Alle Welt denkt, dass Deutschland zurzeit eine Art Lokomotive für den Rest Europas ist. Davon kann keine Rede mehr sein. Nach den jüngsten Zahlen – nicht nur den Auftragseingängen und den Statistiken zur Industrieproduktion, die am Mittwoch und Donnerstag veröffentlicht wurden – ist der Lokomotive der Strom ausgegangen. Fragt sich, wer sie wieder in Gang bekommt oder ob sie vielleicht sogar von anderen ersetzt werden muss – oder kann.
Mit meiner Vorhersage vom 23. Mai, dass das reale BIP in diesem Jahr um drei Prozent oder mehr im Vergleich zu 2013 zulegen könnte, wird es wohl nichts werden. Zwar ist die Stimmung bei den Unternehmen immer noch sehr gut, wenn auch nicht mehr so euphorisch wie vor einem halben Jahr, aber die Auftragseingänge in der Industrie und der Bauwirtschaft sind seit einiger Zeit rückläufig. Das sind die wichtigsten Frühindikatoren für die Produktion.
Warum es auf einmal nicht mehr so gut läuft, ist nicht so leicht zu erklären. Gemessen an den Lohnstückkosten hat sich die Wettbewerbsfähigkeit in den letzten Jahren verschlechtert. Vor allem die Länder der Währungsunion haben in letzter Zeit in dieser Hinsicht kräftig aufgeholt und ihre einst sehr großen Defizite in den Handelsbilanzen vermindert oder sogar in Überschüsse verwandelt. Der relativ schwache Euro ist dagegen ein positiver Faktor aus Sicht der deutschen Wirtschaft, ebenso das kräftige Expansionstempo des Welthandels – der dürfte 2014 real im Vorjahresvergleich um rund vier Prozent steigen. Auf der Angebotsseite fehlt es weder an freien Kapazitäten noch an Arbeitskräften. Es könnte deutlich mehr produziert werden, wenn die Nachfrage nur dynamischer wäre.
An der Geldpolitik kann es nicht liegen. Ich denke, dass sich sowohl die privaten Haushalte als auch die Unternehmen sicher sind, dass es für mindestens ein Jahr bei Leitzinsen von Null bleiben wird und dass die EZB den gesamten Liquiditätsbedarf der Banken zu diesen Sätzen abdecken wird. Ein Problem auf dieser Seite ist allerdings, dass sie die Banken gleichzeitig dazu anhält, die Qualität ihrer Aktiva zu verbessern, was tendenziell eine vorsichtige Kreditvergabe erfordert und die Liquiditätsschwemme ganz oder teilweise neutralisiert. Mit anderen Worten, die Expansionspolitik wird konterkariert durch die Sorgen um die Stabilität des Finanzsektors.
Ich hatte auch gedacht, dass von der Fiskalpolitik Deutschlands angesichts des gesamtstaatlichen Budgetüberschusses und der Outputlücke keine weiteren restriktiven Effekte auf die Nachfrage ausgehen würden. Nun sieht es danach aus, als ob der Überschuss noch einmal zunehmen wird, auf vielleicht 0,5 Prozent des BIP. Da sich der Staat Geld inzwischen zu Sätzen von 0,01 Prozent (für zwei Jahre), 0,27 Prozent (für fünf Jahre) und 1,1 Prozent (für zehn Jahre) leihen kann, dürfte am Ende vermutlich ein noch größerer Überschuss herauskommen. Ich halte ein staatliches Defizit in der Größenordnung von drei Prozent für konjunkturneutral. Wenn jetzt 0,5 Prozent herauskommen sollte, oder sogar mehr, heißt das, dass das staatliche Haushaltsgebaren eine massive Wachstumsbremse darstellt.
Hinzu kommt, dass Euro-Land konjunkturell immer noch nicht über den Berg ist. Ohne Deutschland gerechnet dürfte das reale BIP gerade einmal um 0,5 Prozent höher ausfallen als 2013. Nach zwei Rezessionsjahren wäre normalerweise mit einem dynamischen Aufholprozess zu rechnen gewesen. Nichts aber ist „normal“ an diesem Zyklus. Die Staaten sind nach wie vor unter Druck, ihre Defizite planmäßig unter die Maastricht-Grenze von drei Prozent zu drücken. Vor allem Frankreich und Italien, die zweit- und drittgrößten Volkswirtschaften, tun sich schwer damit, können sich aber im Hinblick auf ihre Kreditwürdigkeit auch nicht leisten, die vereinbarten Zielvorgaben einfach zu ignorieren. Andererseits fehlt ihnen angesichts der hohen Arbeitslosigkeit die Kraft, auf der Angebotsseite Reformen durchzusetzen, mit denen sich die Beschäftigung nachhaltig steigern ließe. Vermutlich muss es erst noch schlimmer kommen, bevor der Kampf gegen die etablierten Interessen, beispielsweise der Staatsdiener, eine Aussicht auf Erfolg haben kann.
Außerdem scheint mir, dass auch die privaten Haushalte in den Ländern der Peripherie und in Frankreich noch dabei sind, ihre Schulden relativ und absolut zu vermindern. Das fällt ihnen nicht zuletzt deswegen so schwer, weil ihre Einkommen stagnieren. Da es innerhalb der Währungsunion keine Wechselkurse mehr gibt, die sich abwerten ließen, wird, wie erwähnt, einigermaßen erfolgreich versucht, durch Lohnzurückhaltung, Abbau der Beschäftigung und Produktivitätssteigerungen eine „interne“ Abwertung hinzubekommen, um so die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern und auf diese Weise zumindest die Schulden gegenüber dem Ausland zu verringern. Der Prozess zieht sich länger hin als ich mir das vorgestellt hatte. Jedenfalls gehen auf diese Weise vom Handel mit den europäischen Partnerländern starke restriktive Effekte auf die deutsche Konjunktur aus.
Die Industrieproduktion hat angesichts der miesen Auftragslage immer noch keine Eigendynamik entwickelt – sie stagniert seit drei Jahren und ist weiterhin deutlich niedriger als im letzten zyklischen Hoch von Ende 2007 / Anfang 2008. Das ist nun schon sechseinhalb Jahre her! Nur im Bau läuft es ganz gut, dank rekordniedriger Hypothekenzinsen (10 Jahre fest zu 1,7 Prozent), einem erheblichen Nachholbedarf und steigender Beschäftigung.
Bei all dem überrascht, dass bis in das zweite Quartal hinein zügig neue Jobs geschaffen wurden. Im Vergleich zu der Zeit unmittelbar vor der Rezession waren zuletzt rund 4,5 Prozent mehr Menschen beschäftigt. Deutschland erlebt nach vielen Jahren wieder eine kräftige Zuwanderung in seinen Arbeitsmarkt und ist im Hinblick auf die Beschäftigung deutlich erfolgreicher als die USA und Großbritannien. Die Zahl der Erwerbspersonen ist seit 2010 um 2,5 Prozent gestiegen. Es hapert allerdings bei der Produktivität. Vielleicht müssen die Löhne, wie jetzt von allen Seiten empfohlen, stärker steigen, damit die Unternehmen gezwungen sind, mehr für die Effizienz ihrer Produktion zu tun. Ich bin davon überzeugt, dass es hier noch beträchtliche Reserven gibt.
Insgesamt gehe ich jetzt davon aus, dass das reale BIP saisonbereinigt im zweiten Quartal mehr oder weniger stagnierte, sodass für das Jahr 2014 insgesamt im Vorjahresvergleich nur 1,9 Prozent herauskommen dürften, selbst wenn es in den Quartalen drei und vier zu Zuwachsraten von 0,5 Prozent kommen sollte, was viele Analysten angesichts der Misere bei den Auftragseingängen inzwischen für eine optimistische Annahme halten. Im Zweifel dürfte der weitere Aufschwung wieder einmal vom Außenhandel getragen werden. Hoffen wir, dass er die Lokomotive in Gang bringen kann und dass die Krisen in der Ukraine, im Irak oder in Libyen nicht nachhaltig eskalieren. Es ist zudem an der Zeit, dass die deutsche Finanzpolitik endlich die Spielräume nutzt, die ihr die niedrigen Zinsen und die exzellente Haushaltslage bieten – wo ist da das Problem?