Am Mittwoch gab es in der Financial Times einen Artikel mit der Überschrift „High energy prices hold Europe back„, und der Unterüberschrift „Das europäische Durcheinander verschafft den USA gewaltige Wettbewerbsvorteile“. Tags zuvor war ein Bericht der Europäischen Kommission zum Thema Energiepreise erschienen. Für den Kolumnisten der FT wurde dort mehr oder weniger das Ende der europäischen Industrie beschworen: Für die Unternehmen seien die Strompreise doppelt so hoch wie in Amerika, und selbst im Vergleich zu China 20 Prozent höher. Bei Gas sei die Lage noch schlimmer. Das sei eine unterschätzte Wachstumsbremse – Europa habe keine Chance auf energieintensive Direktinvestitionen aus dem Rest der Welt. Die Preisdifferenzen hätten eine krisenhafte Situation geschaffen.
Aus verschiedenen Gründen zahlen deutsche und andere europäische Haushalte und Unternehmen mehr für Strom als andere Länder: Atomkraftwerke gehen vom Netz, Schiefergas und Schieferöl stoßen auf starken politischen Widerstand, der rasche Umstieg auf Erneuerbare kostet zunächst einmal Geld (obwohl in Deutschland energieintensive Firmen erheblich entlastet werden!), und Braunkohle und Steinkohle werden aus Umweltgründen zunehmend ersetzt durch Gas, das großenteils aus Russland importiert werden muss. Die relativ hohen Strom- und Gaspreise sind vorwiegend politisch gewollt. Darüber hinaus fehlt es aber an Wettbewerb – oligopolistische und monopolistische Strukturen herrschen vor. Der Einfluss der etablierten großen Stromversorger auf die Regulierer und die Politik ist immer noch zu groß. Er geht zulasten der Stromkunden.
Grundsätzlich sind hohe Strompreise wünschenswert, wenn man die Qualität der Umwelt verbessern will, die Risiken durch Atommeiler und Fracking scheut sowie weniger abhängig sein möchte von den Energielieferanten in Russland und im Nahen Osten. In einer Marktwirtschaft lassen sich diese Ziele am besten durch einen fühlbaren Anstieg der relativen Strompreise erreichen. Nur wenn Energie teuer ist, gibt es Anreize, sie effizient einzusetzen. Wir würden immer noch Spritschlucker fahren, wenn Benzin im Vergleich zu unseren sonstigen Ausgaben so billig wäre wie anno dazumal. Die Grünen haben mit ihrem Spruch „5 Mark für einen Liter Benzin“ den Nagel auf den Kopf getroffen – für die Umwelt gibt es nichts Besseres als richtig teures Benzin (und andere Energieformen). Die Autoindustrie hat das im Grunde schon lange genauso gesehen und ihre Strategie danach ausgerichtet. Es hat ihr nicht geschadet. Anderseits: Wann haben Sie zuletzt ein amerikanisches Auto auf unseren Straßen gesehen? Die Amerikaner hatten die Zeichen der Zeit zumindest in dieser Hinsicht nicht erkannt. Oder: Wie wettbewerbsfähig ist beispielsweise Russland mit seinen rekordniedrigen Preisen für Öl und Gas?
Das ewige Gejammer über den drohenden Verlust an Wettbewerbsfähigkeit ist nervtötend. Unternehmen können sich auf hohe Strompreise einstellen, so wie sie sich auf hohe Löhne einstellen können. Sind die Höchstlohnländer Schweiz und Luxemburg etwa nicht wettbewerbsfähig? Was ist Wettbewerbsfähigkeit überhaupt, wie lässt sie sich messen? Allgemein gesprochen ist sie gut, wenn Produkte und Dienstleistungen erzeugt werden, die sich in einer Welt mit offenen Grenzen erfolgreich verkaufen lassen, sich also gegenüber den Angeboten der Konkurrenz behaupten.
Es gibt keinen Zweifel daran, dass es um die deutsche Wettbewerbsfähigkeit nicht schlecht bestellt ist, sodass ein weiterer Anstieg der relativen Strompreise nur marginal schädlich wäre. Für Euro-Land insgesamt gilt das der Tendenz nach ebenfalls. Außerdem zwingt ein starker Anstieg der Strompreise die Unternehmen, effizienter zu produzieren und energieeffiziente Produkte zu entwickeln; das bringt ihnen im Übrigen einen zeitlichen Vorsprung gegenüber der Konkurrenz. Viele halten Deutschland für den Weltmeister bezüglich der Ressourceneffizienz.
Ein mögliches Maß für die Wettbewerbsfähigkeit sind die Salden in den Leistungsbilanzen. Wenn man sich die OECD-Länder anschaut, erkennt man eine wenn auch schwache Korrelation zwischen dem Ranking in den Listen der Wettbewerbsfähigkeit, wie sie etwa vom World Economic Forum (WEF) aufgestellt werden, und den Überschüssen in den Leistungsbilanzen. Hohe Leistungsbilanzüberschüsse sind grosso modo ein Beleg dafür, dass sich ein Land auf den Weltmärkten gut schlägt. Das gilt neuerdings auch für Euro-Land als Ganzes: In den vergangenen zwölf Monaten näherte sich der Überschuss drei Prozent des BIP. Noch nie gab es je einen solchen Überschuss, nirgendwo!
Ein anderes Maß dürften die jährlichen Patentanmeldungen pro Kopf der Bevölkerung sein. Hier liegt unser Land ganz vorne, wie ich früher einmal ausgerechnet hatte, deutlich vor Großbritannien und den USA, aber hinter der Schweiz und Japan. Euro-Land insgesamt hält ebenfalls eine Spitzenposition.
Vielleicht spiegelt sich die Wettbewerbsfähigkeit aber auch in den Anteilen am Weltmarkt. Pro Kopf gerechnet ist nicht zu erkennen, dass Deutschland da nennenswert zurückfällt. Nur gegenüber den Schwellenländern, die von ganz unten kommen und sich in einem dynamischen Aufholprozess befinden, getrieben von Investitionen und Exporten, gehen Marktanteile verloren. Ich bezweifle, dass das immer so weitergehen wird – warten wir mal ab, was passiert, wenn sie einmal unser Wohlstandsniveau erreicht haben.
Bei der Panikmache der EU-Kommission und der FT wird im Übrigen vollkommen ausgeblendet, dass es so etwas wie internationalen Handel gibt. Wenn die USA wegen des Ölschieferbooms auf einmal viel billiger an inländisches Öl kommen, kaufen sie weniger Öl von anderen Ländern. Gleichzeitig nimmt etwa bei den Europäern der Anreiz zu, billiges US-Öl zu kaufen. Dadurch sinken überall auf der Welt die Ölpreise, auch in Europa, wenn man mal unterstellt, dass es keine Handelshemmnisse gibt. Ich will damit sagen: Wenn in den USA die Energiepreise sinken, ist nicht einzusehen, warum sie es nicht auch auf dieser Seite des Atlantiks tun sollen. Die Amerikaner ruinieren ihre Umwelt, und wir kriegen billigeres Öl. Kann man so sehen, finde ich. Es gibt so etwas wie einen commodity curse, Rohstoffe sind mit einem Fluch behaftet. Selten tun Rohstofffunde der Volkswirtschaft eines Landes gut. Sie nehmen den Anreiz, innovativ zu sein und etwas zu wagen.