Nun ist auch der letzte Rebell eingeknickt. Gestern unterzeichnete der tschechische Präsident Vaclav Klaus den Lissabon-Vertrag für die EU. Das Reformwerk kann jetzt am 1. Dezember in Kraft treten. Es ist keine kleine Schraubendrehung, die der Vertrag an der europäischen Integration vornimmt. Es ist ein qualitativer Schritt. So viel Macht haben Staaten noch nie auf eine supranationale Instanz verschoben.
Der Lissabon-Vertrag werde Europa effzienter und demokratischer machen, lautet die Brüsseler Werbeparole. Effizienter macht er die EU-Gesetzgebung sicherlich. Die größte Neuerung besteht grob gesagt darin, dass die 27 EU-Mitgliedsländer sämtliche Politikbereiche mit Ausnahme der Außen- und Steuerpolitik einer Mehrheitsentscheidung im Ministerrat unterwerfen. Das bedeutet, dass künftig Staaten für andere Staaten Gesetze machen können. Und zwar in Feldern, die bisher streng der nationalen Souveränität vorbehalten waren. Das hat es in der Menschheitsgeschichte noch nicht gegeben.
Besonders gewichtig kann sich diese Neuerung in der Justiz- und Innenpolitik auswirken. Die abgesandten Diplomaten der EU-Staaten in Brüssel beziehungsweise ihre Minister werden künftig nicht mehr nur über technische Normen, Binnenmarkt- und Verbraucherrechte entscheiden können, sondern auch über Eingriffe in Grundrechte. Wann und unter welchen Voraussetzungen zum Beispiel Personen, die illegal Dateien aus dem Internet herunterladen, der Netzzugang gesperrt werden kann, wird künftig auf EU-Ebene entschieden.
Wird dieser Machtzuwachs durch einen Zuwachs an demokratischer Kontrolle ausgeglichen? Formal ja, denn das Europaparlament erhielt auf den sensiblen Gebieten Mitbestimmungsrechte. Die Frage lautet aber, ob das Europaparlament dieselbe demokratische Kontrollqualität besitzt wie etwa der Bundestag. Davon kann keine Rede sein.
Das Europaparlament wählt und kontrolliert keine Regierung. Seine Mitglieder kommen aus 27 Staaten, sie sind also nicht einer Öffentlichkeit und einer Wählergemeinschaft verantwortlich, sondern de facto nur der jeweils ihren. Im Europaparlament finden sich die nationalen Parteien zudem zu europäischen Bündelfraktionen zusammen. In ihnen werden die gewohnten nationalen Parteienprofile und -positionen oft verwischt. Die checks and balances, wie sie aus der nationalen Demokratie gewohnt sind, funktionieren im Europaparlament also nur sehr begrenzt.
Die zweite große Neuerung des Lissabon-Vertrages soll darin bestehen, dass die EU mehr Gewicht und mehr Gesicht auf der Weltbühne erlangt. Dafür sollen ein permanenter EU-Ratspräsident sowie ein EU-Außenminister mitsamt einem 6000 Mann starken diplomatischen Dienst sorgen. Bisher ist allerdings nicht klar, wie sich die Kompetenzen zwischen diesen beiden Top Jobs genau voneinander abgrenzen sollen. Zudem zögern die großen Mitgliedsstaaten, dem neuen Europäischen Auswärtigen Dienst nennenswerte Kompetenzen zu übertragen.
Das Wichtigste am Lissabon-Vertrag dürfte letztlich nicht das sein, was er Europa bringt. Sondern das, was Europa durch ihn verliert. Es verliert die Ausrede, sich zunächst einmal an Haupt und Gliedern straffen zu müssen, bevor es schlagkräftiger in der Welt wirken kann. Die Zeit der Vertragsdebatten ist endgültig vorüber. Die Europäische Union muss jetzt zeigen, was sie kann – und vor allem will.
Bisher deutet allerdings nichts darauf hin, dass das Lissabon-Europa zu neuer Form findet. Im Gegenteil. Die Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners wird selbst in Europas Aufbruchstunde fortgesetzt. Als ernsthafter Kandidat für das Amt des ersten ständigen Ratspräsidenten ist der derzeitige belgische Ministerpräsident Herman Van Rompuy im Gespräch, ein nobody auf der Weltbühne. Dafür hat Europa also acht Jahre Lissabon-Debatten, endlose Regierungskonferenz und wertvollste politische Energie investiert? Bravo, Staatschefs.
Das Lissabon-Urteil zwingt Deutschland zu einer ehrlichen Europapolitik – endlich
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Lissabon-Vertrag vom vergangenen Dienstag markiert möglicher Weise eine Zäsur in der Entwicklung der Europäischen Union. Es könnte dazu führten, dass Deutschland schon bald sein wahres europapolitisches Gesicht zeigt. Denn die Bundesrepublik ist jetzt gezwungen, aus dem Schneckenhaus der Nachkriegs-Europapolitik herauszutreten.
Die Folge könnte entweder sein, dass der bisher größte Motor Europas zu Europas größter Bremse wird. Oder, falls es besser ausgeht, derjenige Staat wird, der den Kontinent endlich zu mehr Ehrlichkeit zwingt im Umgang mit dem Werkzeug EU.
Denn das Verfassungsgericht hat, wenn man so will, den Bundestag aus seinem jahrzehntelangen EU-Tiefschlaf wachgerüttelt. Was sein Urteil verlangt, ist de facto ein Parlamentsvorbehalt gegenüber Entscheidungen, die Vertreter der Bundesregierung in Brüssel treffen. Diese Mitwirkungspflicht könnte drastischere Auswirkungen haben, als alle, die sich über das Lissabon-Urteil bloß als Wegbereitung zu einem zweiten irischen Referendum freuen, bisher glauben.
Fünfzig Jahre lang haben die Berliner Abgeordneten im Wesentlichen drei Gründe gehindert, genauer auf das zu schauen, was im Brüsseler Ratsgebäude verbindlich für alle europäischen Staaten entschieden wird.
1. Desinteresse
2. Überlastung
3. Ein historisch begründeter permissiver Konsens gegenüber den meisten Maßnahmen, die die europäische Einigung voranbringen sollen. Schließlich hat Deutschland zwei Weltkriege angezettelt – und in der EU, so sehen es noch heute viele Politiker nicht nur der Kohl-Generation, die Chance zur Resozialisierung erhalten.
Desinteresse und Überlastung hat Karlsruhe dem Bundestag in Europa-Angelegenheiten nunmehr schlicht verboten. „Den deutschen Verfassungsorganen“, schreiben die Richter, „obliegt eine dauerhafte Integrationsverantwortung im Rahmen der Mitwirkung. Sie ist darauf gerichtet, bei der Übertragung von Hoheitsrechten und bei der Ausgestaltung der europäischen Entscheidungsverfahren dafür Sorge zu tragen, dass in einer Gesamtbetrachtung sowohl das politische System der Bundesrepublik Deutschland als auch das der Europäischen Union demokratischen Grundsätzen (…) entspricht.“ (Paragraph 245 des Urteils).
Und dann, der entscheidende Satz: Von Demokratie könne im Spannungsfeld zwischen nationalen und EU-Entscheidungen nur dann die Rede sein, „wenn der Deutsche Bundestag eigene Aufgaben und Befugnisse von substantiellem politischem Gewicht behält.“ (Das Europaparlament, so die Richter, sei unter anderem wegen des Nichtvorhandenseins eines europäischen Demos kein hinreichender Ersatz für die Aufsichtsfunktion nationaler Parlamente.) Diese Dauereinmischung ist, wenn die Erfinder von Lissabon ehrlich sind, das Gegenteil dessen, was sie mit dem Vertrag erreichen wollten. Und das ist gut so.
An dieser Frage zunächst, welche Aufgaben also der Bundestag für substantiell hält, wird sich entscheiden, wie sehr Deutschland in Zukunft die Europäische Integration auszubremsen vermögen könnte. Die CSU hat bereits gefordert, dies bei jeder Gelegenheit tun zu können. Sie verlangt, dass Bundestag und Bundesrat „bei der Nutzung aller bereits vorhandenen Kompetenzen durch die Bundesregierung im Brüsseler Rat“ zustimmen müssen.
Was das bedeuten könnte, zeigt das Beispiel Schweden, wo heute schon ein solch strenger Parlamentsvorbehalt gilt. So hat zum Beispiel ganz allein die Blockade des schwedische Parlamentes gegen sämtliche anderen 26 EU-Regierungen verhindert, dass es ein EU-einheitliches Scheidungsrecht gibt. Ein spezieller Ausschuss des Stockholmer Parlaments steht während der Ratssitzungen in ständigem Telefonkontakt mit seinen Ministern in Brüssel, notfalls die ganze Nacht hindurch. Stimmen sie nicht zu, darf die Regierung nicht zustimmen.
Will sich der deutsche Bundestag ein „Lissabon-Begleitgesetz“ mit solchen Befugnissen geben? Ausgeschlossen ist das nicht.
Aber auch wenn die Vorbehalte nicht ganz so streng ausfallen werden, Tatsache ist, dass die deutschen Abgeordneten zum ersten Mal gezwungen sein werden, ihren tatsächlichen europapolitischen Charakter zu erforschen und zu offenbaren. Sie, selbst die europafreundlichsten unter ihnen, werden dabei feststellen, dass es, sobald es um handfeste Interessen geht, nicht mehr ausreicht, Europa als größtes und erfolgreichstes Friedensprojekt aller Zeiten zu preisen und den Rest der Brüsseler Bürokratenschaft zu überlassen. Sie werden vielmehr feststellen, dass die EU keineswegs nur Gutes tut. Der permissive Konsens (oder auch: das freundliche Desinteresse) gegenüber der EU, der in der Nachnachkriegs-Politikergeneration ohnehin bröckelt, wird sich über kurz oder lang erledigen. Diese Ehrlichkeit kann nur förderlich sein.
Denn andererseits werden die deutschen Politiker, selbst die in der CSU, auch entdecken, dass sie Europa öfter und dringender brauchen, als sie bislang geglaubt haben. Weil sich vieles eben nicht mehr nur national regeln lässt, sondern supranational geregelt werden muss. Weil der Nationalstaat vielleicht noch immer die beste Karosserie für Demokratie ist – aber eben nicht mehr immer das beste Werkzeug für die großen Räder einer verzahnten Welt. Wenn sie dies in der konkreten Politik(mit)arbeit erfahren, werden sich hoffentlich mehr deutsche Politiker, statt in Sonntagsreden vergangenheitsgewandte EU-Lobpreisungen herunterzubeten, darauf konzentrieren, was dieser Staatenverbund für die Zukunft wert ist.
Die moderne Wahrheit der deutschen Europapolitik muss also nicht die Blockade sein. Sie kann, wenn auch mit zwei Generationen Verspätung, die Entdeckung Europas werden.
Wie die Staatschefs der EU die Iren zu einem „Ja“ für den Lissabon-Vertrag bewegen wollen
Fast genau ein Jahr ist vergangen, seit die Iren die Stopp-Taste der Europäischen Union gedrückt haben. Am Freitag, den 13. Juni 2008, sagten 53,4 Prozent der Inselbewohner in einer Volksabstimmung „Nein“ zum Vertrag von Lissabon. In Brüssel brach daraufhin Weltuntergangsstimmung aus, denn nach Ansicht seiner Befürworter ist eben jener Vertrag der einzige Weg ist, eine EU von 27 Mitgliedsländern vor der Unregierbarkeit und also vor dem Untergang zu bewahren.
Nun ist die EU während des vergangenen Jahres zwar weder schlecht regiert worden (sie ist erfolgreich als Krisenmanager im Georgienkrieg eingesprungen, sie hat – immerhin vorerst – den Gasstreit mit Kiew und Moskau beigelegt und arbeitet gerade im Eiltempo an einer paneuropäischen Finanzmarktaufsicht) noch ist sie untergegangen, aber am laut Meinungsumfragen auch in anderen Ländern ungeliebten Lissabon-Vertrag wollen ihre Regierungen trotzdem mit aller Macht festhalten.
Im Brüsseler Ratsgebäude
Sicher, die Regierungschefs hätten ihre Zusammenkunft in Brüssel auch dazu nutzen können, um zunächst einmal darüber zu reden, ob die EU nach der dürftigen Bürgerbeteiligung an der jüngsten Europawahl womöglich in eine Legitimationskrise hineinschlittert. Zu diesem Befund war noch in der Wahlnacht der Spitzenmann der europäischen Sozialdemokraten, Martin Schulz, gelangt.
Aber diese Gelegenheit nutzten die Staatschefs schon nach dem Iren-Nein nicht, und sie verschlossen sich auch ein Jahr später erneut dieser – vielleicht viel entscheidenderen – Frage für die Zukunft der Union. Stattdessen widmeten sie sich einen ganzen Vormittag lang der Frage, mit welchen Leckerlis sie den Iren das Reformwerk doch noch schmackhaft machen können. Die „Gefechtslinie“, so hieß es aus deutschen Regierungskreisen, laute: „Maximale Wirkung für Irland und minimaler Schaden für alle anderen.“
Es sei, gab Bundeskanzlerin Angela Merkel auf der abschließenden Pressekonferenz des Gipfels bekannt, nunmehr eine Lösung gefunden. Diese funktioniert, den Schlussfolgerungen des Ratstreffen gemäß, so: Um klarzustellen, „dass bestimmte Angelegenheiten, die der irischen Bevölkerung Anlass zur Sorge geben, durch dass in Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon nicht berührt werden“, soll der Vertrag um rechtliche bindende Interpretationen ergänzt werden.
In diesen Ergänzungen (* Wortlaut am Ende dieses Beitrags) soll festgehalten werden, dass der Vertrag die Bestimmungen der irischen Verfassung über Abtreibung, Familie, seine Steuerhoheit sowie seine tradiotionelle sicherheitspolitische Neutralität gewahrt bleiben. Mit anderen Worten: Brüssel darf keine Iren töten, ihnen kein Geld abnehmen und sie nicht in den Krieg schicken.
Jetzt bleibt den Staatschefs bloß zu wünschen, dass es wirklich diese Sorgen waren, die auf der Insel zur Ablehnung des Vertrages geführt haben. Dass dem so sei, hat der irische Ministerpräsident Brian Cowen seinen europäischen Amtskollegen versichert. Fraglich bloß, ob der Mann sich von den richtigen Meinungsforschern hat beraten lassen. Denn wer sich in Irland zum Lissabon-Vertrag und der Stimmung gegen ihn umhörte, bekam – anekdotisch freilich – andere Auskünfte.
Diejenige zum Beispiel, dass die Bürger nicht gewillt waren, einen Vertrag zu unterschreiben, von dem sie auch nach ausführlichen Informationskampagnen nicht glaubten, ihn verstanden zu haben. Oder die, dass sie mit der grundlegenden Richtung der EU-Politik, einer „ever closer union“, einer immer tieferen Union, nicht einverstanden waren. Und auch mit der Tatsache waren viele nicht einverstanden, dass die Grundsätze der europäischen Demokratie offenbar nicht gelten sollen, wenn den Staatsführern das Ergebnis nicht passt.
Mit diesem Argument jedenfalls gehen bis heute die Gegner des Lissabon-Vertrages auf der Insel hausieren. Immerhin, argumentieren sie, hätten in Irland mehr Wähler gegen den Vertrag gestimmt als Leute in den USA für Barack Obama (52,9 Prozent). Warum werde das eine weniger respektiert als das andere?
„Die Gründe, warum die Menschen Nein zum Lissabon-Vertrag gesagt haben, wurden nicht addressiert“, kommentiert Patricia McKenna, die Vorsitzende des irischen „People’s Movement“ die Ergebnisse des Brüsseler Gipfels. „Deshalb glaube ich auch nicht, dass die Wähler ihre Meinung ändern werden.“
Jüngere Meinungsumfragen allerdings sehen mittlerweile eine knappe Mehrheit für den Vertrag. Was die Politiker in Brüssel womöglich nicht schaffen, schafft offenbar die Wirtschaftskrise. Sie trifft Irland besonders hart und sorgt für ein stärkeres Anlehnungsbedürfnis an den Kontinent.
Die neuen rechtlichen Garantien für die Iren (keine Abtreibungen, keine EU-Steuern, kein Wehrdienst für Brüssel) sollen nun in ein Protokoll aufgenommen werden, das seinerseits dem Lissabon-Vertrag bei seiner nächsten Änderung hinzugefügt werden soll. Die steht an, wenn Kroatien der EU betritt, also vermutlich nicht vor 2011. Die dann fälligen Änderungen der Stimmengewichte im Rat müssen alle EU-Mitglieder ratifizieren. Der Vorteil: Der Lissabon-Vertrag wird ergänzt, ohne dass die Staaten, die ihn jetzt schon ratifiziert haben, dies wiederholen müssten.
Die Iren hingegen werden voraussichtlich im Oktober ein zweites Referendum abhalten. Sie müssten also erst einmal dem alten, unveränderten Lissabon-Vertrag zustimmen, um dann später einen neuen zu bekommen. Ob ihnen das gefällt?
Am Rande des Gipfels äußerte ein erfahrener Europapolitiker übrigens doch noch eine interessante Theorie über die grundsätzlich mangelnde Unterstützung des Projekts EU in der Bevölkerung.
„Was wir ja eigentlich bräuchten, um die Leute zu interessieren, wären polarisierende Meinungen. Aber wollen wir das eigentlich in der EU, Kontroversen? Eigentlich wollen wir ja immer mit einer Stimme sprechen. Und solange das gelingt, so lange die Grundfragen von Europa nicht strittig sind, wird sich auch die Wahlbeteiligung nicht erhöhen.“
Oder, könnte man hinzufügen, solange nicht, wie die etablierten Parteien nicht merken oder wahrhaben wollen, dass sich die Bevölkerung in Sachen EU schon längst polarisiert hat?
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* Wortlaut der Garantien für Irland:
DECISION OF THE HEADS OF STATE OR GOVERNMENT OF THE 27 MEMBER STATES OF THE EU, MEETING WITHIN THE EUROPEAN COUNCIL, ON THE CONCERNS OF THE IRISH PEOPLE ON THE TREATY OF LISBON
The Heads of State or Government of the 27 Member States of the European Union, whose Governments are signatories of the Treaty of Lisbon,
Taking note of the outcome of the Irish referendum of 12 June 2008 on the Treaty of Lisbon and of the concerns of the Irish people identified by the Taoiseach,
Desiring to address those concerns in conformity with that Treaty,
Having regard to the Conclusions of the European Council of 11-12 December 2008,
Have agreed on the following Decision:
SECTION A
RIGHT TO LIFE, FAMILY AND EDUCATION
Nothing in the Treaty of Lisbon attributing legal status to the Charter of Fundamental Rights of the European Union, or in the provisions of that Treaty in the area of Freedom, Security and Justice affects in any way the scope and applicability of the protection of the right to life in Article 40.3.1, 40.3.2 and 40.3.3, the protection of the family in Article 41 and the protection of the rights in respect of education in Articles 42 and 44.2.4 and 44.2.5 provided by the Constitution of Ireland.
SECTION B
TAXATION
Nothing in the Treaty of Lisbon makes any change of any kind, for any Member State, to the extent or operation of the competence of the European Union in relation to taxation.
SECTION C
SECURITY AND DEFENCE
The Union’s action on the international scene is guided by the principles of democracy, the rule of law, the universality and indivisibility of human rights and fundamental freedoms, respect for human dignity, the principles of equality and solidarity, and respect for the principles of the United Nations Charter and international law.
The Union’s common security and defence policy is an integral part of the common foreign and security policy and provides the Union with an operational capacity to undertake missions outside the Union for peace-keeping, conflict prevention and strengthening international security in accordance with the principles of the United Nations Charter.
It does not prejudice the security and defence policy of each Member State, including Ireland, or the obligations of any Member State.
The Treaty of Lisbon does not affect or prejudice Ireland’s traditional policy of military neutrality.
It will be for Member States – including Ireland, acting in a spirit of solidarity and without prejudice to its traditional policy of military neutrality – to determine the nature of aid or assistance to be provided to a Member State which is the object of a terrorist attack or the victim of armed aggression on its territory.
Any decision to move to a common defence will require a unanimous decision of the European Council. It would be a matter for the Member States, including Ireland, to decide, in accordance with the provisions of the Treaty of Lisbon and with their respective constitutional requirements, whether or not to adopt a common defence.
Nothing in this Section affects or prejudices the position or policy of any other Member State on security and defence.
It is also a matter for each Member State to decide, in accordance with the provisions of the Treaty of Lisbon and any domestic legal requirements, whether to participate in permanent structured cooperation or the European Defence Agency.
The Treaty of Lisbon does not provide for the creation of a European army or for conscription to any military formation.
It does not affect the right of Ireland or any other Member State to determine the nature and volume of its defence and security expenditure and the nature of its defence capabilities.
It will be a matter for Ireland or any other Member State, to decide, in accordance with any domestic legal requirements, whether or not to participate in any military operation.
Es ist schon erstaunlich, welches Geständnis der Europa-Korrespondent der BBC, Mark Mardell, dem ehemaligen tschechischen Ministerpräsidenten Mirek Topolanek über den Vertrag von Lissabon entlockt hat.
„Der Vertrag ist schlecht, und wir sind uns im Klaren darüber.“
Topolaneks christdemokratische Regierung hat in den vergangenen Monaten die EU-Ratspräsidentschaft innegehabt. Während dieser Zeit hat er sein politisches Gewicht dafür eingesetzt, den Vertrag durch den Prager Senat zu bekommen. Der stimmte dem Reformwerk Anfang Mai – zum großen Aufatmen Brüssels – zu.
Was hat Topolanek dazu bewogen, die Ratifizierung eines Vertrags voranzutreiben, den er für nicht gelungen hält?
„Wir haben den Vertrag unter anderem deshalb unterstützt“, sagte er Mark Mardell, „weil wir die Regierungspartei waren und weil wir einem Kompromiss auf Ebene des Europäischen Rates zugestimmt haben. Wenn wir den Lissabon-Vertrag nicht unterzeichnet hätten, hätten wir keine Chance, unsere nationalen Interessen voranzubringen.
Das ist der Hauptgrund gewesen. Es war das kleinere von zwei Übeln.“
Fragt sich bloß, wie gut dieser Handel war. Ob es Tschechien also langfristig mehr nützt, mit einer – nach Topolaneks Ansicht – schlechten EU-Verfassung zu leben als sich dieser Perspektive entgegenzustellen.
Der Präsident der EU-Kommission, José Manuel Barroso, äußert sich im ZEIT-Interview zur Kritik am Reformvertrag, zur Rolle der nationalen Parlamenten und zur Schlagkraft Europas
DIE ZEIT:Herr Barroso, die deutschen Verfassungsrichter in Karlsruhe haben bei einer Anhörung in der vergangenen Woche einige fundamentale Fragen zum Lissabon-Vertrag und zur Architektur der EU gestellt.
Eine Hauptsorge scheint ihnen die Frage zu sein, ob der Machtzuwachs, den die Brüsseler Institutionen durch den Reformvertrag erhalten, durch einen entsprechenden Zuwachs an demokratischer Kontrolle ausbalanciert wird.
Barroso: Lassen Sie mich zunächst einmal klarstellen, dass ich mich nicht in die Entscheidungsfindung des Bundesverfassungsgerichts einmischen möchte. Es handelt sich um einen deutschen Prozess, und die Kommission respektiert die Unabhängigkeit der Mitgliedsstaaten bei der Ratifizierung des Lissabon-Vertrages. Aber ich kann Ihnen natürlich sagen, was ich über die Inhalte des Vertrages denke. Und ich denke zunächst einmal, dass er das demokratische Element der EU enorm stärkt. Erstens dadurch, dass das Europäische Parlament mehr Macht und Kompetenzen erhält. Zweitens dadurch, dass die nationalen Parlamente Prüfungs- und Einspruchsmöglichkeiten bekommen, die sie heute nicht besitzen. Sie können künftig Entscheidungen der Kommission auf ihre Vereinbarkeit mit dem Subsidiaritätsgedanken hin überprüfen lassen. Außerdem werden die Kompetenzen der EU klar geregelt. Das war übrigens immer ein besonderes Anliegen Deutschlands.
Kritiker sagen, dieser Demokratiezuwachs sei nicht ausreichend. Was etwa die “Gelbe Karte” betrifft, die Sie ansprechen, so müssen die nationalen Parlamente innerhalb einer achtwöchigen Frist mindestens ein Viertel ihrer Mitglieder dazu bewegen, einen begründeten Einspruch gegen Vorschläge aus Brüssel einzulegen. Einige Parlamentarier sagen, dies bewerkstelligen zu wollen sei in der Praxis völlig illusorisch.
Zur Grundsatzfrage: Sehen Sie, die EU hat nun mal eine doppelte Legitimität. Sie ist eine Union der Staaten und eine Union der Bürger. Die Bürgerbeteiligung ist in erster Linie durch das Europäische Parlament sichergestellt, das direkt gewählt wird. Zur praktischen Frage: das ist eine Frage der Organisation.
Bleiben wir kurz bei den Kontrollmöglichkeiten für die nationalen Parlamente. Wie steht es mit der Acht-Wochen-Frist? Ist die nicht zu kurz bemessen?
Vergleichen Sie die neue Prüfungs- und Einspruchsmöglichkeit mit der aktuellen Situation. Auch die schärfsten Kritiker müssen doch, vorausgesetzt sie verfügen über ein Minimum intellektueller Ehrlichkeit, eingestehen, dass die Mitspracherechte beträchtlich zunehmen. Wenn die nationalen Parlamente glauben, die Frist sei zu kurz, dann sollten sie offen gesagt vielleicht darüber nachdenken, ihre Abläufe entsprechend anzupassen. Vielleicht gibt es für sie in der Tat noch Möglichkeiten, die Überprüfung des Regierungshandelns zu verbessern. Immerhin gibt es heute schon Länder, in denen die parlamentarische Kontrolle der Regierung bei Europaangelegenheiten sehr, sehr strikt ist – in Dänemark oder den Niederlanden zum Beispiel.
Aber wollen Sie das den Parlamenten tatsächlich empfehlen? Denn angenommen, sie machen ihre Hausaufgaben und lernen, ihre Regierungen bei Brüsseler Räten in Zaum zu halten, wie soll das dann zu einer größeren Effizienz der EU führen?
Da unterstellen Sie, dass die nationalen Parlamente ihre Mitsprache regelmäßig für ein “Nein” nutzen würden. Man kann aber auch gut das Gegenteil annehmen. Die nationalen Parlamente könnten ihre Regierung ja auch anweisen, noch kooperativer zu sein, noch stärker für das europäische Gemeinwohl zu arbeiten. Die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise zum Beispiel zeigt doch in aller Deutlichkeit, dass wir europäische Antworten brauchen. Also: Die Parlamente kommen in eine Situation, in der sie von der Europäischen Union entschlosseneres Handeln verlangen können. Fragen Sie doch die Leute! Die meisten wollen, dass die EU schlagkräftiger auftritt, gerade nach außen hin.
Kommen wir zur Perspektive der Beschwerdeführer in Karlsruhe zurück, die sich um die demokratische Kontrolle der EU sorgen. Sie weisen darauf hin, dass selbst wenn es gelänge, gegen Brüsseler Rechtsakte Einspruch einzulegen, letztendlich der Europäische Gerichtshof (EuGH) über die Angelegenheit befindet. Ist es nicht tatsächlich so, dass der EuGH in den meisten Fällen zugunsten der Kommission, zugunsten tieferer Integration urteilt?
Das ist eine gute Frage für Kommentatoren und Geschichtsschreiber. Zunächst einmal: Ich respektiere das Gericht, unabhängig von seinen Entscheidungen. Denn manchmal gewinnt, manchmal verliert die Kommission ihre Fälle. Wenn wir öfter gewinnen als verlieren, macht mich das natürlich stolz, denn es zeigt, dass wir offenbar kompetent sind. Aber: Das Gericht ist vollständig unabhängig von der Kommission. Was freilich stimmt ist, dass der EuGH in der Geschichte der EU traditionell eher zugunsten der europäischen Integration geurteilt hat. Weil die Verträge die europäische Integration auf- und ausgebaut haben. Weil er die Rechte der Bürger durchsetzt.
Werfen wir einen Blick auf die Rechtsgrundlagen, auf die der EuGH seine Urteile stützt. Nehmen wir die Europäische Grundrechtecharta. Die Kritiker in Karlsruhe sagen, dass deren Schutzniveau hinter dem des deutschen Grundgesetzes zurückbleibt.
Die Europäische Grundrechtecharta ist in der Tat eine der wichtigsten Errungenschaften der Union und des Lissabon-Vertrages. Denn Grundrechte gehen jeder staatlicher Gewalt vor, sei sie national oder supranational. Falls die deutsche Verfassung darüber hinaus reichende Bürgerrechtsgarantien enthält, kann ich Ihnen versichern, dass der Lissabon-Vertrag diese deutschen Garantien in keiner Weise reduziert.
Aber gemäß dem Lissabon-Vertrag geht das Unionrecht dem nationalen Recht vor.
Was die Grundrechte angeht, so lassen diese sich niemals restriktiv auslegen. Die Rechte, welche das Grundgesetz den deutschen Bürger gewährt, werden nicht reduziert. Im Gegenteil: Die Rechtssprechung des EuGH hat bis jetzt die Bürgerrechte immer so ausgelegt, dass ihr Schutzbereich vergrößert wurde.
Aber für EU-Rechtsakte ist künftig nicht mehr das Bundesverfassungsgericht die letztmögliche Instanz, sondern der EuGH.
Die Europäische Grundrechtecharta, die mit dem Vertrag von Lissabon rechtskräftig wird, erweitert die Bürgerrechte, aber schränkt sie nicht ein.
Darf ich Ihnen ein Beispiel nennen, wo dies nicht der Fall zu sein scheint, nämlich bei der Pressefreiheit? In Artikel 11 Absatz 2 der EU-Grundrechtecharta heißt es: „Die Freiheit und Pluralität der Medien werden geachtet.“ Zum Vergleich Artikel 5 des Grundgesetzes: “Die Pressefreiheit wird gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt. Ist das Schutzniveau der deutschen Formulierung nicht deutlich höher?
Sehen Sie, das mag eine juristisch interessante Debatte sein. Man kann sich darüber streiten, welche die bessere Formulierung ist. Aber die ratio legis, der Zweck der Vorschrift, ist doch offensichtlich. Also, der Lissabon-Vertrag leistet allen erforderlichen Schutz.
Andererseits enthält der Lissabon-Vertrag Versprechen, die bei ehrlicher Betrachtung kein Staat halten kann. In Artikel 15 der Grundrechtecharta heißt es zum Beispiel. „Jede Person hat das Recht, zu arbeiten und einen fei gewählten (…) Beruf auszuüben.“ So etwas verspricht das deutsche Grundgesetz aus guten Gründen nicht. Glauben Sie, es trägt zur Glaubwürdigkeit des Lissabon-Vertrags bei, wenn er den Menschen einen Arbeitsplatzanspruch vorgaukelt?
Natürlich gibt es über diese Frage unterschiedlichen Meinungen. Ich bin selbst Verfassungsrechtler, und ich kenne diese Debatte, auch aus Portugal. Natürlich ist dieser Artikel eine, wie man sagt, programmatische Norm. Das heißt natürlich, dass wir diese Rechte nicht komplett garantieren können, wohl aber optimieren wollen. Aber wissen Sie, ich will jetzt nicht zu tief in diese technische Debatte einsteigen. Die entscheidende politische Frage lautet doch, ob die Europäische Grundrechtecharta die Rechte der Bürger erweitert oder einschränkt. Und da bleibe ich dabei: Sie erweitert sie. Übrigens ist diese Charta im Konvent unter dem Vorsitz von Roman Herzog entstanden. Wenn es ein Land gab, das das intellektuelle, rechtliche und politische Konzept des Lissabon-Vertrages maßgeblich mitgeformt hat, dann war das Deutschland.
Kommen wir zum zweiten Argument, warum die Demokratie auf EU-Ebene gestärkt wird. Das Europäische Parlament (EP) erhält wesentlich mehr Mitbestimmungsrechte.
Richtig.
Bloß, haben wir es bei diesem Parlament nicht mit dem strukturellen Problem der europäischen Bündelparteien zu tun? Wer zum Beispiel einen deutschen liberalen Abgeordneten wählt, weiß nicht, ob dieser auch klassisch deutsche liberale Positionen im EP vertreten wird – schließlich muss dieser Abgeordnete seine Position in Einklang bringen mit der Haltung und den Interessen der gesamteuropäischen Liberalenfraktion. Das hat zum Beispiel dazu geführt, dass ein Großteil der deutschen liberalen Abgeordneten der Einführung des biometrischen Passes zugestimmt haben. Dies hätten sie sich im Bundestag nie erlauben können.
Dieses Problem ist ein generelles Demokratieproblem. Es passiert immer wieder, dass sich gewählte Vertreter nicht exakt an das halten, was Sie Ihnen versprochen haben. In diesem Fall können Sie sie bei der nächsten Wahl abwählen.
Ich kann aber nicht die Abgeordneten aus Griechenland, Spanien oder Italien abwählen.
Nein, aber Ihre Abgeordneten.
Aber wenn die doch in der Fraktion überstimmt werden von Abgeordneten, auf deren Wahl ich keinen Einfluss habe…
…aber die Mitglieder des EP haben doch ein freies Mandat. Was Sie beschreiben, ist doch kein spezifisches Problem Europas. Die Frage stellt sich innerstaatlich genau so. Außerdem, Deutschland ist nicht allein der EU, deswegen müssen eben auch die Stimmen die Stimmen der anderen berücksichtigt werden. Aber genau das ist doch das Großartige an dieser Union.
Andererseits, Subsidiarität bedeutet auch, dass je tiefer Gesetze in die Rechte der Bürger eingreifen, desto klarer die Bürger die Verantwortlichen für diese Eingriffe erkennen können müssen.
Hier greift die klarere Kompetenzabgrenzung ein. Außerdem muss sich die Gesetzgebung aus Brüssel nicht nur an der Grundrechtecharta messen lassen, sondern auch an der Europäischen Menschenrechtskonvention. Der Bürger kann sich also nicht nur an seine nationalen Gerichte halten, sondern auch an die Gerichtshöfe in Luxemburg und Straßburg.
Aber wie steht es um die öffentliche Diskussion von Bürgerrechtsfragen? In Deutschland sind um individuelle Freiheiten, Datenschutz und Terrorbekämpfung traditionell sehr streitige Debatten geführt worden. Wenn diese Themen aber künftig europapolitisch entschieden werden, wo kann der Bürger dann diesen Debatten folgen? Eine „europäische Öffentlichkeit“ gibt es schlicht nicht.
Ich glaube, es ist schon ein Fortschritt, dass wir – abgesehen von den Diskursen innerhalb der Nationen – Zugang und Austausch mit anderen Öffentlichkeiten haben. Natürlich will ich nicht so tun als gebe es einen europäischen Demos im Sinne der klassischen Staatslehre. Aber wie ist die Lage heute im Vergleich von vor zwanzig Jahren? Es gibt doch mittlerweile öffentliche europäische Debatten. Die Frage zum Beispiel, ob eine junge Frau in Italien Sterbehilfe erhalten durfte, sorgte überall in Europa für Schlagzeilen. Natürlich kenne ich die Schwierigkeiten einer supranationalen Aufmerksamkeit, aber die Wahrheit ist doch, dass diese Sphäre gerade entsteht.
Sie glauben also, dass Entscheidungen aus Brüssel die Bürger in Zukunft weniger überraschen?
Entscheidungen aus Brüssel, wie Sie sagen, werden in den meisten Fällen von Vertretern aus den Nationalstaaten getroffen. Die Kommission macht Vorschläge, aber die Entscheidungen fallen im Rat und im Parlament. Wenn es also manchmal ein Demokratiedefizit gibt, dann muss man sich zuerst fragen, warum sich die nationale Ebene nicht darum kümmert. Man muss schon auseinander halten, welche Vorschläge und Ideen in Brüssel entstehen, und welche Entscheidungen letztlich die Mitgliedsstaaten treffen.
Der CSU-Europapolitiker Manfred Weber widerspricht seinem Parteikollegen und EU-Kritiker Peter Gauweiler – aber auch er fordert mehr Legitimität für europäische Entscheidungen
Am 10. und 11. Februar verhandelt das Bundesverfassungsgericht über die Vereinbarkeit des EU-Lissabon-Vertrag es mit dem Grundgesetz. Einer der Beschwerdeführer ist der CSU-Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler. Er macht geltend, mit dem Reformvertrag erhalte die Europäische Union eine Staatlichkeit, die ihr wegen ihrer tiefgreifenden Demokratiedefizite nicht zustehe.
Die Tatsache, dass die Richter in Karlsruhe zwei Tage für die mündliche Verhandlung anberaumt haben, spricht dafür, dass sie erheblichen Fragebedarf sehen.
Tatsächlich würden mit dem Lissabon-Vertrag solche Politikbereiche einer supranationalen Gesetzgebungsinstanz unterworfen, die traditionell zu den vornehmsten Souveränitätsreserven der Nationalstaaten gehören, etwa die Justiz- und Innenpolitik.
Aber genau das muss auch passieren, kontert jetzt Gauweilers Parteikollege Manfred Weber. Die staatsrechtlichen Diskussionen, die manche Gemüter in Karlsruhe bewegten, sagt er, seien von gestern.
Weber, 36, ist der innenpolitische Sprecher der konservativen EVP-Fraktion im Europäischen Parlament. Der Ausschuss des Brüsseler Plenums, vor dessen Türen ich ihn treffe, diskutiert gerade über die Modalitäten der In- und Ausreise in den Schengenraum.
Wie, frage ich Manfred Weber, ist es seiner Ansicht nach mit dem Demokratieprinzip zu vereinbaren, dass Brüssel künftig Gesetze von bürgerrechtlicher Bedeutung erlassen können soll, die unter Umständen niemals vom Bundestag noch von der Bundesregierung gewollt waren?
Also, da muss man jetzt einen Schritt zurückgehen, antwortet Weber. Der Bundestag hat den Lissabon-Vertrag schließlich ratifiziert. Damit hat er sich entschieden, bestimmte Entscheidungen nach Brüssel abzugeben. Und das ist auch richtig so. Viele Herausforderungen, die wir heute haben, sind – gerade in der Verbrechens- und Terrorbekämpfung – nicht mehr auf nationaler Ebene lösbar.
Aber führt diese Verlagerung nicht dazu, dass immer mehr wichtige Angelegenheiten von der deutschen Öffentlichkeit gar nicht mehr diskutiert werden? Vom biometrischen Pass zum Beispiel, der als Richtlinie in Brüssel verabschiedet wurde, fühlte sich sowohl die Bevölkerung wie auch der Bundestag überrumpelt.
Das ist leider Realität. Zugestimmt hat jedoch die Bundesregierung. Deren Verhalten im Ministerrat muss unbedingt in der deutschen Öffentlichkeit und im Bundestag diskutiert werden. Aber es gibt auch positive Beispiele für europäische Initiativen. Wie zum Beispiel wollen Sie grenzüberschreitende Kinderpornographie bekämpfen? Wie wollen Sie den Datenmissbrauch bei Google beenden, wo ohne Ihr Wissen Datenprofile von Ihnen erstellt werden? Anderes Beispiel: Wie sollen Verbrecher bei offenen Grenzen wirksam verfolgt werden, wenn wir nicht europäisch handeln und mit anderen Polizei-Behörden Daten austauschen? Außerdem: Der Bundestag könnte jederzeit Debatten über europäische Themen führen. Dass das bisher viel zu selten passiert, liegt nicht in der Verantwortung von Brüsseler Politikern.
Weber ist ein Pragmatiker. Was europäisch ist, muss europäisch gestaltet werden, lautet seine Leitformel während unseres Gespräches. Und seine Hauptsorge: Wie lösen wir Probleme? Verbrechensbekämpfung, Nahrungsmittelsicherheit, Konjunkturprogramme – das seien doch alles supranationale, keine nationalen Angelegenheiten.
Webers Argumente leuchten ein. Aber sie werfen auch eine größere Frage auf. Nämlich: Entfernt sich die Politik mit diesem Steigflug in die internationale Sphäre nicht in einer Weise vom Bürger, die dieser als Entmachtung empfindet? Wen, mit anderen Worten, kann der Wähler im multilateralen Institutionengefüge von Brüssel denn für bestimmte Entscheidungen verantwortlich machen? Wen kann er mit seiner Stimme belohnen, wen bestrafen?
Sicher, sagt Weber, das Problem ist: Wir haben in Brüssel kaum Gesichter. Und Politik lebt von Gesichtern. Wenn wir die europäischen Themen transparent machen wollen, müssen wir sie vor allem in Deutschland diskutieren, in Berlin. Und das Europäische Parlament braucht mehr Gewicht.
Aber was nützt eine Debatte im Bundestag letztlich dem Bürger, wenn die deutsche Position im Brüsseler Ratsgebäude von anderen Regierungen überstimmt werden kann?
Aber das ist doch im deutschen Föderalismus auch so. Der bayerische Wähler muss doch auch damit leben, dass sein Wunsch im Bundesrat von NRW oder anderen Ländern überstimmt wird. Nichts anderes passiert auf europäischer Ebene. Der eigentliche Kompetenz-Verlierer der europäischen Integration ist der Bund.
Aber wie steht es um die Legitimität europäischer Entscheidungen? In Deutschland entscheiden immerhin noch von Deutschen gewählte Volksvertreter über Gesetze für die Wähler. In der EU entscheiden Abgeordnete aus Malta und Bulgarien und Vertreter von 26 fremden Regierungen über Gesetze für Deutschland. Im Falle von Gesetzen, die in Bürgerrechte eingreifen, ist das eine deutliche Schwächung ihrer Legitimation.
Ja. Deswegen bin ich auch der Meinung, dass wir eine neue Legitimität für die EU brauchen. Die Distanz zwischen der Elite und den Bürgern wächst, und zwar auch deshalb, weil die Elite den Bürgern das europäische Projekt nicht gut genug erklärt.
Wie ließe sich das ändern?
Ich glaube, Volksabstimmungen zu EU-Themen, wie sie unser Parteivorsitzender Horst Seehofer in Wildbad Kreuth vorgeschlagen hat, sind beispielsweise eine gute Idee. Denn sie würden bei den Eliten und Politikern den Zwang auslösen, sich gegenüber der Öffentlichkeit zu rechtfertigen.
Immer mehr Gegner des EU-Reformwerks formieren sich in Europa. In Deutschland streitet der CSU-Mann Peter Gauweiler gegen den Vertrag. Er rechnet seiner Klage vorm Bundesverfassungsgericht gute Chancen aus
Die Reiter gegen den Lissabon-Vertrag sammeln ihre Truppen. In Brüssel eröffnete kurz vor Weihnachten die irische Gruppe „Libertas“ ihr Europa-Büro. Von hier aus will der Multimillionär Declan Ganley Fäden spinnen, um bei den Europawahlen am 7. Juni mit einer eigenen Partei anzutreten. Das einzige Ziel der neuen Formation ist es, das Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages zu verhindern.
In Irland hatte Ganley damit bereits Erfolg. Im vergangenen Juni lehnte eine knappe Mehrheit der Iren – auch infolge von Ganleys finanzkräftiger Kampagne – den Reformvertrag für die EU ab.
In Großbritannien versprach der Tory-Vorsitzende David Cameron unterdessen, den Lissabon-Vertrag einer Volksbefragung zu unterwerfen, sollte er an die Macht kommen. In der tschechischen Republik gründete ein Berater von Präsident Vaclac Klaus, der 32 Jahre alte Petr Mach, soeben die „Partei freier Bürger“, die sich ebenfalls zum Ziel gesetzt hat, das Aufwachsen der Europäischen Union zu einem Superstaat zu verhindern.
Und in Deutschland? Dort wagt es bisher nur ein einziger prominenter Politiker, gegen den Lissabon-Vertrag zu streiten. Peter Gauweiler, CSU-Bundestagsabgeordneter, hat gegen den Vertrag Verfassungsbeschwerde eingelegt. Seiner Ansicht nach würde bei einem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages die Grundrechtsbindung der deutschen Staatsgewalt ausgehebelt.
Vor dem Verband der Deutscher Zeitschriftenverleger hielt der Beschwerdeführer Gauweiler kürzlich einen flammenden Vortrag über den seiner Ansicht nach falschen Integrationskurs Europas.
Darin sagte er unter anderem:
„Der Vertrag von Lissabon steht gegen das Demokratiegebot für alle deutsche Staatsgewalt, weil durch diesen Vertrag die Gesetzgebungskompetenz der deutschen Volksvertretung ausgehöhlt wird.“
Wie auch schon in diesem Blog geschehen, warnt Gauweiler davor, dass durch den Grundsatz der Doppelten Mehrheit im Europäischen Rat künftig einzelne Regierungen von anderen überstimmt werden können:
„Dabei kann es in Zukunft vorkommen, dass das deutsche Volk Rechtsakten unterworfen wird, denen die Volksvertretung vorher nicht nur nicht zugestimmt hat, sondern die gegen den erklärten Willen des Bundestags beschlossen worden sind.“
Als Beispiel führt Gauweiler in seiner Klage das – mittlerweile tatsächlich erlassene – Glühbirnen-Verbot durch die EU an:
„Der Bundesumweltminister scheitert im Bundestag mit seinem Wunsch, Glühbirnen in Deutschland als umweltschädlich verbieten zu lassen. Als nächstes bringt er diese Initiative im europäischen Rat ein, wo sie von seinen Ministerkollegen unterstützt und beschlossen und von der Kommission als Richtlinie erlassen wird. Dies führt nunmehr dazu, dass die deutsche Staatsgewalt eine solche Regelung vollziehen muss, obwohl sie zuvor vom Bundestag ausdrücklich abgelehnt worden war.“
Aber trägt daran nicht der Bundestag eine Mitschuld? Warum, möchte ich von Gauweiler wissen, haben die deutschen Volksvertreter beispielsweise ihrem Umweltminister nicht vor seiner Reise nach Brüssel Zügel angelegt? Sie könnten den Regierungsvertretern doch Auflagen und Begrenzungen mit auf den Weg geben. An die müssten die sich bei den Verhandlungen mit den 26 europäischen Kollegen halten.
Gauweiler gibt darauf die Antwort, die ich schon von anderen Bundestagsabgeordneten gehört habe:
„Allein die Masse an EU-Dokumenten macht es fast unmöglich, sich vernünftig mit dem Material, das aus Brüssel kommt, auseinanderzusetzen. Oft ist es auch noch fremdsprachig, so dass die Neigung, sich damit zu beschäftigen, bei vielen Abgeordneten, sagen wir mal, gering ist. Außerdem gibt es Beißhemmungen bei EU-Themen. Man hat den Eindruck, es mit einer Instanz zu tun zu haben, die wegen ihrer Komplexität beinahe unangreifbar ist.“
Galt diese Beißhemmung vielleicht auch für den Lissabon-Vertrag selbst?
„Natürlich. Ich kann mich erinnern, dass ich den konsolidierten Text des Vertrages erst fünf Tage vor der Abstimmung im Bundestag bekommen habe. Sicher, im Europa-Ausschuss war eine Anhörung durchgeführt worden. Aber die war einseitig besetzt mit kritiklosen Anhängern des EU-Apparates. Das war eine völlig einstimmige Veranstaltung. Beispielsweise durfte nicht einmal der ehemalige Bundespräsident, Präsident der Verfassungsgerichts und führende Grundgesetz-Kommentator Roman Herzog, der vor der Aufweichung deutscher Grundrechtestandards warnte, gehört werden. Das galt auch für andere kritische Verfassungsrechtler.“
Wie erklären Sie sich, dass es über den Lissabon-Vertrag in Deutschland insgesamt keine öffentliche Debatte gab? Bei jedem anderen Bürgerrechtsthema sind Parlamentarier und Medien extrem sensibel und wachsam. Über einen Vertrag, der in struktureller Weise in die Reichweite der Bürgerrechte eingreift, gab es dagegen keine Diskussion. Warum nicht?
„Nun ja, zunächst mal wurde das Parlament ja vor vollendete Tatsachen gestellt…“
…über den Lissabon-Vertrag, beziehungsweise die Europäische Verfassung, ist jahrelang diskutiert worden.
„Wo denn? An der Diskussion beteiligt waren europaweit vielleicht 10.000 Berufspolitiker und Experten. Eine Bürgerdiskussion gab es gerade nicht. Und dann kam hinzu, dass in der Schlussphase der Vertragsverhandlungen nicht über Juristisches, sondern nur über Politisches diskutiert wurde. Welche Opt-outs bekommen die Briten? Kann Angela Merkel den polnischen Kaczynski-Brüdern doch nur Zugeständnisse abringen? – Mit den eigentlichen Regelungsinhalten hat sich doch niemand mehr beschäftigt.“
Sie sagen, der Lissabon-Vertrag mache Europa nicht mehr, sondern weniger demokratisch. Warum?
„Der Lissabon-Vertrag installiert ein System über den Kontinent, das mit den Prinzipien der Gewaltenteilung nicht vereinbar ist. Selbst ‚ausbrechende‘ Rechtsakte der EU-Exekutive gegen jedermann werden nach Inkrafttreten des Vertrages nicht mehr durch das Bundesverfassungsgericht überprüft werden können…“
… aber schon heute überlasst das Bundesverfassungsgericht dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) die Prüfung von EU-Recht – weil Karlsruhe davon ausgeht, dass die EU einen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet wie die Bundesrepublik Deutschland.
„Ja. Aber bisher konnte das Verfassungsgericht Entscheidungen immer noch wieder an sich ziehen, wenn es bestimmte rechtsstaatliche Standards nicht mehr gewährleistet sah. Diese ‚Reservefunktion‘ wird das Bundesverfassungsgericht unter dem Lissabon-Vertrag verlieren. Der EuGH, der nicht dem Grundgesetz verpflichtet ist, wird zur Letztinstanz auch für die Bundesrepublik Deutschland. Daraus ergibt sich, dass das Grundgesetz und seine Grundrechte kein Maßstab mehr für die Überprüfung von EU-Recht sein werden. Dieser Vorrang besteht auch für die in Lissabon vereinbarte ‚dritte Säule‘, also die Bereiche, die in der Bundesrepublik Deutschland im StGB, im der StPO, in der ZPO und die Polizeigesetzen der Länder geregelt sind. – Im 60. Gründungsjahr des Grundgesetzes wird die Schutzfunktion des Grundgesetzes für unsere Bevölkerung so außer Kraft gesetzt. Tatsächlich müsste das Bundesverfassungsgericht auch in Zukunft zuständig bleiben, einen ausreichenden Grundrechtsschutz auch gegenüber der EU zu gewährleisten.“
Ein Einwand gegen diese Lesart lautet, dass die nationalen Länderparlamente gegen EU-Rechtsakte, die gegen die Subsidiarität verstoßen, klagen können. Voraussetzung ist, dass sie dazu innerhalb von acht Wochen ein Viertel ihrer Mitglieder mobilisieren.
„Angesichts der parlamentarischen Abläufe ist die Annahme, dass die Frist eingehalten werden kann, völlig illusorisch. Außerdem, wer entscheidet über eine solche Parlamentsklage? Nicht das Bundesverfassungsgericht, sondern auch wieder der EuGH.“
Mittlerweile macht sich selbst bei manchem Berufseuropäer in Brüssel ein mulmiges Gefühl über einige der zitierten Bestimmungen des Lissabon-Vertrages breit. Warum gibt es trotzdem noch immer keine kritische öffentliche Debatte?
„Erstens, weil Wissen etwas Belastendes sein kann. Und nicht jeder will sich mit jedem Wissen belasten. Zweitens hat natürlich jeder, der das Thema anspricht, Angst, Beifall von der falschen Seite zu bekommen. Deshalb hat auch die demokratische Linke den Verfassungsvertrag lange schweigend hingenommen.
Es war keine wirklich rationale Diskussion möglich, weil die Debatte sofort in ein Freund-Feind-Schema über die europäische Idee als solche abglitt. Jetzt erst erkennen zum Beispiel die Gewerkschaften, dass der Lissabon-Vertrag und die Rechtsprechung des EuGH ein Wirtschafts- und Menschenbild befördern können, das sich nicht mit den Wertvorstellungen unseres Grundgesetzes deckt, jedenfalls nicht in allen Punkten. Ich freue mich, dass mich immer mehr wichtige Verbände, darunter auch DGB-Gerwerkschaften, einladen, um zu diesem Thema zu sprechen. Hinter vorgehaltener Hand sagten mir schon vorher viele: Gut, dass du die Sache nach Karlsruhe gebracht hast.“
Der Berichterstatter für Ihre Verfassungsbeschwerde dort ist Udo di Fabio, ein als konservativ und europakritisch geltender Richter. Bekommen Sie schon Signale vom Gericht?
„Was heißt Signale? Immerhin hat das Gericht den Bundespräsidenten angehalten, die Ratifizierung für den Lissabon-Vertrag auszusetzen, bis eine Entscheidung in der Sache gefallen.“
Das heißt?
„Namhafte Verfassungsrechtler stützen mich in der Überzeugung, dass wir gute Chancen haben.“
Mit krampfhafter Routine haben Brüssels Maschinisten in den vergangenen Wochen so getan, als hätte an diesem Freitag, dem 13. keine Schicksalfrage für Europa angestanden. Das Referendum, in dem die Iren nun tatsächlich den Lissabon-Vertrag (ehemals: „Europäische Verfassung“) abgelehnt haben, war schlicht kein Thema in offiziellen Runden. Ein Grund dafür war die Angst, dass sich eine Diskussion über einen Plan B entspinnen könnte. Dass es den womöglich geben könnte, wollte man den Iren natürlich nicht auf die Nase binden.
Ja, aber, gibt es sie denn nun, eine Alternative zum Lissabon-Vertrag?
Selbstverständlich. Europa wird nicht untergehen, nur weil die Iren heute „Nein“ gesagt haben. Es ist nicht einmal sicher, ob die Wirkung des „Nein“ in der Außenwelt der EU nicht verheerender ausfällt als der Schaden,den es im Inneren auslösen kann.
An Europa hat der Westen lange große Hoffnungen geknüpft. Nach Amerikas moralischen Entgleisungen in Guantánamo und Abu Ghraib und dem unmandatierten Irakkrieg glaubten viele, der alte Venus-Kontinent wäre mit seinem multilateralen Diplomatie- und Verflechtungsmodell geeigneter, die Probleme der Welt zu lösen. Geübt im Versöhnen, angelegt auf das Verständnis anderer Völker und Traditionen, schien die Kooperationspolitik Europas vielen als bestmögliche Managementmethode der Weltprobleme, vom Klimawandel bis zum Atomstreit mit Iran.
Welches Signal sendet das „Nein“ zu Lissabon jetzt in die Welt? Womöglich, dass die Europäer es leider immer noch am besten verstehen, sich in ihren eigenen Ansprüchen an Harmonisierung und Regelschaffung zu verheddern. Dass sie es nicht einmal hinbekommen, ihren eigenen Club anständig zu regieren. Wie, bitte, soll ein solch desperater Verein als Ordnungskraft in der Welt wirken? In Washington blicken heute schon viele Beobachter (auch Demokraten) mit befremdetem Kopfschütteln auf das seltsame, überkomplexe Gebilde EU.
Und wie schlimm ist es nun aus Brüsseler Sicht um Europa bestellt?
„Das ‚Nein‘ in Irland zum Europa-Vertrag von Lissabon erzeugt eine politische Krise in der Europäischen Union mit Folgewirkungen, die im Moment niemand voraussagen kann“, sagt Jo Leinen (SPD), Vorsitzender des Verfassungsausschusses im Europäischen Parlament.
Tatsächlich?
Zunächst einmal zum Technischen. Europa lässt sich auch ohne Lissabon-Vertrag weiter regieren. Die Befürchtung, mit der Erweiterung um 12 neue Mitglieder auf nunmehr 27 Staaten werde sich die EU selbst lähmen, wenn sie sich nicht effizientere Regeln gäbe, hat sich bislang nicht bestätigt.
Vier Jahre nach der großen Osterweiterungsrunde von 2004 zeigt sich: Europa funktioniert genauso gut oder schlecht wie zuvor. Und auch für die Zukunft hätte Lissabon vermutlich wenig an einer Grundregel der EU geändert. Sie lautet, dass Konsens das beständige Ziel bleibt. Die Doppelte Mehrheit, die wohl radikalste Neuerung von Lissabon, hätte an der ständigen Harmonie-Suche im Rat, da sind sich Regierungsvertreter einig, nichts geändert. Sie hätte die Entscheidungsfindung vermutlich beschleunigt, das immerhin.
Sicher, nach dem irischen Nein wird es eine Reihe von Reformen nicht geben, die wohl selbst die Iren begrüßt hätten. Die Verkleinerung der Kommission, zum Beispiel. Oder mehr Rechte für das EU-Parlament. Oder die Möglichkeit von Einzelstaaten, Verstöße gegen das Subsidiaritätsprinzip zu rügen.
Daneben aber enthielt der Lissabon-Vertrag eine Reihe von Neuregelungen, die unter Demokratiegesichtspunkten hochgradig zweifelhaft waren und denen eine erneute Diskussion gut tun könnte (siehe unsere Serie zum Lissabon-Vertrag in den vorherigen Blog-Einträgen). Jedenfalls muss sich Europa nach diesem schwarzen Freitag entscheiden, welches der folgenden Übel es wählen möchte.
Europa könnte die Diskussion um eine neue Bedienungsanleitung vorläufig beenden und auf Grundlage des Nizza-Vertrages so weitermachen wie bisher. Das hieße, sich langsamer zu integrieren und womöglich eine Denkpause darüber einzulegen, wohin es eigentlich steuern will.
Europa könnte eine neue Regierungskonferenz einberufen, um den Lissabon-Vertrag noch einmal zu überarbeiten. Das hieße, noch ein paar Jahre eine Funktionsdebatte zu führen, noch einmal alle Mitgliedsstaaten zur Ratifizierung zu bitten und die Bürger mit technischer Selbstbezogenheit zu frustrieren, statt Politik zu machen. Also keine ernsthafte Option.
Europa könnte erst einmal versuchen zu definieren, was es eigentlich werden möchte. Ein möglichst föderales Gebilde samt weitreichenden „Harmonisierungen“ der Rechts- und Sozialordnungen? Oder vielleicht doch lieber eine Freihandelszone mit hinreichend gemeinsamen Binnenmarktregeln und einer strategischen Außenpolitik in Feldern, die wirklich alle 27 Mitgliedsländer betreffen müssen, zum Beispiel in der Integrations- und Energiepolitik?
Ein Kernidee des Reformvertrags (wie schon der „EU-Verfassung“) war es, eine auf 27 Mitglieder erweiterte Union handlungsfähig zu erhalten. Schließlich war vorauszusehen, dass Entscheidungen in einer solch unübersichtlichen Interessengemeinschaft nicht mehr derart konsensual getroffen werden könnten wie in einer EU der sechs, zwölf oder fünfzehn Mitglieder.
Die so genannte „Doppelte Mehrheit“ im Rat (also der Versammlung der Regierungschefs) soll ab 2014 sicherstellen, dass künftig auch im Falle von Meinungsverschiedenheiten wichtige Entscheidungen getroffen werden können. Doppelte Mehrheit heißt: 55 Prozent der Staaten, die zugleich 65 Prozent der Bevölkerung der EU stellen, müssen zustimmen. Das doppelte Mehrheitsprinzip tritt aufgrund eines entsprechenden polnischen Sonderwunsches allerdings erst am 1. November 2014 in Kraft, möglicherweise auch erst – sollten sich die Staatschefs auf eine Fortgeltung der alten Regeln verständigen – am 31. März 2017.
In Kraft bleibt auch die so genannte Ionina-Klausel. Nach ihr kann jeder Mitgliedsstaat gegen eine Mehrheitsentscheidung ein Veto einlegen. Dies hat allerdings nur aufschiebende Wirkung. Die Angelegenheit muss noch einmal neu verhandelt werden – und wird anschließend notfalls auch gegen den Widerstand der Veto-Nation verabschiedet.
Im Grundsatz ist das Doppelte-Mehrheit-Verfahren ein Zuwachs an Effektivität und an supranationaler Demokratie. Dieser wird allerdings mit einem Geltungsschwund nationaler Demokratie erkauft. Staaten sollen innerhalb des EU-Verbundes, kurz gesagt, künftig wie Bürger behandelt werden. Damit schwinden zugleich die Einflussmöglichkeiten von Staatsbürgern auf die Politik insgesamt.
Denn Mehrheitsentscheidungen im Rat bedeuten eben auch, dass fremde Regierungen Rechtsakte auch gegen den erklärten Willen von nationalen Parlamenten beschließen können. Zählt etwa Deutschland zur unterlegenen Minderheit, muss es Entscheidungen umsetzen, die unter Umständen weder das Volk noch die Volksvertreter noch die Regierung gewollt haben.
Zwar können vier Staaten zusammen eine Sperrminorität bilden und Beschlüsse des Rates blockieren. Doch dies könnte vor allem bedeuten, dass die drei großen EU-Staaten Deutschland, Frankreich und England es alleine nicht mehr schaffen, Entwicklungen aufzuhalten. Eine solche Machtverschiebung vom Souverän auf eine supranationale Staatenkammer dürfte historisch einzigartig sein.
Außerdem gibt es noch eine inhaltliche Qualitätsänderung. Bisher regelt das mit qualifizierter Mehrheit zustande gekommene Gemeinschaftsrecht vor allem Leistungen, also Agrarbeihilfen und Struktursubventionen.
Nun aber werden auch Rechtseingriffe in klassische Souveränitätsbereiche (Justiz/Innen) durch europäische Mehrheitsentscheidungen möglich. Das ist ein fundamentaler Unterschied.
Im Gegenzug bekommt das Europaparlament deutlich mehr Rechte. Es kann künftig in 85 (früher 45) Politikbereichen mitentscheiden (früher wurde es hier nur angehört), unter anderem im wichtigen Gebiet der Justiz- und Innenpolitik. In 112 Bereichen kann der Rat allerdings weiterhin ohne das Parlament entscheiden.
Eine weitere Möglichkeit für die Mitgliedsstaaten, „Mehrheitsdiktate“ aus Brüssel aufzuhalten, ist künftig die so genannte Subsidiaritätsklage. Subsidiarität bedeutet soviel wie „Vorrecht der kleineren Gemeinschaft“. Die grundlegende Idee stammt von dem Jesuit und Gesellschaftswissenschaftler Oswald von Nell-Breuning. Subsidiär heißt eigentlich „hilfsweise“. Nur dort, so will es das gleichnamige Prinzip, wo die kleinere Gemeinschaft überfordert ist und ihre Mittel und Regelungsmacht nicht ausreicht, nur dort soll die nächsthöhere Instanz subsidiär, also hilfsweisem eingreifen. Was von den betroffenen Menschen allerdings selbst beschlossen und umgesetzt werden kann, muss auch von ihnen selbst beschlossen und umgesetzt werden. Alles andere würde die friedensstiftende Wirkung der Demokratie gefährden.
Wenn nun genügend nationales Parlament glaubt, dass die Kommission, der Rat oder das Europaparlament mit einem ihrer Gesetzgebungsvorhaben gegen das Subsidiaritätsprinzip verstößt, können sie Brüssel die rote Karte zeigen. Das Subsidiaritätsprinzip ist eine Festlegung aus dem Maastricht-Vertrag. Es besagt, dass die EU nur das regeln soll, was tatsächlich am besten europaweit geregelt muss. Entscheidungen unterhalb dieser Schwelle sollen die Mitgliedsstaaten selber treffen.
In der Praxis nimmt kaum ein Brüsseler Beamter das Subsidiaritätprinzip mehr ernst. „Darüber lachen wir doch nur noch“, sagt eine deutsche Mitarbeiterin in der EU-Kommission.
Der Lissabon-Vertrag räumt den nationalen Parlamenten nun erstmals eine Veto-Möglichkeit ein. Allerdings ist sie derart begrenzt, dass sie in der Praxis kaum geeignet sein dürfte, Kompetenzanmaßungen durch die EU-Organe zu verhindern.
Mindestens ein Drittel aller Volksvertretungen muss innerhalb einer achtwöchigen Frist eine begründete Stellungnahme nach Brüssel schicken, samt einer Begründung, warum ein Vorhaben das Subsidiaritätsprinzip verletzt (bei Gesetzesvorhaben in der Justiz- und Innenpolitik genügt ein Viertel der Parlamente). Diese Frist dürfte schon die üblichen parlamentarischen Abläufe eines Mitgliedslandes sprengen. Dass sich neun Parlamente innerhalb dieser Zeit zu einer Beschwerde beschließen und formieren, erscheint so wahrscheinlich wie, sagen wir, eine gemeinsame Mondlandung von Finnen und Bulgaren bis zum nächsten EU-Gipfel.
Und selbst wenn es eine Drittel-Rebellion geben sollte: Ihr Veto hätte lediglich die Folge, dass das Vorhaben noch einmal überprüft würde – von dem Organ wohlgemerkt, welches das Projekt auf den Weg gebracht hat, also der Kommission, dem Rat oder dem Europaparlament.
Nur wenn der Rat oder das Parlament auf die Beschwerde hin mit einer Mehrheit von 55 Prozent beschließen würden, dass das beanstandete Gesetz tatsächlich gegen den Subsidiaritätsgrundsatz verstößt, würde es gestoppt. Dies aber ist hochgradig unwahrscheinlich, denn eben diese Mehrheit hatte ja zuvor schon für die Entscheidung gestimmt. Den Mitgliedstaaten bliebe dann nur noch der Weg zum Europäischen Gerichtshof (EuGH), um seinen Standpunkt rechtlich prüfen zu lassen.
Auf das Europaparlament als Hüter von Einzelstaats-Interessen aber sollte sich indes kein nationaler Politiker verlassen. Zum einen sind die dortigen Abgeordneten in europaweite Bündelparteien eingebunden, was ihnen ein Vertreter spezifisch – etwa deutscher – Interessen schwer macht. Zum anderen herrscht im Europaparlament eine faktische Große Koalition aus Konservativen und Sozialisten. Vor allem aber verstehen sich die maßgeblichen Politiker als europäische Avantgarde mit der Mission, kleinkarierte nationale Denkarten zu überwinden. Zudem ist das EP nicht gleich gewählt. Ein Vertreter aus Malta oder Luxemburg hat unproportional mehr Stimmgewicht als einer aus Deutschland oder Frankreich. Schließlich kann von einer öffentlichen Debatte über Entscheidungen in Rat, Kommission und Parlament keine Rede sein. Weil es schlicht keine europäische Öffentlichkeit gibt.
Ein einflussreicher deutscher EP-Abgeordneter reagierte, auf die Möglichkeit des Vetos durch nationale Parlamente angesprochen, mit den Worten: „Das wird kein Problem.“ Der Begriff der Subsidiarität sei schließlich dehnbar. Im Zweifel, so der Abgeordnete, werde das Europaparlament den Einzelstaate schon erklären können, warum die Angelegenheit in Brüssel geregelt werden müsse.
Mit anderen Worten: selbst bei offenkundigen Verstößen gegen das Subsidiaritätsprinzip bleiben die nationalen Parlamente letztlich machtlos. Was sie gewinnen, ist immerhin die Möglichkeit, den europäischen Institutionen dann und wann einen Schuss vor den Bug zu versetzen. Das könnte – im günstigen Fall – zu mehr politischer Sensibilität aufgrund des Bewusstseins führen, dass nicht alles, was in Brüssel verhandelt wird, unter der Aufmerksamkeitsschwelle der nationalen Parlamente hindurchrutscht.
Hessens Ministerpräsident Roland Koch gab sich unlängst bei einem Besuch in Brüssel nichtsdestotrotz kämpferisch:
„Bei Projekte, bei denen wir wirklich einen Verstoß gegen die Subsidiarität sehen, können Sie davon ausgehen, dass wir sehr wohl auf scharf schalten können und Netzwerke aktivieren. In Wahrheit beträgt die Anlaufzeit ja nicht acht Wochen, sondern Monate. Man beobachtet das, was in Brüssel passiert, ja schon im Entstehen. An der Frist scheitert ein politischer Wille selten.“
Allerdings, die Hürden für eine Subsidiaritätsklage liegen auch für einen energischen Landesfürsten hoch. Zunächst müssten entweder im Bundesrat oder im Bundestag 25 Prozent der Vertreter für eine Beschwerde stimmen. Als nächstes müssten acht Verbündete Staaten im Rest von Europa für die Klage-Allianz gewonnen werden. Wie soll ein Bundesland, das über keine außenpolitischen Kapazitäten verfügt (abgesehen vom Personal in den Brüsseler Vertretungen), dies bewerkstelligen?
Unbenommen bleibt den nationalen Parlamenten freilich die Möglichkeit, die Europapolitik ihrer Regierungen zu kontrollieren, etwa indem sie ihren Ministern klare Grenzen für Verhandlungen im Rat setzen. Daran hat es der Bundestag allerdings schon in der Vergangenheit fehlen lassen. Viele Bundestagsmitglieder räumen unumwunden ein, es sei gar nicht zu schaffen, neben dem innen- und außenpolitischen Pensum auch noch Brüsseler Dossiers zu verfolgen.
„Der Bundestag hat die Entwicklung der letzten fünfzehn Jahren in der EU schlicht verschlafen“, sagt ein langjähriger deutscher Beobachter in Brüssel. Immerhin dieser Aufmerksamkeits-Level könnte sich durch die Möglichkeit der Anti-Brüssel-Klage erhöhen.
Im Ergebnis enthält der Lissabon-Vertrag einige Hebel zur Stärkung der horizontalen Demokratie in Europa. Die Mitgliedstaaten müssten sie aber lernen zu nutzen – unter Aufbietung erheblicher parlamentarischer Energien. Nutzen sie diese Rechte, dann wird Lissabon-Vertrags sein Hauptziel allerdings nicht erreichen: effizienter, schneller und schlagkräftiger zu werden. Im Gegenteil. Dann droht die Lähmung der Union durch Koalitionen der Unwilligen.
Generell ist zu befürchten, dass durch den Lissabon-Vertrag Entscheidungen der EU weiter an demokratischer Legimität verlieren werden, weil er den Zurechnungszusammenhang zwischen politischer Entscheidung und Bürgerwille überstrapaziert. Der lautet:
Je tiefer der Eingriff in die Rechtsphäre des Bürgers ist, desto klarer müssen die Verantwortlichen für diesen Eingriff erkennbar sein. Denn nur wenn der Bürger die Möglichkeit hat, Politiker für ihr Handeln zur Rechenschaft zu ziehen, wird er dieses Handeln als legitim empfinden. Denn nur dann traut er den Politikern zu, verantwortsbewusst mit ihrer Macht umzugehen.
Mit dem Lissabon-Vertrag, so das politische Versprechen, soll Europa in der Welt mehr Gewicht und Gesicht bekommen. Dies soll vor allem durch zwei neue Superposten geschehen. Durch den Europäischen Präsidenten, der künftig der EU für zweieinhalb Jahre vorsitzen wird. Und doch einen „Europäischen Außenminister“.
Werden die beiden aber wirklich so mächtig, wie sie glauben? Eher nicht.
Der Europäische Präsident soll laut Lissabon-Vertrag dem Rat „Impulse“ geben, für „Kontinuität“ sorgen sowie „auf seiner Ebene und in seiner Eigenschaft die Außenvertretung der Union in Angelegenheiten der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“ wahrnehmen. Womit sich seine Jobbeschreibung schon einmal ungut mit der des „Europäischen Außenministers“ reibt.
Vor allem wird der neue Ratspräsident künftig, anders als bisher, nicht zugleich ein Staatschef sein. Das heißt, er ist keiner nationalen Öffentlichkeit rechenschaftspflichtig. Kein Abgeordnetenhaus, ja nicht einmal das Europäische Parlament kann ihn für Schlechtleistung oder Fehler zur Verantwortung ziehen.
Bisher konnten Regierungschef ihre jeweils halbjährigen Ratspräsidentschaften in Brüssel nutzen, um sich außenpolitisch zu profilieren, so wie es etwa Angela Merkel getan hat, indem sie den Lissabon-Vertrag trotz mancher Affekte der polnischen Regierung zur Unterschriftsreife verhandelte. Und so actionreich wie es Europa gerade von Nicolas Sarkozy erwartet, dem letzten „kurzen“ Ratspräsidenten.
Von welcher Motivation wird dagegen der künftige EU-Präsident getrieben sein? Von den 27 Staatschefs auf zweieinhalb Jahre gewählt, ist er ein König Ohneland. Er verfügt über keinerlei Hausmacht und keine politische Verhandlungsmasse, um seine Ideen voranzutreiben.
Deutschland dagegen hat mithilfe seines gewaltigen Beamtenapparats in Brüssel und Berlin während seiner Ratspräsidentschaft erstaunliche viele Projekte abschließen können, zum Teil solche, die schon lange liegen geblieben waren. Slowenien, das seine Beamtenschaft mit der Präsidentschaft überdehnte, schaffte lange nicht so viel.
Wieviel politische Pferdestärken hätte wohl ein Ratspräsident ganz ohne eigenen Regierungsapparat?
Und wie realistisch ist es zu glauben, dass sich die Staatschefs im Rat den Weisungen eines Präsidenten ohne Unterleib unterordnen werden? Ein Nicolas Sarkozy beispielsweise ist kaum der Typ, der sich von einem Behördenhäuptling einhegen lassen würde. Im Gegenteil, der künftige Ratspräsident könnte sich seinerseits schnell von Allianzen einflussreicher Länderchefs umzingelt sehen. Mancher Nationalstaat könnte sogar ein Interesse an einem möglichst schwachen Ratspräsidenten haben. Denn wer lässt sich schon gerne auf der Brüsseler Bühne die Show stehlen?
Hinzu kommt, dass die bisherigen halbjährlichen Rotationspräsidentschaften nicht etwa abgeschafft werden. Sie laufen – mit Zuständigkeit für die Fachministerräte – weiter. Das heißt, der jeweilige Staats- oder Regierungschef des halbjährlichen Präsidentschaft bestimmt, welche Themen auf die Tagesordnungen für die Brüsseler Treffen der 27 Wirtschafts-, Justiz- oder Außenminister kommen. Ob der (Rotations-)Ratspräsident daneben noch eine repräsentative Rolle spielen soll und wie sich seine Kompetenzen mit den denen des ständigen EU-Präsidenten vertragen werden, ist noch ungeklärt.
Der tschechische Premier Mirek Topolánek hat bereits klargestellt, dass es als „Demütigung“ empfinden wenn, wenn er die Vorstellung seines Programms im Januar 2009 dem neuen ständigen EU-Präsidenten überlassen müsse, berichtete vor Kurzem das Handelsblatt.
Die institutionelle Eindeutigkeit, die die EU nach Innen und Außen erreichen wollte, schafft der Lissabonvertrag jedenfalls nicht. „Die Strukur wird deutlich komplexer“, sagt die EU-Expertin Sarah Seeger vom Müncher CAP.
Wie also kann die Rolle des EU-Präsidenten in Europa die Rolle Europas in der Welt stärken?
Verglichen mit dem innerdeutschen Machtgefüge, erscheint der Posten eher wie eine Art europäischer Bundespräsident denn als Chef der Regierungschefs: ein Amt, das viel diplomatisches und Moderationsgeschick erfordert, operativ aber im Wesentlichen auf die Repräsentation beschränkt ist.
Und dabei, wie gesagt, beißt es sich auch noch mit den Zuständigkeiten des neuen „europäischen Außenministers“.
Der selbst wiederum wird in allen wichtigen Fragen von Weisungen des Rates abhängig sein. Denn Entscheidungen über die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU (GASP) müssen auch weiterhin grundsätzlich einstimmig von allen 27 Regierungschefs oder Außenministern getroffen werden. Der Ministerrat, heißt es in Artikel 26 EUV, „fasst die für die Festlegung und Durchführung der GASP erforderlichen Beschlüsse“. (Auch hier übrigens übertragen die Mitgliedsstaaten der EU weitreichende Souveränitätsrechte. Laut der „Passerelle-Klausel“ können die Staatschefs einstimmig beschließen, über bestimmte Bereiche der Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU künftig mit qualifizierter Mehrheit zu entscheiden.)
Zwar erhält der „Außenminister“ neue Initiativrechte. Und er könnte einen gewissen Hebel in die Hand bekommen: Geld. Bisher ist die Außenpolitik Europas auf zwei Köpfe verteilt. Auf Javier Solana den Ratsbeauftragten, der die Mitgliedsländer vertritt, und auf die Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner. Während der eine politische Prestige aber kaum Personal besitzt, wacht die andere über Milliarden und einen ansehnlichen Stab – aber ohne große Gestaltungsmacht. So kommt es, dass die EU zwar mit viel Geld etwa die Palästinensische Selbstverwaltung unterstützt, aber trotzdem nicht als Gestalter wahrgenommen wird.
Auch für den zukünftigten „EU-Außenminister“ wird allerdings dieselbe strukturelle Schwäche gelten wie für den Ratspräsidenten. Das Amt „Hoher Vertreter für die Außen- und Sicherheitspolitik“ klingt zwar groß. Doch letztlich unterscheidet es sich in seiner Schlagkraft kaum von der eines Generalsekretärs. Der Nato-Generalsekretär ist mit ganz ähnlichen Befugnissen für die 26 Staaten des Verteidigungsbündnisses ausgestattet. Nimmt ihn deswegen jemand als Außenpolitiker wahr? Und auch von den UN ist überliefert, dass sich ihre Generalsekretäre „mehr als Sekretär, weniger als General“ fühlen.
Gefragt, ob er Angst habe, die EU könnte der neuen US-Regierung den Rang als kraftvollste Klimaschützerin ablaufen, antwortete der ehemalige US-Vizepräsident im Januar 2009 Al Gore: „Es gibt Leute, die spekulieren, dass irgendwann in der Zukunft, falls die Europäische Union sich tatsächlich viel stärker vereinigt, einen Präsidenten haben wird und eine Gesetzgebungskompetenz mit echte Macht, dass sie dann irgendwie aufsteigen könnten, mit Potenzial für Weltführung. Also, ich halte nicht den Atem an.“ (Some have speculated that sometime in the future, if the European Union actually unifies to a much higher degree, and has a president, and an effective legislative body that has real power, they might somehow emerge, with potential for global leadership. I’m not going to hold my breath.)
Der europäische Außenminister allerdings soll einen eigenen Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) erhalten. Noch ist nicht klar, wie genau dieser ausgestaltet sein soll. Bisweilen ist davon die Rede, dass er aus 5000 Diplomaten aller 27 Mitgliedsstaaten bestehen soll. Der CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok schlägt eine „organisatorische Angliederung“ bei der EU-Kommission vor:
„Diese besitzt mehr als 120 Vertretungen außerhalb der EU. In Kombination mit aus den Mitgliedsstaaten rotierend zur Verfügung gestelltem Personal können sie leicht zu echten EU-Botschaften umgebaut werden. Mancherorts ist es auch denkbar, dass einzelne EU-Staaten sich keine nationalen Botschaften mehr leisten und stattdessen die EU-Botschaften für volle konsularische Dienste nutzen. Das spart öffentliche Gelder.“
Fragt sich bloß, ob die Mitgliedsstaaten an dieser Stelle Geld sparen möchte. Eigene diplomatische Vertretungen sind – neben der Sicherung außenpolitischer Interessenwahrungen – schließlich immer auch eine Frage des nationalen Prestiges. Auch schon der Gedanke, eine EU-Paralleldiplomatie zu dulden, dürfte nicht in allen europäischen Hauptstädten Gefallen finden.
„Viele Mitgliedsstaaten wissen noch gar nicht, was das auf sie zukommt“, sagt Sarah Seeger vom Müncher CAP. „Wollen die sich tatsächlich von der EU vertreten lassen?“
Schon heute schließlich versuchen die Botschaften von EU-Mitgliedsländern Europa so einheitlich wie möglich zu vertreten. Dazu dienen unter anderem „Gemeinsame Standpunkte“, an die sich die Botschafter aller EU-Staaten im Ausland halten.
In Brüssel ist schon, wie es ein Parlamentarier beschreibt, ein „Fingerhakeln“ über den neuen Auswärtigen Dienst im Gange. Denn viele Mitgliedsstaaten, Deutschland vorneweg, möchten den Dienst keineswegs in der Kommission angesiedelt sehen. Dort wäre er ihrer Verwaltungshohiet weitgehend entzogen. Eine zweite Möglichkeit wäre, den Dienst am Generalsekretariat des Rates anzudocken. Eine dritte Option ist, ihn als Behörde sui generis zu erschaffen.
Vorläufiges Fazit: Die „gemeinsame“ Außenpolitik des Global Player Europa ist über innereuropäischen Streit noch nicht weit hinaus.