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Lass mich in deine Welt, Dave!

Über die Jahre (9): Im August widmet sich der Tonträger Platten aus vergangenen Tagen. Heute: 1990 überraschten Depeche Mode mit behutsamem Pluckern und sanften Aquarelltönen. Dabei ging es auch auf „Violator“ nur um Sex

Cover Violator

Boris mochte Depeche Mode, ich U2. Er hielt People Are People für einen großartigen Song, ich With Or Without You. Wir verbrachten viel Zeit damit, uns gegenseitig die Platten unserer Lieblingsgruppen vorzuspielen und sie zu diskutieren. Mir waren Depeche Mode zu künstlich, zu banal, ihn störte der Predigergestus von Bono, seine Lieder waren ihm zu aufgesetzt. Ich konnte nicht anders, als Depeche Mode zu hassen. Wir schenkten uns gegenseitig T-Shirts und Poster, Platten und Aufkleber der jeweils ungeliebten Gruppe, um uns zu ärgern. 1990 überreichte ich ihm die grausame U2-Single When Love Comes To Town zum fünfzehnten Geburtstag. Im Gegenzug drückte er mir einige Tage darauf eine Kassette mit einer selbst gemalten Rose in die Hand, Violator von Depeche Mode.

Ich hörte das Album zum ersten Mal auf dem langen Weg in den Südfrankreich-Urlaub. Vorne meine Eltern, auf der Rückbank ich mit meinem Walkman. Ich hörte sie immer und immer wieder, die neun Stücke nahmen mich gefangen. Das anstrengend Epische war verschwunden, der Hall, das Glatte, Fassadenhafte. Violator kam mir rau und düster vor, es traf meine Stimmung. Ich hatte das Gefühl, mitgenommen zu werden. „Let me show you the world in my eyes“ singt Dave Gahan, und ich hatte das Gefühl, wir könnten in der selben Welt leben. Einer Welt voller Verletzlichkeit und Introvertiertheit.

Damals war Techno groß, Violator klang wie das Gegenteil. Die Synthesizer pluckerten zart und behutsam vor einem in sanften Aquarelltönen ausgemalten Hintergrund. Das Schlagzeug klang – einmal abgesehen von dem organischen Stück Personal Jesus – nur angehaucht. Dazwischen tummelten sich unzählige kaum definierbare Geräuschfragmente und Klangskizzen, der Gesang ist zurückhaltend und getragen.

Violator war mein Warum geht es mir so dreckig? Es definierte mein Verhältnis zu meiner Umwelt, legitimierte meine Ängste und Hoffnungen. Die Zeilen wurden zu Schlagworten, Phrasen, in die ich mich zurückziehen konnte. „I’m waiting for the night to fall, when everything is bearable“, ich konnte das so sehr nachvollziehen. All meinen pubertären Weltschmerz fand ich wieder, „There’s a pain, a famine in your heart, an aching to be free“. „Can’t you understand?“ in Blue Dress wurde eine Art Schlachtruf für mich gegen diese Welt, denn genau das war ja das Problem.

Enjoy The Silence wurde ein Hit, mir bedeuteten andere Stücke mehr. Waiting For The Night und Halo, Sweetest Perfection und Blue Dress. Die vielen sexuellen Konnotationen der Stücke sind mir erst später richtig bewusst geworden, heute staune ich darüber, denn viel offensichtlicher kann man nicht immer und immer wieder über das Gleiche singen. Mein Englisch war offenbar glücklicherweise so schlecht, dass es mir die Begeisterung für Violator nicht nehmen konnte. Denn das war ja nun gar nicht mein Thema, ich hatte genug mit mir selbst zu tun. Beinahe zwei Jahre lang blieb Violator meine Lieblingsplatte, auch noch, als Boris mir kurze Zeit darauf von Achtung Baby von U2 vorschwärmte. Ich fand das künstlich und banal.

Bis heute ist Violator das einzige wirklich großartige Album von Depeche Mode. Es klingt wie ein Bericht aus dem tiefen Loch, in das sie nach der Music For The Masses-Tour vom Gipfel der Popularität gefallen waren. Danach kämpften Depeche Mode weiter, vornehmlich gegen die Drogen, die Ideenlosigkeit und die Erwartungen. In der fünfundzwanzigjährigen Bandgeschichte ist Violator leider ein Flackern geblieben. Ein sehr helles immerhin.

„Violator“ von Depeche Mode ist erhältlich bei Mute, kürzlich wurde es gemeinsam mit dem ersten Album „Speak and Spell“ und „Music For The Masses“ in hervorragendem Klang und mit Bonusstücken wiederveröffenlicht

Hören Sie einen Ausschnitt aus „Waiting For The Night“

Sehen Sie hier Bilder vom Konzert der Band am 15.1.2006 in Hamburg

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(4) The Mothers of Invention: „Absolutely Free“ (1967)
(3) Soweto Kinch: „Conversations With The Unseen“ (2003)
(2) Syd Barrett: „The Madcap Laughs“ (1970)
(1) Fehlfarben: „Monarchie und Alltag“ (1980)

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Keine Lust auf den Schwitzboden

Das Kammerflimmer Kollektief ließ sein Album „Absencen“ von neun Remixern durch den Wolf drehen. Herausgekommen ist ein überraschend ideenreicher Mix aus Jazz und Elektronik

Cover Kammerflimmer Kollektief

Mit Remixen ist das so eine Sache. Meist sollen sie in den Clubs neue Käuferschichten erschließen. Oder als Bonbon für Fans den Verkauf einer Single anregen. Die Ergebnisse sind meist allenfalls leidlich originell. Immer wieder aber gibt es Ausnahmen, Neubearbeitungen von Stücken, die diesen etwas neues abgewinnen. Die mehr sind, als die Abkürzung von der Hitparade in den Club.

Neun Remixer nahmen nun das Album Absencen des Kammerflimmer Kollektiefs auseinander und setzten es neu zusammen. Und hier gehen die Stücke einen weiten Weg. Absencen erschien 2005 und war eine vielgestaltige, schimmernde Mischung aus sphärischer Elektronik und hektisch improvisiertem Jazz. Ganz wunderbar, so poetisch und vibrierend. Eine lebendige Platte, die sich mit jedem Hören weiter öffnete, immer ein kleines bisschen mehr von sich preisgab, aber bis heute nicht gefällig wurde. „Ein stilles Implodieren und kreischendes Hauchen, ein nachhallender Aufschrei des Free Jazz belästigen den Wohnzimmerklang, ein Versuch, die Schönheit zum Leuchten zu bringen, in dem sie zart zerstört wird!“ schrieb Konrad Heidkamp in der ZEIT über Absencen.

Die vom Kammerflimmer Kollektief engagierten Remixer stammen allesamt aus dem Elektronikbereich. Dennoch versuchen die meisten gar nicht erst, die Auftraggeber in den Tanzclub auszuführen. Harmonium und Altsaxophon, Vibraphon und Klarinette treten zwar in den Hintergrund, sämtliche Remixer holen die Stücke weiter in die Elektronik. Doch die Überraschung gelingt: es schadet nicht, dass die ursprüngliche Ausgeglichenheit zwischen Akustik und Elektronik aus dem Gleichgewicht kommt und Grundierung und Figuren plötzlich trennbar erscheinen.

David Last macht aus dem im Original kaum anderthalb Minuten langen Matt eine düster schwebende Dub-Nummer. Das ruhige, optimistische Nach dem Regen wird bei Aoki Takamasa zu einem hektischen Geplatter, einem sommerlichen Wolkenbruch. Am stärksten ist die Platte dort, wo ganz auf einen durchgängigen, dominanten Rhythmus verzichtet wird. Unter Jan Jelineks Fingern wächst Unstet zu einem bebenden, drängenden Monstrum. Hans Appelqvist macht aus Shibboleth mit Hilfe einer akustischen Gitarre und einer lustigen Tröte eine originelle kleine Popnummer. Und bei Nachtwache von Lump200 treten plötzlich Instrumente und Klänge in den Vordergrund, die man im Original einfach überhört hat. Knarzige, kaputte Schlagzeugklänge und ein ganz simples Keyboard-Muster brechen die ursprüngliche Struktur vollkommen auf, lassen neue Verbindungen entstehen. Das Stück wabert um ein ganz neues Zentrum.

Zwei Remixer zerren ein bisschen zu ideenlos am Original. Secondos Version von Unstet ist stumpf geraten, von der ursprünglichen Spannung bleibt nicht viel erhalten. Sutekh mischt mehrere Stücke erst originell zusammen zu seinem Absencen, macht dann aber den Fehler, das ganze zu einer langweiligen Tanznummer aufzumotzen.

Gerade im Kontrast wird klar: Die Stücke brauchen keinen neuen Beat, sie wollen gar nicht eingefangen werden. Und in den Club wollen sie schon gar nicht.

„Remixed“ und „Absencen“ vom Kammerflimmer Kollektief sind erschienen bei Staubgold

Hören Sie hier „Nachtwache“ von Lump200 und zum Vergleich das Original „Nachtwache, 15. September“ vom Kammerflimmer Kollektief

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Dädädädä-Däng, Dädädädä-Däng!

Was kommt denn da aus München? Musik wie eine Wand von der Band Couch. Kein Gesang, dabei großmäulig wie nur was. „Figur 5“ ist massiv, wuchtig, laut und, ja, fein

Cover Couch

Ja, hier geht es gleich richtig los. Kein Auftakt, kein Luftholen, kein Zögern. Ganz plötzlich ist da diese Wand aus Klang, aus Gitarre, Bass und Schlagzeug. Dädädädä-Däng, Dädädädä-Däng, die Boxen scheppern übersteuert. Eine zweite Gitarre malt verschleppte Muster in den Sand, bremst das Stück, lässt es wieder frei, übernimmt schließlich erneut die Führung. Gegen alles bereit heißt das Lied, schon der Titel scheint zu sagen, „Freunde, wir machen hier unser Ding. Folgt uns, oder lasst uns in Ruhe!“

Man sollte ihnen besser folgen. Gegen alles bereit eröffnet Figur 5, die neue Platte der Münchner Band Couch. Die anschließenden acht Stücke sind nicht weniger massiv. Dreimal steht der Name der Band vorne auf der Plattenhülle, das passt. Figur 5 stellt sich einem monumental in den Weg, reißt den Gehörgang auf und bricht sich den Weg in den Schädel. Auf dem lauten, stabilen Fundament aus Rhythmus liegt jeweils eine einschmeichelnde Melodie, meistens gepielt von der Gitarre, seltener vom Keyboard.

Selbstbewusst zitieren Couch aus allen Dekaden des Rock, des Metal, des Jazz. Die Hi-Hat scheppert fast durchgängig, der Bass grummelt ganz tief, die Gitarren kreischen. Aber Couch transformieren die großmäuligen Melodien, die angeberischen Gitarrenmuster und die komplexen Arrangements in ihren eigenen Kosmos, verzieren sie mit feinsinnigen Keyboard-Stickereien und Originalität. Und vor allem: Sie bleiben instrumental. Die Stimme fehlt an keiner Stelle, weder die Schreie eines Rocksängers noch ein zartes Indierockfrauenstimmchen würden überhaupt zu ihrer Musik passen. Die ist sich selbst genug.

Das Schlagzeug wurde an einigen Stellen durch digitales Dengeldongel ersetzt. Warum bloß? Schlagzeuger Thomas Geltinger ist einer der pfiffigsten und präzisesten seines Fachs, er hätte solche Spielereien nicht nötig. Bei Zwei Streifen im Blau fallen ein dumpfes Elektroschlagzeug mit künstlichem Hall und digitales Klatschen heraus. Das Geknarze im balladesken Stück Blinde Zeichen klingt regelrecht billig. Das ist ein Einwand, aber nur ein kleiner.

Der Rest ist mitreißend. Bereits die Titel der Stücke sind außergewöhnlich, rufen Assoziationen hervor. Bei Zwei Streifen im Blau erscheint ein Düsenjägerpärchen am Frühlingshimmel, Einhängen und positiver klingt nach einer erfolgreichen Fernbeziehung, Alles sagt ja weckt das Gefühl des ersten Sonnentages nach wochenlangem Regen.

Im Jahre 2001 war ihr letztes Album Profane erschienen, gelangweilt hat sich die Band seitdem nicht. Bassist Michael Heilrath spielte mit dem Tied & Tickled Trio, Keyboarderin Stefanie Böhm mit MS John Soda. Die fünf Jahre Bastelei haben sich gelohnt. Figur 5 ist ein präzise eingespieltes Album voller Ideen.

„Figur 5“ von Couch ist als LP und CD erschienen bei Morr Music.

Hören Sie hier „Gegen alles bereit“

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Junge Bräute und ehrliche Arbeit

Midlake singen bewegende Lieder vom einfachen Leben. Ihr Album „The Trials Of Van Occupanther“ erinnert an den Folk-Rock der späten siebziger Jahre

Cover Midlake

Was ist das denn? Schon wieder ein neues Album von Fleetwood Mac? Oder sind es Crosby, Stills, Nash & Young? Die Siebziger klingen durch: Ein gehaltvolles Piano und eine schmutzige Rockgitarre geben den Rhythmus vor, dazu kommt melodiöser mehrstimmiger Gesang über Bergsteiger und Steinmetze, Zedernholz und undichte Dächer. Die Stimme allerdings klingt weder nach Neil Young oder Steven Stills noch nach Fleetwoods Stevie Nicks.

Roscoe heißt das berauschende Stück und eröffnet das zweite Album der Band Midlake, The Trials Of Van Occupanther. Ein Album, das in seiner Melodiösität und seiner Direktheit, seiner Instrumentierung und Stimmung an vielen Stellen Erinnerungen weckt. Ein junger Mann namens Tim Smith hat das Album mit seiner Band in seinem Haus in Denton, Texas aufgenommen.

Dem flotten Roscoe folgt Bandits, eine halbakustische Ballade. Vorgetragen ohne Schmalz, verfeinert von einer dezente Flöte, zeigt es die Qualität von Midlake auf: Die Lieder sind getragen, aber nicht pathetisch; sie sind gefühlvoll und beschwingt, aber nicht banal.

Spätestens beim fünften Stück, Young Bride, ist klar, dass die späten Siebziger und der so genannte Adult Oriented Rock ganz und gar nicht die einzigen Bezugspunkte im musikalischen Universum Midlakes sind. Mit jedem Hören fallen mehr schrammelige Brit-Pop-Gitarren, psychedelisches Synthesizer-Gedaddel und andere Störgeräusche auf. Young Bride mit seinem stampfenden Rhythmus könnte mit etwas Glück der Schlüssel zum Erfolg von Midlake werden. Vorausgesetzt, die Indie-Diskos und Radiosender springen auf diesen Ohrwurm an.

Eine Stärke der Band sind die poetischen Texte. In Bandits stellt Smith die Frage, „Did you ever want to be overrun by bandits, to hand over all of your things and start over new“. Und erzählt dann, wie sie ausgeraubt wurden, als sie sich auf der Jagd befanden, wie sie einen Hasen und einen Ochsen fingen, und dass der Raub für sie gar kein Verlust gewesen sei, weil sie mit den beiden Tieren einfach ganz von vorne anfangen konnten. Nie steuern die Texte auf dramatische Enden oder Pointen zu, sie beschreiben das einfache, meist ländliche Leben. Sie erzählen von Wünschen und Träumen – „Bring me a day full of honest work, and a roof that never leaks, I’ll be satisfied“, heißt es in Head Home. In Young Bride ist die eben noch junge Braut plötzlich eine alte Frau, in It Covers The Hillsides geht es um den Kampf gegen den Hunger, wenn der erste Schnee fällt. We Gathered In Spring zieht ein ernüchterndes Fazit unter die Ausweglosigkeit des Landlebens, „I’m tired of being here on the hill, where I’m sure to find my last meal“.

Man könnte das alles als feine Gesellschaftskritik deuten, als Darstellung der Welt jener Menschen, denen Alltag heißt, ums Überleben zu kämpfen. Vielleicht aber wäre das eine Überinterpretation eines Werkes, das ohne Zynismus von der Einfachheit menschlicher Existenz erzählt.

„The Trials Of Van Occupanther“ von Midlake ist als LP und CD erschienen bei Bella Union.

Hören Sie hier „Young Bride“

Bei myspace kann man sich außerdem das Stück „Roscoe“ anhören

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Tagträume in New York City

Ist das jetzt schon das Alterswerk? Ein Vierteljahrhundert nach ihrer Gründung klingen Sonic Youth auf „Rather Ripped“ überraschend melodiös und gelassen, stellenweise gar sommerlich

SY

Exakt 25 Jahre ist es her, da standen Sonic Youth erstmals unter diesem Namen auf einer Festival-Bühne in der Nähe von New York. Die Prinzipien ihres Musizierens hatten sie schon damals klar formuliert: vom Mainstream sollte sie sich abheben und von allen musikalischen Fesseln befreit sein. Außerdem sollte niemand in der Band die Führungsposition einnehmen. Ihre Musik bestand aus Rückkopplungen, Disharmonien, Geschrei und war vor allem laut.

Von der Überzeugung, dass die Befreiung vom Mainstream nur über kreischende Instrumente zu erreichen sei, haben sie längst Abstand genommen, glücklicherweise. Immer ausgetüftelter wurden ihre Platten, immer überwältigender die Melodien, die sie aus Disharmonien schufen. Es ist ihnen gelungen, dabei an ihren Prinzipien festzuhalten. So teilen sich Bassistin Kim Gordon und Gitarrist Thurston Moore noch immer die Gesangsteile, den Platz im Scheinwerferlicht.

Nun also Rather Ripped, das neue, mindestens 25. Album der amerikanischen Band. Ein bisschen ist es wie immer, alles klingt vertraut. Und großartig. Und dennoch wirkt es leichter als die letzten Aufnahmen, ja fast luftig. Klangtüftler Jim O’Rourke, der seit NYC Flowers & Ghosts (2000) Bandmitglied ist, spielt diesmal nicht mit. Es heißt, er wolle mit seinem Studium vorankommen. Vielleicht deshalb ist das Album sehr direkt geworden, so erstaunlich ballastfrei. Statt dicke Klangschichten aufzutragen und auf möglichst vielen Umwegen zum Ziel zu kommen, besinnen sich Sonic Youth auf ihre Stärken: das spannungsreiche Wechselspiel zwischen zarter Melodie und lärmendem Experimentieren, zwischen schwer konsumierbarem Gitarrenkrach und sachten Gesangslinien. Das alles präsentieren sie sehr gelassen und voller Spielfreude.

Mit Reena und Incinerate eröffnen zwei klassische Sonic Youth-Rocksongs das Album, beim ersten singt Kim Gordon sogar richtig. Die seltenen lärmigen Ausbrüche stören die sommerliche Stimmung ganz und gar nicht. Do You Believe In Rapture?, Lights Out und Or sind die einzigen Lieder, die in ihrer ruhigen, introvertierten Stimmung an die letzten Alben erinnern, nur das auf der europäischen Version des Albums exklusive Helen Lundeberg ist richtig rumpelig, klingt nach den frühen Tagen. Alle anderen Stücke könnten Überreste aus Sonic Youths erfolgreichster Zeit Anfang der 90er sein, als sie mit Nirvana im Vorprogramm um die Welt tourten. Damals erschienen Daydream Nation (1988) und Goo (1990), bis heute ihre melodiösesten und populärsten Alben. An diese scheinen sie nun anzuknüpfen.

Doch keine Angst: Weder klingen sie wie eine Band, die versucht, die guten alten Tage wieder aufleben zu lassen, noch sind sie nun brav, langweilig oder angepasst. Hinter jeder Ecke lugt auch weiterhin ein kleines Experiment hervor, jedem zurückhaltenden Takt kann eine Eskapade folgen. Rather Ripped klingt für eine ganze Zeit wie das beste Sonic Youth-Album seit, na ja, was weiß ich … langer Zeit eben.

„Rather Ripped“ von Sonic Youth ist als LP und CD erschienen bei Geffen/Universal

Hören Sie hier „Incinerate“

Auf der Website der Band kann man alle Songs zur Probe hören, bei myspace finden sich vier vollständige Lieder des Albums

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Heimliche Lieblingslieder

„Fundamental“ hat beinahe alles, was ein gutes Pet Shop Boys-Album ausmacht: dramatische Mini-Opern, süßliche Schmonzetten, eingängige Melodien und gute Texte. Nur die erste Single ist eine Enttäuschung

Cover Fundamental

Das können die besser, ist mein erster Gedanke, als ich die Vorabsingle zum neuen Album der Pet Shop Boys im Radio höre. I’m With Stupid ist Malen nach Zahlen, berechnet, langweilig, vorhersehbar. Nicht einmal der Refrain ist sonderlich aufregend oder originell. Dabei hatten selbst ihre lauen Alben immer zumindest brillante erste Singles.

Einige Wochen nach der Single erscheint nun Fundamental, das neunte Album der beiden Popper aus Großbritannien, die man immer noch „Jungs“ nennen möchte. Es klingt überraschend gut, frisch. Und ein bisschen nach früher. Das repetitive, beinahe düstere Psychological eröffnet das Album, bleibt noch ein bisschen unentschieden, distanziert. Aber schon der zweite Song The Sodom And Gomorrah Show ist ein Stück klassischer Pet Shop Boys, „Sun, sex, sin, divine intervention, death and destruction“. Vollkommen überdrehte Keyboard-Geigen, einladende Harmonien und ein stampfender Rhythmus machen es zu einer dramatischen Mini-Oper. Dazu gibt es flatterndes Dengeldongel im Hintergrund und einen süßen Refrain, auf den selbst Abba neidisch gewesen wären: „It’s got everything you need for your complete entertainment“. In der Tat. Und so geht es weiter, große Melodien, opernhafte Chöre, originelle elektronische Klänge, beinahe jeder Song bleibt bereits nach dem ersten Hören tief im Ohr stecken.

Zwischen die Tanznummern gestreut finden sich immer wieder die üblichen Popschmonzetten. Die beste davon ist I Made My Excuses And Left. Sie offenbart neben den musikalischen Qualitäten der Band auch das texterische Können von Neil Tennant, seinen feinen, beinahe tragischen Humor. Er überrascht seine Freundin oder seinen Freund – das lässt er eigentlich immer unentscheidbar – mit einem Liebhaber, verweigert der Situation aber die Dramatik, entschuldigt sich stattdessen und geht, um weitere Peinlichkeiten zu vermeiden. Casanova In Hell erzählt die Geschichte eines gealterten Casanova, der nur noch von Schändung träumt und den Mythos seiner sexuellen Begabungen nur noch aufschreiben kann. Und Luna Park ist, heißt es, ein Bild des aktuellen Amerika. Nichts ist in Ordnung, alles ist düster, im Vergnügungspark aber werden besinnungslos „Brot und Spiele“ zelebriert. Alleine Numb ist musikalisch ein bisschen billig geraten, zu triefend.

Die frühen Neunziger klingen überall durch auf Fundamental. Besonders die flotten Songs Minimal und Twentieth Century werden von hektischen Keyboards und stumpfen Rhythmen vorangetrieben. Das als Rückbesinnung zu begreifen, ist wohl etwas sehr einfach, schließlich klangen die Pet Shop Boys Anfang der Neunziger ganz anders, machten gerade eine eher ruhige Phase durch und zogen sich nach sich überschlagenden Erfolgen etwas zurück.

Überhaupt, über die Pet Shop Boys wird viel Blödsinn geschrieben. Integral sei ein „wuchtiger, faschistoider und zugleich einschmeichelnder Stampfer“, ist zu lesen. Andernorts wird behauptet, Fundamental sei „ein Polit-Album“ – nachdem Release 2002 ihr Gitarrenalbum gewesen sein. Dass es in I’m With Stupid um die Männerfreundschaft zwischen Tony Blair und George W. Bush geht, steht im Presseinfo und wird folgerichtig allerorten wiedergekäut. Und in der Tat, Twentieth Century wirft einen pessimistischen Blick auf die Errungenschaften des vergangenen Jahrhunderts, Indefinite Leave To Remain kommentiert die inhumane europäische Migrations- und Flüchtlingspolitik, Integral zeichnet ein düsteres Bild der britischen Überwachungsgesellschaft, „we’re moving to a situation, where your lives are simply information“. Aber eine politische Band waren die Pet Shop Boys schon seit Please vor 20 Jahren. All ihre Platten sind reich an Kommentaren zum Geschehen in Britannien, wenn auch meist feinsinnig, zurückhaltend formuliert.

Die letzte Platte der Pet Shop Boys – Release – verstaubte ungerechterweise in den Regalen, weil sie zu introvertiert und ruhig war. Das Schicksal dürfte Fundamental erspart bleiben, mit ihm geht die Band wieder direkt auf die Hörer zu. Beinahe jedes Stück hat das Zeug zum heimlichen Lieblingslied. Mehr kann eine so populäre Band kaum erreichen.

„Fundamental“ von den Pet Shop Boys ist als CD und Doppel-CD (inkl. acht Remixe) erschienen bei EMI/Capitol.

Hören Sie hier „Integral“

 

Aus der Tiefe des Raumes

Die Hamburger Band Halma reist durch Landschaften aus Klang. Und schreibt dort erhabene, ruhige Lieder, die in keine Schublade passen

Halma

Ein sphärisches Rauschen, nur ein paar Sekunden, beinahe unhörbar. Dann setzt ein tiefer, vibrierender Basslauf ein, ganz langsam, Ton für Ton, druckvoll dennoch und bestimmt. Schließlich ein einfaches Klaviermotiv, nur ein paar Tasten, wieder und wieder. Oder ist das ein Glockenspiel? Nach und nach treten weiche Töne einer akustischen und sägende Laute einer elektrischen Gitarre hinzu, außerdem ein paar sanfte Schlagzeugstreicheleien. Bass Strait eröffnet Back To Pascal, das dritte Album der Band Halma. Ein ruhiges Album ohne einen einzigen dramatisierenden Tempowechsel. Wie soll man das nennen? Vielleicht Zeitlupenmusik?

Es scheint, als versetze die Band ihre zahlreichen Instrumente in langsame Schwingungen, um zu horchen, wie sich der Klang breit macht, kurz den Raum einnimmt und schließlich verschwindet. Weite Landschaften aus Tönen entstehen so, verklingen und werden wieder aufgebaut. Das Meiste bleibt schemenhaft, wie im Nebel. Mancher Anschlag der Bass-Saite und des Schlagzeugfells ist so zart, das man ihn sich auch eingebildet haben könnte. Also Traummusik?

Eile jedenfalls haben Halma keine. Ihre Musik kriecht, schleicht, räkelt und windet sich. Wie die Wolken an einem Herbstnachmittag auf dem flachen Schleswig-Holsteinischen Land türmen und ballen sich die sieben Stücke in den Himmel, stehen dort wie Monumente aus Licht und Schatten, beinahe unbewegt. Wie in den Bildern Emil Noldes. Ölgemäldemusik vielleicht?

Vielleicht. Der Musik nur einen Namen zu geben, ist schwierig. Zeitlos sei sie, sagen manche, für reduziert halten sie andere. Manche nennen das Postrock. Alles richtig, alles genauso falsch. Halma setzen ihre Musik zwischen die Stühle, die Genregrenzen. Jazz klingt in den Improvisationen durch. Schneller gespielt wäre manches irgendwie tanzbar oder sogar rockig. Gleichzeitig ist Back To Pascal melodiös und präzise wie eine Popplatte. Und das Prinzip, mit der Verbindung der Genres zu experimentieren, ist in der Tat Postrock-Bands wie Tortoise abgeschaut. Minutenlang oft wiederholen sich die Motive und Läufe. Immer neu und unberechenbar werden sie ineinander verschachtelt, um neue Einflüsse und (elektronische) Spielereien erweitert. So regt jedes Stück eine Vielzahl von Bildern an, löst kleine Filme im Kopf aus. Das Video zu dem Song Beaufort spielt dann auch ganz deutlich auf F. W. Murnaus Stummfilm Nosferatu an. Nennen wir es also Kopfkinomusik?

Back To Pascal ist eine Instrumentalplatte. Einzig Land’s End hat einen Text: „Let Me Travel This Land From The Mountain To The Sea, For That’s The Life I Believe He Meant For Me“ singen sie zweistimmig, Hank Williams finale Worte aus der Country-Ballade Ramblin‘ Man. „And When I’m Gone At My Grave You Stand, Just Say God’s Called Home Your Ramblin‘ Man“. Das Reisen funktioniert als ein Leitmotiv fast aller Songs. Titel wie Bass Strait (die Meeresstraße zwischen Australien und Tasmanien) und Land’s End, aber auch Hektopascal und Beaufort gemahnen an eine Schiffsreise. Hier und da erahnt man das Knarren einer morschen Planke, das Fauchen der sich am Bug brechenden Gischt. Klingt so Fernweh? Ist das Reisemusik?

Probieren wir es einfach ohne Namen: Mit Back To Pascal haben Halma ein beeindruckendes Album voller Gelassenheit und Schönheit erschaffen, berstend vor Ideenreichtum und vor Bildern. Ein Leichtes, sich davon mitreißen zu lassen.

„Back To Pascal“ von Halma ist als CD und LP erschienen beim Hamburger Label Sunday Service.

Hören Sie hier „Land’s End“

 

Wenn eine eine Reise tut

Die Berlinerin Barbara Morgenstern flog mit Goethe um die Welt. Auf „The Grass Is Always Greener“ lässt sie das Erlebte nachklingen

The Grass Is Always Greener

„Wenn einer eine Reise tut, so kann er was erzählen“, heißt es in Matthias Claudius‘ Urians Reise um die Welt. Barbara Morgenstern tat eine Reise. Gemeinsam mit dem Berliner Schmachtmusiker Maximilian Hecker umrundete sie im Auftrag des Goethe-Instituts den Globus. Und erzählt nun auf The Grass Is Always Greener von der Reise und dem Reisen.

Der Albumtitel spielt an auf eine dem Fernweh innewohnende Paradoxie. „The Grass Is Always Greener On The Other Side“, lautet das Sprichwort vollständig: Am schönsten ist es immer dort, wo man gerade nicht ist. Bereits im Titelsong versucht sich Barbara Morgenstern an einer Antwort, die gleichermaßen paradox ist: „Ich seh ein und gesteh, the grass is not greener“ heißt es da. Und, später, im Stück Polar: „Heimweh und Überdruss, wie der Stein und der Fluss, reiben sich zu Sand entzwei.“ Sie schlägt einen Bogen über alle Kontinente, singt von Briefen und den Träumen Hollywoods, dem Glück und der Vergänglichkeit und fragt sich, weshalb blonde Frauen und McDonalds weltweit so hoch im Kurs stehen. Das klingt naiv, aber gar nicht banal.

Die Orte ihrer Reise sind austauschbar, sie sind vor allem Anlass zur Reflexion über das Unterwegssein, das Sein überhaupt. So gelingt ihr das Kunststück, als eine deutsche Kulturbotschafterin um die Welt zu reisen, diese Welt aber nicht in den üblichen Begriffen der Kultur zu fassen. Es geht ihr nicht darum, herauszufinden, wie die Menschen in Amerika, Asien und Afrika sind, sie fragt sich alleine, was das Reisen, das Sein in der Fremde mit ihr anstellt. „Was man sieht, was man spürt, das was mich tief berührt, geht weit über mich hinaus, und die Antwort bleibt noch aus.“

So erscheint das titelgebende Sprichwort am Ende ganz absichtlich verkürzt. Das Gras ist grüner weder hier noch da, sondern überall. Schön ist’s eben auf der ganzen Welt. Bei Matthias Claudius heißt es schließlich „Und fand es überall wie hier, fand überall ’n Sparren, die Menschen grade so wie wir, und eben solche Narren.“ Barbara Morgenstern singt „Und der Wind weht überall gleich, weltweit löst die Nacht zum Schluss den Tag ab.“ So einfach ist das.

Es ist nicht Zynismus, der sie leitet. Eher schon Euphorie. Nicht zuletzt die Musik auf dem neuen Album beweist das, sie ist vielfältiger und ideenreicher als je zuvor. Feinsinnig und spielerisch setzt sie ihre Instrumente ein. Elektronische Klänge und Klaviertöne umgarnen ihre Stimme. Ab und an streut sie hypnotisierende Gitarrenmuster ein und das Schlagzeug ersetzt den Drumcomputer.

The Grass Is Always Greener ist eine Platte, die mit jedem Hören ergreifender wird. Eine Platte für den Kopf, den Bauch, die Ohren und die Beine. Und die aufs Reisen genauso Lust macht wie auf das Zuhausebleiben.

„The Grass Is Always Greener“ von Barbara Morgenstern ist auf LP und CD erschienen bei Monika und erhältlich unter anderem bei Hausmusik. Barbara Morgenstern live zu sehen ist ein Erlebnis, die Termine ihrer aktuellen Tour finden sich auf ihrer Website.

Hören Sie hier Alles was lebt bewegt sich