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Der Bildungs-Bumerang

Der aktuelle Bildungsstreik in Deutschland hat sein erstes Etappenziel erreicht: Es ist eine breite öffentliche Debatte entstanden, die Sorgen und Fragen der Schüler und Lehrer, Studenten und Dozenten, Erzieher und Eltern sind in diesen Tagen überall präsent. Das liegt nicht zuletzt am guten Timing der Aktionen: Nach den Protesten der Erzieher stimmen nun Schüler und Studenten den selben Ton an und die Bildungsnotstände an Kitas, Kindergärten, Schulen und Hochschulen sind so allgegenwärtig. Zudem befinden wir uns im „Superwahljahr“, wo die Politik auf gesellschaftliche Befindlichkeiten besonders sensibel reagiert.

Für die CDU könnte aus dieser Situation ein Problem entstehen. Noch zu Beginn der Legislaturperiode hat sie Weichen gestellt und das Thema Bildungspolitik erfolgreich besetzt: Angela Merkel rief die „Bildungsrepublik Deutschland“ aus, mit Annette Schavan übernahm eine erfahrende Bildungspolitikerin das Bundesministerium für Bildung und Forschung und mit ihrer familienpolitischen Frontfrau Ursula von der Leyen konnte die Union auch verwandte Themen wie etwa die frühkindliche Erziehung für sich beanspruchen. Zugleich sorgte die Föderalismusreform für eine deutliche Verschiebung der bildungspolitischen Kompetenzen von der Bundes- auf die Länderebene. Manche Parteistrategen mögen gehofft haben, die Bildungspolitik – traditionell ein Kernthema aller linken Parteien – würde daher im Bundestagswahlkampf 2009 keine herausragende Rolle spielen. Denn nicht zuletzt die Hessenwahl 2008, in der die SPD um Andrea Ypsilanti die Regierung Koch massiv unter Druck setzen konnte, hat gezeigt, welche Sprengkraft das Thema haben kann.

Nun allerdings ist die Bildungspolitik zurück auf der bundespolitischen Agenda. Eine nicht repräsentative Online-Umfrage von tagesschau.de deutet an, dass Schüler und Studenten auf eine große gesellschaftliche Akzeptanz für den Bildungsstreik bauen können – 17.865 Unterstützer, das ist auch jenseits möglicher Zerreffekte eine beachtliche Zahl. Annette Schavan sieht die Proteste jedoch kritisch, Angela Merkel äußert sich vorerst nicht. Auf diese Weise könnte ein Bumerang-Effekt entstehen: Die CDU wird mit einem Thema konfrontiert, dass sie aus dem Wahlkampf heraushalten wollte. Obwohl sie in den Personen von Schavan und Merkel das Heft des Handelns in der Hand hält, findet sie (noch) keine passende Antwort. Den linken Parteien könnte dieser Umstand ein zugkräftiges Wahlkampfthema bescheren.

Abseits solcher wahltaktischer Überlegungen sei am achtzigsten Geburtstag von Jürgen Habermas, der seine Prominenz nicht zuletzt seiner Rolle in der Studentenbewegung verdankt, die Bemerkung erlaubt: Gesellschaftliche Probleme von solch großer Breitenwirkung sind nur kommunikativ, in einem möglichst „herrschaftsfreien Diskurs“ zu lösen. Eine Behandlung von oben herab wird den Protestierenden hingegen nicht gerecht und kann sie gewiss nicht politisch überzeugen.

 

Grüne Koalitionsspiele

Mögliche Koalitionen nach der Bundestagswahl beschäftigen die Grünen schon seit einiger Zeit. Wir erinnern uns: Vor der Delegiertenkonferenz im Mai scheiterte die Parteiführung mit dem Versuch, eine Aussage zugunsten einer so genannten Ampelkoalition ins Wahlprogramm aufzunehmen, am Widerstand der Parteibasis. Der daraufhin verabschiedete Wahlaufruf enthält denn auch kein Plädoyer für eine Ampelkoalition. Stattdessen wird eine so genannte Jamaikakoalition abgelehnt, und der Aufruf propagiert die Verhinderung einer schwarz-gelben Koalition als zentrales Ziel: „Es braucht starke Grüne, um schwarz-gelb zu verhindern.“ Nun, offenbar auch unter dem Eindruck sozialdemokratischer Wahl- und Umfrageergebnisse, bringt die Führung der Grünen eine schwarz-grüne Koalition ins Spiel – und bietet damit eine neue, für manchen Beobachter konsequente, für andere wohl eher originelle Interpretation ihres koalitionspolitischen Credos.

Doch wie denken darüber Anhänger und (potentielle) Wähler der Grünen? Löst diese Koalition Begeisterung in ihren Reihen aus? Werden sie für eine solche Koalition engagiert Wahlkampf führen? Ergebnisse von Onlineumfragen, die methodenbedingt besonders vorsichtig zu interpretieren sind, zeigen, dass je rund ein Drittel der Anhänger und Wähler der Grünen eine solche Koalition für (eher) wünschenswert hält. Die Hälfte beider Gruppen lehnt ein solches Bündnis hingegen mehr oder minder deutlich ab. Damit schneidet die schwarz-grüne Koalition etwas besser ab als ein Jamaika-Bündnis, doch merklich schlechter als andere. Die Herzen der grünen Anhänger und Wähler schlagen unzweifelhaft für ein rot-grünes Bündnis, was an Zustimmungsraten von rund achtzig Prozent abzulesen ist. Immerhin jeweils rund die Hälfte befürwortet eine Ampelkoalition, die je rund ein Drittel der Anhänger und Wähler ablehnt. Ein Bündnis mit SPD und der Linken stößt bei der Hälfte der Anhänger auf positive Resonanz, bei 40 Prozent auf Widerstand; in der Wählerschaft findet dieses Bündnis jedoch mehr Gegner als Unterstützer – und schneidet damit ähnlich ab wie Schwarz-Grün.

Vor diesem Hintergrund ist nicht ohne weiteres damit zu rechnen, dass grüne Anhänger und Sympathisanten mit Herzblut für ein schwarz-grünes Bündnis werben werden. Auch sprechen diese Ergebnisse nicht unbedingt dafür, dass die Grünen in einem möglichen Koalitionspoker ihren Preis mit der Karte „Schwarz-Grün“ sehr glaubwürdig nach oben treiben können. Aber vielleicht wird es der Grünen-Führung ja noch gelingen, ihrer Basis im Wahlkampf ein Bündnis mit der Union schmackhaft zu machen, und sei es nur als „kleineres Übel“. Womöglich ist der grüne Beitrag zur Koalitionsdiskussion aber auch nur dazu gedacht, CDU und CSU in einen Streit über den Charme eines Bündnisses mit den Grünen zu verwickeln. Dazu bedürfte es nur einiger Unionspolitiker, die Schwarz-Grün propagieren – und außer acht lassen, dass eine solche Koalition in den Reihen der Unionsparteien mindestens so wenig beliebt ist wie in jenen der Grünen.

 

Volksparteien gibt es nicht

Journalisten und Wissenschaftler sind sich einig wie selten und die Wahlkämpfer der Gegenseite genießen den Befund: Die SPD ist keine Volkspartei mehr. Endgültig. Schwache Wahlergebnisse (zuletzt noch magere 20,8 Prozent bei der Europawahl), anhaltender Mitgliederschwund und geringes Vertrauen ins politische Personal sprechen seit langem eine deutliche Sprache.

So war es am Wahlparteitag vorgestern vielleicht Frank-Walter Steinmeiers Hauptaufgabe, das Bild der gebrechlichen alten Dame SPD zurechtzurücken und den Anspruch zu untermauern, eine Partei für das gesamte Volk zu sein. „Ich will Kanzler aller Deutschen werden“, sprach der Kandidat, und er machte auch deutlich, wo er sich dabei verortet: „Wir dürfen die Mitte der Gesellschaft nicht räumen.“

Was aber ist dran am Nimbus Volkspartei? Der Begriff stammt aus der politikwissenschaftlichen Forschung der 1960er Jahre – und streng genommen gehört er genau da auch hin. „Volkspartei“ war damals ein Synonym für „Allerweltspartei“, im Englischen sprach man von einer „catch all party“ oder einem „big tent“. Diese Wortschöpfungen zeigen: Die Konnotationen waren durchaus gemischt. Eine Partei setzt auf allumfassende Breitenwirkung und vermarktet sich und ihr Spitzenpersonal auf Kosten ihrer Ideologie, das kann man kritisch sehen.

Eine Volkspartei, schrieb Otto Kirchheimer anno 1965, „lenkt ihr Augenmerk in stärkerem Maße auf die Wählerschaft; sie opfert also eine tiefere ideologische Durchdringung für eine weitere Ausstrahlung und einen rascheren Wahlerfolg.“ Volksparteien, so die Vermutung, würden dank flexibler Programme und moderner Werbemethoden Wahlen in Serie gewinnen und so zum dominierenden Parteitypus werden. Allerdings war dieser Typ Partei in Westeuropa in seiner reinen Form damals nirgends zu finden. Und bis heute haben weder CDU und SPD in Deutschland noch andere Großparteien in Europa so konsequent auf Ideologien verzichtet und sich so vollständig von Ihren Milieus gelöst, dass sie wirklich für die gesamte Bevölkerung wählbar wären.

Die echte Volkpartei war also nie Realität in Deutschland, eine CDU ohne „C“ ist nicht vorstellbar. Und Wahlergebnisse in ganz Europa zeigen sehr deutlich, dass sich die Parteienlandschaften derzeit eher fragmentieren als konzentrieren; neue Parteien entstehen und besetzen Positionen. Nachdem sie nie wirklich Realität wurde, scheint die Volkspartei also inzwischen auch als Modell überholt. Der Begriff ist neudeutsch ausgedrückt nicht mehr als ein „Label“, das einen bestimmten Anspruch ausdrücken soll. Damit reiht sich die Volkspartei neben dem Volkswagen und dem Volkshandy ein.

Die großen deutschen Parteien werden mittelfristig weiter abschmelzen und sie täten gut daran, sich schon heute darauf einzustellen, indem sie nicht Inhalte für Wählerstimmen opfern. Die Kunst wird darin liegen, die Programme unverwechselbar zuzuschneiden und für diese Positionen durch geeignetes Spitzenpersonal eine breite Zustimmung zu organisieren. Insofern müssen der SPD nicht vergangene Wahlausgänge sondern die aktuellen schlechten persönlichen Werte ihres Kandidaten zu denken geben: Laut ARD-Deutschlandtrend fanden fanden letzte Woche nur 32 Prozent der Deutschen, dass Frank-Walter Steinmeier ein guter Bundeskanzler wäre. Diesen Wert muss er steigern, vor allem im eigenen Lager, wo er auch nur 59 Prozent Zustimmung erreichen konnte. Ein erster kleiner Schritt wurde am Wochenende getan.

In der selben Befragung gaben übrigens stolze 74 Prozent an, dass Angela Merkel eine gute Bundeskanzlerin sei, im eigenen Lager waren es 96 Prozent. Auch eine Direktwahl würde die Amtsinhaberin mit 60 zu 29 Prozent klar gewinnen. Die CDU ist auch keine Volkspartei – sie hat aber die „Volkskanzlerin“…

 

Wahlen werden in der Mitte gewonnen!

Die SPD hat sich auf ihrem Bundesparteitag vom vergangenen Wochenende „einstimmig“ (wo gibt es das noch?!) beschlossen, den Bundestagswahlkampf 2009 zu einem klaren Richtungswahlkampf zu machen und „schwarz-gelb“ zu konfrontieren mit dem sozialdemokratischen (eigentlich: rot-grünen) sozialen und ökologischen Gewissen: Priorität hat klar die soziale Gerechtigkeit, nicht das Wirtschaftswachstum. Der Kanzlerkandidat der Partei, Frank Walter Steinmeier (FWS), ist dafür gefeiert worden. Allerdings musste der Parteivorsitzende Franz Müntefering dann auf Nachfrage doch erklären, dass man mit der FDP nicht verfeindet sei und diese wenn nötig auch in einer Ampel mitregieren dürfe.

Das Problem ist, dass Wahlen in der Mitte gewonnen werden und nicht an den Rändern. Jede potentielle Regierungs-führende Partei sollte dies wissen, und ihr Spitzenkandidat auch. Nicht nur in der Bundesrepublik ist es so, dass das rechte und das linke politische Lager (von saisonalen Schwankungen einmal abgesehen) tendenziell gleich stark sind, und Regierungs-entscheidende Zugewinne nur in der Mitte zu erzielen sind. Was die SPD angeht, hat dies zuletzt Gerhard Schröder erkannt und 1998 als SPD-Spitzenmann die „Neue Mitte“ für sich reklamiert (und damals gegen Kohl gewonnen). Der erste SPD-Kanzler der Bonner Republik, Willy Brandt, hat auch nicht mit einem trennenden Umverteilungsprojekt gewonnen, sondern mit einem gemeinschafts-stiftenden Projekt namens Wiedervereinigung (das war die neue Ostpolitik) und für die neu-linke sozialdemokratische Seele war auch noch „mehr Demokratie wagen“ dabei.

Man darf sich wundern (in einem Blog mit dem Titel „Wahlen nach Zahlen“ zumal), ob FWS die Normalverteilung vertraut ist. Links-Rechts-Orientierungen der Wähler folgen derselben recht zuverlässig. Die Position der SPD ist knapp links der Mitte, die der CDU knapp und die der CSU nicht ganz so knapp auf der anderen Seite. Links von der SPD gibt es die Grünen und die Linke. Wo kann man da Stimmen gewinnen? In der Mitte!!!

 

Die feinen Unterschiede? Ein Vergleich zwischen dem Entwurf und der endgültigen Version des SPD-Bundestagswahlprogramms

Die Sozialdemokraten haben sich nach ihrem schlechten Europawahlergebnis auf ihrem Parteitag in Berlin wieder Mut zugesprochen. Im Mittelpunkt stand dabei Frank-Walter Steinmeier, der sich in einer kämpferischen, wieder einmal an Gerhard Schröder erinnernden Rede als Kanzlerkandidat der SPD zurückgemeldet hat. Durch die Konzentration auf den Bundesaußenminister und die Auswirkungen seiner Rede auf die in Lethargie befindlichen Genossen trat der eigentliche Anlass des Parteitages – die Verabschiedung des SPD-Wahlprogramms für die Legislaturperiode des Bundestages von 2009 bis 2013 – leicht in den Hintergrund. Grund genug, um sich im Folgenden kurz anzuschauen, ob sich die endgültige Version des Programms von der schon seit April verfügbaren vorläufigen Variante unterscheidet oder ob die SPD hier Änderungen – quasi durch die Hintertür – vorgenommen hat.

Um diese Frage zu beantworten, wird eine Inhaltsanalyse der bislang vorliegenden Bundestagswahlprogramme zur Wahl 2009 – inklusive des SPD-Wahlprogrammentwurfs vom April – vorgenommen. Die Technik zur Gewinnung der Positionen ist wiederum das auf relativen Worthäufigkeiten beruhende „wordscore“-Verfahren von Michael Laver, Kenneth Benoit und John Garry. Grundlage der Schätzung sind alle Wahlprogramme der im Bundestag vertretenen Parteien seit 1980. Da das Verfahren auch einen Fehlerbereich für die jeweilige Parteiposition ermittelt, sind diese in Form von Balken in der folgenden Abbildung angegeben. Der Punkt, wo sich die Balken schneiden, ist die ermittelte Parteiposition. Unterschieden wird – wie bereits in der Analyse des FDP-Wahlprogramms – zwischen einer wirtschafts- und sozialpolitischen Links-Rechts-Dimension einerseits und einer gesellschaftspolitischen Konfliktlinie andererseits, die zwischen progressiven und konservativen Auffassungen zu Fragen wie etwa Abtreibung oder gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften unterscheidet.

Die Grafik, in der auch die Positionen der 2005er-Wahlprogramme abgetragen sind, macht deutlich, dass sich die Haltung der SPD zwar nicht auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Sozialpolitik, wohl aber auf dem der Gesellschaftspolitik signifikant in eine moderatere Richtung zwischen April und Juni diesen Jahres verändert hat. Damit nähern sich die Sozialdemokraten wieder der Position ihres 2005er-Wahlprogramms auf der gesellschaftspolitischen Konfliktdimension an und entfernen sich dabei gleichzeitig etwas von den sehr progressiven Positionen der Liberalen und der Grünen, die ja die präferierten Koalitionspartner der SPD sind. Ob diese Positionsverschiebung der Sozialdemokraten ein Signal an die Unionsparteien, deren Wahlprogramm erst gegen Ende diesen Monats vorliegen wird, und damit auch an eine Neuauflage der großen Koalition ist, erscheint jedoch eher unwahrscheinlich. Unter der Annahme, dass das 2009er-Wahlprogramm der CDU/CSU im Politikraum ungefähr dort liegen wird, wo sich auch das Regierungsprogramm der Union von 2005 befindet, ist die inhaltlich „günstigere“ Option für die SPD weder ein Bündnis mit CDU und CSU einerseits noch mit FDP und Bündnisgrünen andererseits, sondern vielmehr die von Müntefering und Steinmeier abgelehnte rot-rot-grüne Koalition. Hier gibt es – zumindest was die beiden hier betrachteten Politikfelder angeht – die größten Schnittmengen. Während es in einem schwarz-roten Bündnis große Unterschiede in wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Fragen gibt, so wäre eine „Ampel“ von großen Gegensätzen im gerade in der Wirtschaftskrise zentralen sozioökonomischen Politikfeld gekennzeichnet. Ob es für ein Linksbündnis aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der „Linken“ aber Ende September reichen und die Sozialdemokraten sich unter ihrer jetzigen Führung darauf einlassen werden, ist mehr als fraglich. Um hierauf eine Antwort zu bekommen, müssen wir nicht nur das Wahlprogramm der Union abwarten, sondern vor allem des Wahlergebnis vom 27. September 2009.

 

Vor dem Wahlparteitag der SPD: Vergleich der Stimmungen 2005 und 2009

Die SPD gilt als Kampagnenpartei, also als eine Partei, die im Wahlkampf an Fahrt gewinnt und auf der Zielgeraden mit dem politischen Gegner aufholt. Dies haben wir in den Jahren 2002 und 2005 recht eindrucksvoll erlebt. Allerdings sind die Ausgangsbedingungen heute deutlich schwieriger als 2009 und das liegt u.a. an der Kanzlerin! Schauen wir uns die Zahlen hierzu kurz an.

Die Stimmung 2005, also kurz vor dem Wahlparteitag der SPD Ende August, und einen knappen Monat vor der Wahl lagen die Sozialdemokraten bei der Sonntagsfrage 29%, die CDU/CSU bei 42% Prozent.

Allerdings, und das ist der zentrale Unterschlied, lag Kanzler Schröder in seiner Gunst deutlich vor seiner Herausforderin Angela Merkel: 48% zu 41%. Auf dem Wahlparteitag – wir erinnern uns – spielte Schröder dann auch erfolgreich die negative-campaigning-Karte mit Paul Kirchhoff, dem Professor aus Heidelberg.
Was ist 2009 anders? Die SPD stürzt in ein erneutes Umfragetief mit 22 %, bei der Sonntagsfrage erlangt sie nur 25% – und sie profitiert nicht von der im Vergleich zu 2005 schwächeren CDU. Und der Retter ist eben nicht in Sicht und das ist der große Unterschied zu der Situation 2005: der Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier liegt mit 29% im direkten Vergleich deutlich hinter seiner Chefin Angela Merkel, für die 58% der Befragten votieren.

Und auch mit der Waffe „negative campaigning“, die 2005 auf dem Wahlparteitag noch voll zur Geltung kam, wird Steinmeier wohl vorsichtig umgehen, denn das zu Guttenberg-bashing kam beim Wähler nicht gut an.
Was kann ein Wahlparteitag hier ausrichten: Steinmeier kann mit einer Blut- und Schweißrede die eigenen Leute einschwören, hinter sich bringen, eine solche Rede kann durchaus eine Strahlkraft entfalten – ob ihm dies gelingt und wenn ja wie werden wir heute sehen.

 

Das Superwahljahr 1994 als Vorlage für das Superwahljahr 2009: Keine guten Aussichten für die SPD

Aktuelle Wahlergebnisse werden in der Regel mit den Resultaten der vorhergehenden Wahl verglichen, um den Ausmaß an Wandel in den Präferenzen der Wählerschaft darzustellen. Dies ergibt intuitiv Sinn: Man will verdeutlichen, wie sich die Stärkeverhältnisse der politischen Parteien auf der entsprechenden Ebene – Bund, Land, Kommune oder eben Europa – im Vergleich zur letzten Wahl verschoben haben. Wenn es jedoch um den Aspekt der Mobilisierungsfähigkeit einer Partei geht – dieser stand in der Wahlberichterstattung des gestrigen Abends aufgrund des schwachen Ergebnisses der SPD massiv im Vordergrund –, dann wird auch mal auf zeitlich weiter zurückliegende Resultate oder auf Ergebnisse zu Wahlen auf anderen Ebenen zurückgegriffen. Gestern diente in einer ARD/Infratest Dimap-Grafik die absolute Stimmenanzahl der SPD zur Europawahl 2004, 2009 und zur Bundestagswahl 2005 als Grundlage für den – angeblichen – Beleg, dass die Sozialdemokraten sich immer schwer tun, ihre traditionelle Kernwählerklientel bei Europawahlen zu mobilisieren, während es ihnen bei Bundestagswahlen – zumindest bei der letzten vom September 2005 – relativ gut gelungen ist.

Der mit dieser Interpretation verbundene Hoffnungsschimmer für die SPD und ihre Chancen bei der Bundestagswahl in diesem September werden allerdings deutlich kleiner, wenn man die Analyse vor dem Hintergrund der letzten Wahlen aus den Jahren 2004 und 2005 verlässt und eine Situation als Vergleichsperspektive wählt, in der gleiche Rahmenbedingungen gerade im Hinblick auf die Mobilisierungsfähigkeit der Parteien geherrscht haben. Ein Bundestagswahlkampf mag die Wähler zwar vor allem in den letzten Wochen vor der Wahl beschäftigen, aber der Wahlkampf an sich beginnt schon Monate zuvor und übt auch dann bereits Effekte auf das Verhalten – gerade der vielgenannten Kernwählerklientel – aus.

Solche Wahlen mit ähnlichen Rahmenbedingungen sind – gerade im Fall der SPD – nicht die Europawahlen 1999 und 2004, bei denen die traditionellen SPD-Wähler aufgrund von Frustration über das generelle Agieren der rot-grünen Bundesregierung (1999) bzw. deren Wirtschafts- und Sozialpolitik (2004) der Wahl fern geblieben sind, sondern vielmehr die Wahl aus dem Jahr 1994. Das „Superwahljahr“ vor 15 Jahren gleicht in sehr vielen Punkten, die entscheidend für die Mobilisierung der eigenen Anhänger sind, dem Jahr 2009: es fanden 1994 neben zahlreichen Landtagswahlen eine Bundespräsidentenwahl und eine Wahl zum europäischen Parlament statt, die beide für die SPD ähnlich wie in diesem Jahr verloren gingen. Der Unterschied ist jedoch das Ausmaß: 1994 konnten die Sozialdemokraten – zugegebenermaßen bei höherer Wahlbeteiligung von 60% – bei den Europawahlen noch ein Ergebnis von 32,2% erreichten. Der Abstand zur Union, die auf 38,8% kam, betrug somit rund sieben Prozentpunkte. Die SPD änderte dann massiv ihre Wahlkampfstrategie und setzte mit dem fröhlichen Slogan „Freu Dich auf den Wechsel, Deutschland“ auf den Wunsch vieler Wähler, den 1994 seit 12 Jahren amtierenden Kanzler Helmut Kohl (CDU) abzulösen. Diese Taktik ging jedoch erst 1998 auf: Bei der Bundestagswahl im Oktober 1994 konnten beide Volksparteien bei deutlich höherer Wahlbeteiligung von 79% ihre Stimmenanteile leicht steigern – die SPD kam auf 36,4% und die CDU/CSU auf 41,5% der Stimmen – und die christlich-liberale Koalition blieb im Amt.

Nimmt man den Ausgang der Bundestagswahl 1994 – natürlich bei aller gegebenen Vorsicht, die sich auch aus dem durch die bundesweite Etablierung der „Linken“ geänderten Parteiensystem ergeben – als Grundlage einer Prognose für die Wahlen im September diesen Jahres, so ist nur sehr schwer vorstellbar, wie die SPD bei einem Stimmenanteil von nicht ganz 21% bei der Europawahl bei der Bundestagswahl im September die 30%-Marke schaffen oder gar an ihr Ergebnis aus 2005 von 34,2% der Stimmen herankommen will. Denn 1994 ähnelt nicht nur dem Superwahljahr 2009 hinsichtlich der Anzahl und Sequenz von bundesweiten Wahlen und Abstimmungen, sondern auch in Fragen des Charismas und der Ausstrahlungskraft der jeweiligen SPD-Kanzlerkandidaten: letztgenannte Eigenschaften fehlten dem 1994 angetretenen rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Rudolf Scharping, und sie fehlen auch Frank-Walter Steinmeier, der – obwohl er aus der populären Rolle des Bundesaußenministers antritt – nicht so recht in die Rolle des mobilisierenden Wahlkämpfers hineinwachsen will. Wenn man also das Wahljahr 1994 als Vorlage für eine Prognose für das Wahljahr 2009 heranzieht und dazu noch annimmt, das ein Kanzlerkandidatenfaktor als Komponente der Entscheidung eines Wählers nicht zu vernachlässigen ist, dann steht der SPD bei weitem keine angenehme zweite Hälfte dieses Superwahljahres bevor.

 

Bayern gegen Bremen

Duelle zwischen Bayern und Bremen kennt man vor allem im Fußball. Doch auch bei der Europawahl gibt es dieses Duell, vor allem im Unionslager. Während alle anderen Parteien mit bundesweit einheitlichen Listen zur Europawahl antreten, tritt die Union mit Landeslisten (also einer eigenen Kandidatenliste pro Bundesland) an. Dieser Umstand ist der CSU geschuldet – da sie in Bayern (und nur dort) antritt, muss auch die CDU in jedem einzelnen der übrigen 15 Länder mit einer eigenen Liste antreten.

Die Vergabe der Sitze erfolgt am Sonntag zweistufig: Zunächst auf die CDU insgesamt, dann – nach der Anzahl der pro Bundesland erhaltenen Stimmen – auf die einzelnen Landeslisten der CDU. Nun wird die CDU, das dürfte eine nicht allzu kühne Prognose sein – rund 35 der 99 deutschen Sitze am kommenden Sonntag gewinnen können. Dass einer davon von einem bremischen Kandidaten besetzt werden wird, ist aber nahezu ausgeschlossen. Zu klein ist der Anteil Bremens an der deutschen Bevölkerung (und damit auch innerhalb der CDU-Wählerschaft), nur 0,8 Prozent der Wahlberechtigten leben dort. Die CDU-Liste Bremens wird nicht zum Zuge gekommen, selbst ihr Spitzenkandidat wird nicht ins EP einziehen. Und das alles nur (ein wenig überspitzt formuliert) wegen der CSU. Bayern gegen Bremen – manchmal auch abseits des Platzes.

 

Dialogorientierte Wahlkreiskommunikation mal anders – Ein Ausschnitt aus der Kampagnenarbeit der Grünen im Rahmen der Europawahl 2009

Die Wahl für das Europaparlament steht vor der Tür. Jetzt gilt es, letzte Wählerstimmen für sich zu gewinnen. Die Kandidaten für das Europaparlament gehen deshalb gerade in der letzten Phase des Wahlkampfes mit den Wählern auf Tuchfühlung. So präsentierte sich der SPD Spitzenkandidat Martin Schulz jüngst mit Frank-Walter Steinmeier und Franz Müntefering auf Kundgebungen in Berlin und Hamburg, aber auch das Aushängeschild der FDP, Dr. Silvana Koch-Mehrin, spricht zusammen mit Guido Westerwelle zu den Bürgern. Der direkte Kontakt vor Ort mit den Bürgern kann eigene Anhänger mobilisieren oder gar Unentschlossene bzw. nicht Informierte für die eigenen Reihen gewinnen. Zentral ist hierbei jedoch, wie effizient diese Kommunikation gestaltet ist.

Effizient im Sinne von geeigneten Themen und Settings für die jeweilige Wählerzielgruppe, die angesprochen werden soll.

Im Rahmen des Wahlkampfes für die letzte Wahl zum Europaparlamant 2004 haben vor allem die kleinen Parteien FDP und Grüne vorgemacht, wie man Wähler überzeugt, und konnten so ihre Stimmenanteile von 3 % auf 6,1 % (FDP) bzw. von 6,4 % auf 11,9 % (Grüne) erhöhen. Dabei schreiben Experten diesen Stimmenzuwachs nicht zuletzt ihren innovativen und europabezogenen Kampagnen zu.

Auch in diesem Europawahlkampf liefert die Kampagnenarbeit der Grünen wieder ein Beispiel für ambitionierten Wahlkampf, nah am Bürger. Die Grünen-Kandidatin Franziska Brantner, die als junge Politikerin vor allem ihre Zielgruppe bei den Studierenden hat, setzt in ihrem Wahlkampf auf zielgruppen- und dialogorientierte Wahlkreiskommunikation, indem sie ihre potentielle Wählergruppe direkt vor Ort „abholt“. Im Rahmen von „Europe lunches“ in Uni mensae in ihrem Wahlkreis oder Radtouren sowie „speed dating“, bei dem die Kandidatin wechselnden Fragestellern Rede und Antwort steht, präsentiert sich die Kandidatin in direkter Augenhöhe mit ihrer Wählerzielgruppe und gibt etwa Antworten auf Fragen zur Energiepolitik der Grünen in Europa oder einfach zum Wahlsystem für die Wahl zum Europaparlament. Der Wähler steht hier im Mittelpunkt und erhält ungefilterte Antworten auf seine Fragen. Das ist für die Mobilisierung und Überzeugung der jungen Wähler entscheidend, geben doch gerade die Nichtwähler in der Altersgruppe der 15- bis 24-Jährigen als Hauptgründe für ihre Stimmenthaltung „das fehlende Wissen über das EP“ oder aber „fehlende Informationen zur Wahl“ bzw. „MEP vertreten sie nicht ausreichend“ an.

Teilnahmebereitschaft an den Europawahlen

Angaben in Prozent, Quelle: Spezial Eurobarometer 299.

Der Einfluss all dieser genannten Gründe für die Stimmenenthaltung kann jedoch von Seiten der Kandidaten für die Wahl zum Europäischen Parlament durch direkten Kontakt mit den jungen Wählern minimiert werden. Sich mit kritischen Fragen auseinandersetzen aber auch direkt über die Arbeit des Europäischen Parlaments und seiner Abgeordneten zu informieren kann der Schlüssel zu einer höheren Wahlbeteiligung vor allem bei der jüngeren Wählerschaft sein. Mit ihren neuen, unkonventionellen Wahlkampfmethoden schlägt die junge Grünen-Kandidatin offensichtlich genau in die Kerbe, der es bedarf, um ihre Zielgruppe am kommenden Sonntag in die Wahllokale zu locken.

 

Das Schicksal der CSU hängt an der Wahlbeteiligung – einige Szenarien

Am kommenden Sonntag findet bekanntlich die Europawahl statt. Dass die Wahlbeteiligung dabei von entscheidender Bedeutung ist, wurde sowohl hier als auch in der breiteren Öffentlichkeit schon ausführlich diskutiert. Von besonderer Bedeutung ist die Wahlbeteiligung aber für eine Partei – die CSU. Ihr Schicksal am kommenden Sonntag hängt nämlich genau von ihr ab.
Warum? Die CSU tritt – natürlich – nur in Bayern an. Gleichwohl muss sie alleine mit ihren bayrischen Stimmen die Fünf-Prozent-Hürde überspringen, sonst ist sie zukünftig im Europäischen Parlament nicht mehr vertreten. Die Fünf-Prozent-Hürde bezieht sich dabei auf die Zahl der bundesweit abgegebenen gültigen Zweitstimmen: Fünf Prozent aller bundesweit abgegebenen gültigen Stimmen müssen ein Kreuzchen bei „CSU“ haben. Zwei Dinge sind also entscheidend für die CSU: Die Zahl der bundesweit abgegebenen Stimmen und die Zahl der für die CSU in Bayern abgegebenen Stimmen.
Der Bundeswahlleiter hat kürzlich die Zahl der Wahlberechtigten pro Bundesland veröffentlicht , demnach leben 15 Prozent der wahlberechtigten Deutschen in Bayern. Auf dieser Basis lassen sich nun einige Szenarien (samt ihrer Konsequenzen für die CSU) durchspielen:

Szenario 1: Die Wahlbeteiligung beträgt in allen Bundesländern einheitliche 43 Prozent (dem Durchschnitt von 2004)
In diesem Fall würden insgesamt 26,703 Millionen Deutsche (und 4 Millionen Bayern) ihre Stimme abgeben. Um die 5%-Hürde zu überspringen, muss eine Partei 1,335 Millionen Stimmen erhalten, was für die CSU einem Stimmenanteil von 33,4 Prozent der bayrischen Stimmen entspricht. Erreicht die CSU in Bayern 33,4 Prozent der Stimmen, ist sie drin, gelingt ihr das nicht, ist sie draußen aus dem EP.

Szenario 2: Die Wahlbeteiligung beträgt in Ländern, in denen nicht zeitgleich eine Kommunalwahl stattfindet, 33 Prozent; in Ländern mit paralleler Kommunalwahl 53 Prozent
In diesem Fall würden insgesamt 24,553 Millionen Deutsche (und 3,07 Millionen Bayern) ihre Stimme abgeben. Um die 5%-Hürde zu überspringen, muss eine Partei 1,228 Millionen Stimmen erhalten, was für die CSU einem Stimmenanteil von 40,0 Prozent der bayrischen Stimmen entspricht.

Szenario 3: Die Wahlbeteiligung beträgt in Ländern, in denen nicht zeitgleich eine Kommunalwahl stattfindet, 33 Prozent; in Ländern mit paralleler Kommunalwahl 53 Prozent, in Bayern aber wegen schönen Wetters nur 30 Prozent
In diesem Fall würden insgesamt 24,274 Millionen Deutsche (und 2,79 Millionen Bayern) ihre Stimme abgeben. Um die 5%-Hürde zu überspringen, muss eine Partei 1,214 Millionen Stimmen erhalten, was für die CSU einem Stimmenanteil von 43,5 Prozent der bayrischen Stimmen entspricht – einem Zehntelprozentpunkt mehr, als sie bei der Landtagswahl 2008 erhielt.

Es verspricht ein spannender Wahlsonntag zu werden, allen voran für die CSU.

PS: Eine andere Kuriosität im Zusammenhang mit dem Antreten der CSU bei der Europawahl ist inzwischen hier diskutiert.