rückbank eines Taxis. Umgehend distanzierte sich Jean Grae davon; die Plattenfirma habe ihr dieses sexistische Video untergeschoben. Und neben Jeanius steht mittlerweile The Evil Jeanius in den Plattenläden, wiederum nicht von Jean Grae autorisiert. Ihre Reaktion darauf ist im ersten Absatz dieses Artikels nachzulesen.

„Jeanius“ von Jean Grae & 9th Wonder ist als CD und Doppel-LP bei Blacksmith erschienen und im Import erhältlich

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Q-Tip: „The Renaissance“ (Motown/Universal 2008)
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Stereo MCs: „Double Bubble“ (PIAS/Rough Trade 2008)

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Zuckerli und große Kunst

Der Brite Antony Hegarty lieh dem Tanzprojekt Hercules & Love Affair seine androgyne Stimme. Sein neues Mini-Album macht Lust auf die Platte, die im Januar erscheinen soll

Antony Hegartys Stimme steht für sich. Schutzlos wirkt sie, abgetrennt von der Welt. Voller Ausdruck und Gefühl singt er im Grunde nur für sich selbst. Antony Hegarty klingt, als wäre er der letzte Mensch auf Erden.

Dieses Gefühl vermittelte er auf seinem Album I Am A Bird Now, mit dem ihm 2005 weltweit der Durchbruch gelang. Damals kämpfte er gegen Bloc Party, die Kaiser Chiefs und Coldplay um den renommierten englischen Mercury Prize für das beste Album des Jahres – und gewann. Während die Konkurrenz mit den Fans kuschelte, bestand Antony Hegarty auf seiner Einzigartigkeit als Künstler.

In seinen tieftraurigen Stücken besang der in New York lebende Brite seine Metamorphosen, seinen ewigen Wunsch, als Frau aufzuwachen. Er sang vom Begehren, vom Vergeben, von Schuldgefühlen und Angst. Hegarty begleitete sich selbst mit ausdrucksstarkem Klavierspiel, seine zurückhaltende Band The Johnsons steuerte Schlagzeug und Bass bei. Nur hin und wieder brach ein wuchtiger Geigenchor durch die Wolken. Diese androgyne, zittrige Stimme berührte und schmerzte dem Hörer. Die Texte rührten an einen urmenschlichen Kern. Und es gelang Hegarty, komplizierte Gender-Themen der Öffentlichkeit nachvollziehbar zu machen.

Dieser Blick zurück ist nötig, um das neue Minialbum von Antony & The Johnsons, Another World, einzuordnen. Denn in den vergangenen zwei Jahren war Hegarty vor allem in zahlreichen Kollaborationen zu hören, er sang mit Björk und Leonard Cohen und lieh dem Discoprojekt Hercules & Love Affair seine Stimme. Er setzte sich neuen Einflüssen aus. Sind diese auf den fünf Stücken von Another World zu hören?

“I need another world / This one’s nearly gone“, erklingt seine Stimme gleich zu Beginn im Titelstück, untermalt von sanftem Klavier und schräger Flöte. Das Lied klingt reduziert und vertraut. Auch das folgende Shake The Devil ist skizzenhaft – und bricht doch mit den Erwartungen: Nach einer minutenlangen Einleitung spielt ein Saxofon den Blues, ein aufgeräumtes Schlagzeug gibt den Takt an. Und plötzlich klingt Antony Hegarty fast enthusiastisch und kraftvoll. Aus seinen Worten sprechen Tatkraft und – kaum zu glauben – Hoffnung. Gospel und Rhythm’n’Blues erklingen. Doch wer seine Stimme hört, vergisst, dass man Musik bisweilen nach Genres sortiert.

Im Gegensatz zu I Am A Bird Now erhält Hegarty auf Another World eine gleichmäßige Spannung. Es gibt keine furiose Epiphanie, keinen Ausbruch. Manches klingt unfertig, nicht alle Stücke sind überzeugend. Another World klingt also wie genau das Zuckerli, das es sein soll: Es erinnert die Musikwelt an den großen Künstler Hegarty und bereitet sie auf sein drittes Album vor, das Anfang 2009 erscheint.

Und letztlich ist man ja um jeden Ton froh, den Antony Hegarty in die Welt schickt. Vielleicht ist er doch nicht der letzte Mensch auf Erden.

„Another World“ von Antony & The Johnsons ist auf CD und LP bei Rough Trade/Indigo erschienen.

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The Cure: „4:13 Dream“ (Geffen/Universal)
Tindersticks: „I“ (This Way Up 1993)
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Dennis Wilson: „Pacific Ocean Blue“ (Caribou 1977/Sony BMG 2008)
„Monkey – Journey To The West“ (XL Recordings/Beggars Banquet 2008)

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Untergang mit wehenden Fahnen

Die Kings Of Leon galten als die Erben Led Zeppelins, sie spielten rotzigen Rock’n’Roll im frischen Uraltklang. Die Energie scheint verpufft zu sein: Ihr neues Album klingt bartlos und verdächtig nach U2

Bono ist ein gefährlicher Mann: Er vergiftet die Gehirne von Musikern. Das Spätwerk seiner Band U2 bietet eine Schablone, derer sich viele Bands bedienen, wenn es weiter gehen soll. Weiter im Sinne von Stadionrock, weiter im Sinne großer Gesten, weiter im Sinne von Zugänglichkeit. Am Ende steht meist ein Weiter im Sinne oberflächlicher Tiefgründigkeiten und enervierender Allgegenwärtigkeit. Coldplay klingen heute, als wären sie gern U2 und schreiben Lieder, die wirklich jedem gefallen können. Nun probieren’s die Kings Of Leon.

Noch auf ihren ersten beiden Alben Youth And Young Manhood (2003) und Aha Shake Heartbreak (2005) inszenierte sich die Band als die südstaatlichen Strokes, spielten rotzigen Rock’n’Roll im frischen Uraltklang. Die drei Brüder aus Tennessee, dazu ein Cousin, gaben die langbärtigen Rockgötter, die Led Zeppelin des neuen Jahrtausends. Schon auf Because Of The Times deutete sich im vergangenen Jahr eine Neuorientierung an, die mit dem neuen Album Only By The Night an ein Ziel gelangt zu sein scheint.

Die Bärte sind nun ab, frisch geföhnt posieren die Musiker auf den Werbefotos. Schon in der Vergangenheit waren die Texte des Sängers Caleb Followill wenig preisverdächtig, nun sind sie nur noch mit Betäubungsmitteln genießbar. In der Ballade Reverly etwa singt er: „Was für eine Nacht für einen Tanz / Weißt du, ich bin ja eine Tanzmaschine / Packe Feuer in meine Knochen / Und den süßen Geschmack von Kerosin.“ Und in dem Stück 17 geht es natürlich um ein Mädchen, das „erst siebzehn“ ist. Dermaßen zur Pose erstarrte Rockerklischees kann man im Jahr 2008 allenfalls Lemmy von Motörhead abnehmen.

Die Musik ist nicht origineller als diese Texte. Die Kompositionen sind formelhaft, die Strukturen absehbar, es herrscht Einfallslosigkeit. Mochte man Because Of The Times noch als Album des Übergangs akzeptieren – bei aller Kritik musste man doch seine bebende Energie und kraftstrotzende Potenz anerkennen. All das ist nun verpufft. Es ist ein Trauerspiel, diese technisch so versierte Band mit wehenden Fahnen untergehen zu sehen.

Womit wir wieder bei Bono und U2 wären. Denn selbstverständlich wird sich das neue Album der Kings Of Leon verkaufen. Werbefilmer dürsten nach solchen Liedern. Sie werden auf fußballfeldgroßen Bühnen spielen, mit Hubschraubern in die Stadien einfliegen. Und wie es dann mit den Kings Of Leon weitergeht? Nun, wenn sie Bono weiter nacheifern, stehen auf dem Plan: Ironie, Umweltthemen, Fototermine mit Politikern, Pathos und Sonnenbrillen. Ab jetzt ist alles möglich.

„Only By The Night“ von den Kings Of Leon ist als CD und Doppel-LP bei Sony BMG erschienen.

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The Sisters Of Mercy: „First And Last And Always“ (WEA 1985)
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