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„Wertegebundene Außenpolitik ist abwegig“ (Helmut Schmidt)

Zunächst mal: Ich vermisse das hier.

Das Bloggen war jahrelang ein gutes Mittel, den Phantomschmerz des Tageszeitungsredakteurs zu betäuben, den es in ein Wochenmedium verschlagen hatte. Zunächst musste ich es fast ein bisschen undercover betreiben, weil es in unserem Hause als Ablenkung von der eigentlichen Arbeit galt (was ja auch sein kann). Inzwischen hat sich die Haltung des Hauses zum Digitalen deutlich verändert. Chefredakteure twittern und erfreuen sich ihrer Follower. ZEIT Online ist ein respektierter eigener Zweig der Publikation, Print-Redakteure machen sogar Hospitanzen bei den Onlinern und kommen beeindruckt von deren Professionalität und Arbeitsrythmus zurück, dessen Schlagzahl für Angehörige des Dead-Tree-Zweigs unseres Hauses furchterregend ist.

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Menschenrechte nur für Westler?

Ein großer Essay von Heinrich August Winkler, der unserer Debatte über Menschenrechte und Außenp0litik die nötige historische Tiefe gibt:

Die ZEIT hat einen Streit vom Zaun gebrochen: einen Streit um Werte und Interessen in der deutschen Außenpolitik. Diese Debatte ist überfällig. Sie zielt auf ein grundlegendes Dilemma aller westlichen Demokratien: das Spannungsverhältnis zwischen ihrem normativen Projekt und der politischen Praxis dieser Staaten auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen. Deutschland ist eine westliche Demokratie, aber es hatte einen langen Weg zurückzulegen, bis es zu einer solchen wurde. Die heutige Kontroverse betrifft also nichts Geringeres als das politische Selbstverständnis einer, historisch gesehen, immer noch jungen westlichen Demokratie.

Im Kern geht es in der aktuellen Debatte um die Frage, ob eine „zu starke Orientierung an historischer Kontinuität und einem überfrachteten Wertediskurs“ die deutsche Außenpolitik daran hindert, „schnell und effizient auf neue Herausforderungen zu reagieren“ (so Eberhard Sandschneider, Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik), oder ob die Absage an ein vermeintliches Übermaß an Moral in der Außenpolitik auf eine unwürdige und zudem zwecklose „Diktatorenknutscherei“ gegenüber Russland und China hinausläuft (so der ZEIT-Redakteur Jörg Lau).

Wenn es um das Russland Wladimir Putins geht, wird aus dem Umfeld des Ostausschusses der deutschen Wirtschaft immer wieder scharfe Kritik an westlichen und vor allem deutschen Mahnungen in Sachen Menschenrechte geübt. Im Hinblick auf China ist der entschiedenste Wortführer jener Richtung, die westliche Nichteinmischung in Wertefragen für ein Gebot politischer Klugheit hält, der Mitherausgeber der ZEIT, Helmut Schmidt. „Die Menschenrechte sind ein Erzeugnis der westlichen Kultur“, so erklärte der Altbundeskanzler am 2. Mai in der Sendung Beckmann im Ersten Programm des Deutschen Fernsehens. Das Beharren auf der universellen Geltung der Menschenrechte sei eine amerikanische, nicht seine Meinung. „Ich finde, dieser Drang nach Bekehrung und nach Mission ist eine sehr westliche Eigenart[…]. Ich bin dagegen, sich einzumischen in die Angelegenheiten Chinas oder Indiens oder des Irans. Ich bin dagegen, dass die westliche Kultur sich zum Fürsprecher macht […] für die ganze Menschheit und in Wirklichkeit noch nicht einmal im Auftrag von einem Bruchteil der Menschheit redet.“ Weiterlesen? Hier!

 

 

Wer bezahlt eigentlich Lau?

Heino Wiese von „Wiese Consult“ ist sauer wegen meiner Berichterstattung zum Thema deutsche Außenpolitik und Russland. So sauer, dass er in einem Editorial seiner Hauspublikation „Hauptstadt-Insider“ gegen mich ausholt und dabei ein paar große Löcher in die Luft schlägt. (Siehe unten.)

Wir haben führenden Sozialdemokraten überhaupt nichts „unterstellt“, sondern schlicht öffentlich zugängliche, unbestrittene Fakten über deren berufliches Engagement für russische Firmen zusammengetragen. Wenn die Aufzählung von Fakten in den Augen von Herrn Wiese  bereits eine „diffamierende“ Wirkung entfaltet, dann wirft das ein Licht auf die Fakten – und auf Herrn Wiese.

Wer hätte je behauptet, dass Russland einen kurzen und leichten Weg zur Demokratie hätte? Niemand glorifiziert die Jelzin-Jahre. Staatlichkeit und soziale Sicherung sind wichtig, hat ebenfalls niemand je bestritten. Aber wenn all das zur Rechtfertigung von heutiger  Regression und Repression herangezogen wird – und das nicht nur vom Regime, sondern auch von vermeintlichen deutschen Russlandfreunden – dann ist was mächtig faul. (Und da bin ich dann doch sehr froh, dass wir begonnen haben, ein wenig drin zu stochern.)

Dass der NSU-Skandal und selbst noch Stuttgart 21 (?) zur Entlastung der russischen Regierung herangezogen werden, wirkt da schon ein bisschen verzweifelt.

Dass deutsche Unternehmen in Russland einen Mittelstand mit hervorbringen, habe ich nie bestritten. Das ist ja auch höchst begrüßenswert. Ich habe immer für mehr Verflechtung geworben. Allerdings bedeutet diese auch automatisch mehr Einmischung und, daraus folgend, eine klare Sprache bei Rückschritten in Sachen Rechtsstaat, Demokratie und Menschenrechte. Solche Rückschritte sind übrigens auch nicht im Interesse der deutschen Industrie, scheint mir. Mehr Rechtssicherheit, weniger Korruption, mehr Verantwortlichkeit wären auch gut für die deutsche Wirtschaft, ganz abgesehen davon, dass diese Dinge um ihrer selbst willen erstrebenswert sind.

Den Schluss finde ich putzig. Eine Firma, die damit wirbt, beste Kontakte zum russischen Establishment zu haben, fragt, „wer eigentlich“ Lau für seine „permanente  Negativberichterstattung über Russland“ bezahlt. Das nenne ich Chuzpe.

Hier das Editorial aus dem aktuellen Hauptstadt-Insider:

 

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Heino Wiese (rechts) von Wiese Consult bei der Arbeit. Foto: Wiese Consult

 

Was die Geschichte der Ostpolitik über den Umgang mit Diktaturen lehrt

Dieser Text, den ich zusammen mit Matthias Geis verfasst habe, erscheint in der ZEIT von heute – ein Versuch, die Debatte über Interessen und Werte in der deutschen Außenpolitik in einen historischen Kontext zu stellen:

Die drei Worte fallen ganz am Ende. Der Redner hat sie fett markiert. Er weiß schon, dass sie die Sprache der deutschen Außenpolitik verändern werden. Die Bundesrepublik müsse gegenüber Moskau einem neuen Leitgedanken folgen: statt Abgrenzung, Druck und Konfrontation – »Wandel durch Annäherung«.
Bald ist das fünfzig Jahre her. Am 15. Juli 1963 hielt Egon Bahr in Tutzing an der Evangelischen Akademie die Rede, die zur Grundlage der »Neuen Ostpolitik« Willy Brandts wurde. In seinen drei Worten schnurrte die Entspannungsphilosophie zusammen, der die sozialliberale Regierung Brandt/Scheel von 1969 an im Umgang mit der Sowjetunion und dem kommunistischen Ostblock folgte. Keine andere außenpolitische Idee der jüngeren deutschen Geschichte war so folgenreich.
Sie ist es bis heute: Die aktuelle Debatte über den richtigen Umgang mit Diktatoren und Gewalt-herrschern, über Werte und Interessen, Menschenrechte und Geschäfte ist ohne die Vorgeschichte der Entspannungspolitik nicht zu verstehen. Deutsche Außenpolitiker haben in Zeiten der Blockkonfrontation gelernt, wie man mit »schwierigen Partnern« umgeht. Bis heute stehen sie unter dem Bann dieser Zeit. Ihre diplomatischen Begriffe leiten sich daher ab – Varianten und Schwund-formen der Bahrschen Erfindung: Wandel durch Handel, Wandel durch Verflechtung, Modernisierungspartnerschaft.
Was mussten Brandt und Bahr sich von konservativen Politikern nicht für böswillige Angriffe gefallen lassen – Verfassungsbruch, Ausverkauf deutscher Interessen, ja selbst Landesverrat. Erst in den Neunzigern hat sich überall die Einsicht durch-gesetzt, dass es auch die Neue Ostpolitik war – von den Kanzlern Schmidt und Kohl fortgesetzt–, die den Kalten Krieg überwand, die Mauer durchlöcherte und die Wiedervereinigung ermöglichte.
Heute wollen alle die Idee beerben. Allerdings findet dabei eine klammheimliche Umdeutung statt. Die beiden Elemente werden entkoppelt: An der Annäherung wird festgehalten, selbst wenn kein Wandel in Sicht ist, ja selbst noch dann, wenn einer zum Schlechteren stattfindet. Bahrs Formel fällt verdächtigerweise immer dann, wenn be-gründet werden soll, warum eine offensichtliche Demütigung, ein Vertragsbruch, eine Menschenrechtsverletzung durch einen Partner ohne Konsequenzen bleibt. Eine ursprünglich trickreich-subversive Idee ist in Gefahr, zum Alibi zu werden.
So etwa, wenn Außenminister Guido Westerwelle erklärt, warum man mit Russland trotz Razzien in deutschen Stiftungen unverändert weiter auf Dialog-Programme setzt: »Wandel ist nur über weitere Annäherung und Hinwendung möglich.« Als die Chinesen vor einigen Jahren ein Delega-tionsmitglied Westerwelles, den Schriftsteller Tilman Spengler, zur Persona non grata erklärten, flog er trotzdem hin und erklärte auch dies mit Bahrs Formel. Die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung in Moskau beschwört die Notwendigkeit einer Partnerschaft mit Putins und Medwedews Regime allen Rückschritten zum Trotz unter der Überschrift »Wandel durch Annäherung«. Ganz gleich, ob es um Gasgeschäfte mit Aserbaidschan, Panzer für Saudi-Arabien oder um Dialog mit der ägyptischen Muslimbruderschaft geht – für alles muss Bahrs Slogan herhalten. Weiter„Was die Geschichte der Ostpolitik über den Umgang mit Diktaturen lehrt“

 

„Auch gegenüber Russland treten wir für unsere Werte ein“

Vor dem Hintergrund der aktuellen Razzien bei deutschen Stiftungen in Russland ist dieser aktuelle Text aus der ZEIT von heute vielleicht von Interesse. Ich habe beim Auswärtigen Amt nachgehakt, wie man dort über die Äußerungen von Alexander Rahr über die deutsche Russlandpolitik denkt.

Offenbar hat in der Regierung das Nachdenken über den deutschen Kurs gegenüber Russland begonnen. Das Auswärtige Amt geht in Reak­tion auf einen kritischen Bericht der ZEIT (Nr. 12/13) auf Distanz zum einflussreichen Kreml-Experten Alexander Rahr. Rahr hatte, wie berichtet, in einem Interview mit einer russischen Zeitung die deutsche Russlandpolitik kritisiert: Gegenüber Putin auf Rechtsstaat und Demokratie zu setzen komme einem aggressiven Wer­te­export gleich, »wie vor 100 Jahren von der Sow­jet­union propagiert«. Deutschland sei Amerika und Israel verfallen und wolle unter dem Vorwand des Eintretens für Menschenrechte Russland mit liberalen Werten unterwandern.
Im Außenministerium heißt es nun, man teile Rahrs »bekannt gewordene Äußerungen zur westlichen Wertepolitik nicht. Es ist jetzt an Herrn Rahr, für Klarheit zu sorgen hinsichtlich der Umstände und Inhalte des in der Komsomolskaja Prawda veröffentlichten Textes. Natürlich ist Herr Rahr auf sein Interview angesprochen worden.«
Ein Sprecher des Ministeriums bekräftigt: »Auch gegenüber Russland verfolgen wir unsere Interessen und treten für unsere Werte ein. Dies ist Ausdruck unserer interessengeleiteten und werteorientierten Außenpolitik.« Die Bun­des­regie­rung setze »sich für die weitere Vertiefung der strategischen Partnerschaft mit Russland ein, in deren Rahmen in umfassender Weise die politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Beziehungen gefördert und auch Fragen im Zusammenhang mit Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten nicht ausgespart werden«.
Rahr aber legt nach: Von Spiegel Online auf den ZEIT-Bericht über sein Interview angesprochen, verteidigt er abermals Putins autoritäre Herrschaft. Sie sei nun mal »authentischer« als das demokratische Chaos unter Boris Jelzin: »Die Mehrheit der Russen denkt anders. Stabilität und die Orientierung an einer starken Hand sind ihnen wichtiger als Demokratie.« Das habe für die deutsche Politik einen entlastenden Effekt, wirbt Rahr sarkastisch: Sie brauche dann nicht weiter »erfolglos zu versuchen, Russland zur Demokratie zu zwingen«. Das Beharren auf Menschenrechten ist für Alexander Rahr also gleichbedeutend mit »Zwang« zur Demokratie.
Das wirft die Frage auf, wie dieser Experte seine Aufgaben in den beiden wichtigsten quasioffiziellen Foren der Russlanddiplomatie versteht. Rahr ist seit November Forschungsdirektor des Deutsch-Russischen Forums (DRF), das hauptsächlich von der an Russland interessierten deutschen Industrie finanziert wird. Und auch beim Petersburger Dialog, dem von Wladimir Putin und Gerhard Schröder initiierten und von Angela Merkel fortgeführten jährlichen Treffen zwischen deutschen und russischen Eliten aus Politik und Wirtschaft, sitzt Rahr im Lenkungsausschuss.
Das Außenministerium betont, beide Institutionen seien »vom Auswärtigen Amt unabhängig«. Das ist richtig, doch erst die enge Kooperation der Regierung mit den beiden Vereinen macht die Gremien für die russische Seite interessant und damit im Gegenzug auch zu potenziell besonders wertvollen Instrumenten der deutschen Russlandpolitik.
Dass Alexander Rahr als intellektueller Kopf des Deutsch-Russischen Forums firmiert – ein Mann, der jegliche Kritik an Putins Autoritarismus als »Hysterie« abtut und Menschenrechtler als »Kreuzritter« diffamiert –, gibt der Sache eine merkwürdige Schlagseite. Auf der Web­site des DRF wird seine Aufgabe so beschrieben: »Zu den weiteren Aufgaben des Forschungsdirektors werden die Or­ga­ni­sa­tion und Mo­de­ra­tion der inzwischen eta­blier­ten Kamingespräche beim russischen Botschafter und diverser Energiefrühstücke zählen.« Rahr ist in den vergangenen Jahren gegenüber der russischen Seite immer wieder in quasioffizieller Funktion als Vermittler für Dialogprojekte aufgetreten. Im Ministerium gilt er als »ausgewiesener Russlandkenner mit vorzüglichen Kontakten«. Rahr fungiert als Ratgeber des Auswärtigen Amtes unter anderem beim Thema Rechtszusammenarbeit mit Russland.
Anscheinend wird nun infrage gestellt, ob dies wirklich eine glückliche Kombination ist. Aus dem Außenministerium heißt es, die Kooperation »mit dem privaten Verein DRF macht sich nicht an einer bestimmten Person fest«.

 

Warum Deutschland sich einmischen muss

Gerhart Baum, Bundesinnenminister a.D.,  antwortet auf Eberhard Sandschneiders Debattenbeitrag in unserer Reihe über Außenpolitik und Menschenrechte. Baum wurde 1932 in Dresden geboren, floh 1945 nach der Zerstörung der Stadt nach Bayern und lebt seit 1950 in Köln. Seit 1954 ist er in der FDP, für die er seit 1972 im Bundestag ist. 1978-1982 war er Inneminister im Kabinett Schmidt. 1992-1998 war er Leiter der deutschen Delegation bei der Uno-Menschenrechtskomission in Genf. 2001-2003 Uno-Sonderberichterstatter für Menschenrechte im Sudan.

Es ist schon verwunderlich, ausgerechnet von Eberhard Sandschneider, dem Leiter des -Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, das abgestandene Argument zu lesen, bei den Menschenrechten handele es sich um »Moral- und Wertvorstellungen des Westens«. Niemand diktiert der Welt ihre Werte – weder der Westen noch die deutsche Außenpolitik. Die Werte wurden in einem beispiellosen historischen Akt 1949 in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen niedergelegt. Das war eine Reaktion auf die Schrecken der ersten Hälfte des dunklen 20. Jahrhunderts. In der Präambel heißt es: »Die Verkennung und Missachtung der Menschenrechte hat zu Akten der Barbarei geführt, die das Gewissen der Menschheit tief verletzt haben.«

Artikel 1 der Erklärung lautet: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.« Niemals zuvor hat es eine solche Selbstverpflichtung der Völkergemeinschaft gegeben. Sie folgt der Erkenntnis vom unvergleichlichen Wert eines jeden Menschen. »Die Menschenwürde bildet das Portal, durch das der egalitär-universalistische Gehalt der Moral ins Recht transportiert wird«, so erklärt Jürgen Habermas diese Entwicklung. Ist das die »Moral-ecke«, aus der Sandschneider eine an den Menschenrechten orientierte Außenpolitik herausholen will?

Die Menschenrechte haben neben der westlichen Tradition ihre Wurzeln in allen hochstehenden Kulturen und Religionen der Welt. Nirgendwo wird gebilligt, dass Menschen zur Sicherung staatlicher Macht entwürdigt, gar gefoltert oder totgeschlagen werden. Nirgendwo wird akzeptiert, dass jemand auf einer Polizeistation so gequält wird, dass er nur mit Mühe überlebt – wie das einem chinesischen Künstler widerfahren ist.

Die Weltmenschenrechtskonferenz vor 20 Jahren in Wien hat die Universalität und Unteilbarkeit der Menschenrechte, wie sie 1949 festgelegt worden war, mit einem einstimmigen Votum erneut bekräftigt. Die deutsche Delegation wurde von mir, die französische von Stéphane Hessel geleitet. In wenigen Wochen erinnern Menschenrechtsorganisationen und auch das Auswärtige Amt in Berlin mit verschiedenen Veranstaltungen an diese wegweisende Konferenz.

Im Laufe der Jahrzehnte haben nahezu alle Staaten der Welt die wichtigsten Vereinbarungen des Völkerrechts zum Menschenrechtsschutz akzeptiert. Wer behauptet, es handele sich allein um Moral- und Wertvorstellungen des Westens, spielt den diktatorischen Regierungen in die Hände, die ihre Unterdrückungsmaßnahmen gern mit Hinweis auf kulturelle Unterschiede zu rechtfertigen suchen. Sicherlich gilt es kulturelle Unterschiede zu beachten, am Kern der Menschenrechte darf jedoch nicht gerüttelt werden.

Die Menschenwürde bestimmt auch unsere Verfassung. Sie ist im Innern eine einklagbare Verpflichtung, aber sie hat auch eine außenpolitische Dimension: In den internationalen Beziehungen sind die deutschen Politiker gemäß Artikel 1 angehalten, sich für die Menschenwürde einzusetzen.

Menschenrechtspolitik bedeutet immer Einmischung. Das System der Vereinten Nationen liefert die völkerrechtlichen Grundlagen dazu. Wer das Gegenteil behauptet, verkennt die jahrzehntelange Praxis der UN. Es gibt kein Gebot der Nicht-Einmischung. Einmischung ist die Regel.

In jeder seiner Sitzungen bewertet der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen in Genf die Menschenrechtsituation in einzelnen Staaten. Das tut auch die Delegation der Bundesrepublik Deutschland. Ich selbst war von 1990 bis 1993 Sonderberichterstatter für die Menschenrechtssituation im Sudan. Meine Feststellungen führten zu Rügen und Empfehlungen durch die UN-Gremien. Massiv ist die Einmischung durch den Sicherheitsrat mit über 80 Friedensmissionen, darunter auch solchen mit robustem Mandat – also mit Waffengewalt – gegen den Willen der betroffenen Staaten. Einmischung bedeuten auch die Entscheidungen des Internationalen Strafgerichtshofes, wenn er beispielsweise nach dem amtierenden Staatspräsidenten des Sudan und nach Söldnerführern im Kongo mit Haftbefehl fahndet.

Bei den großen Menschenrechtskatastrophen in Ruanda, Kambodscha oder im früheren Jugoslawien (Srebenica) kam die Einmischung gar nicht oder zu spät. In Libyen erfolgte die Intervention – durch Anwendung der neuen UN-Doktrin zur »Schutzverantwortung« – gerade noch rechtzeitig. Mit dieser Doktrin, 2005 einstimmig von der Generalversammlung verabschiedet, übernimmt der Sicherheitsrat unter bestimmten Voraussetzungen den Schutz der Menschen – auch gegen die Regierung ihres eigenen Staates oder dort, wo es keine Staaten mehr gibt. Niemand wird leichtfertig für militärische Abenteuer eintreten. Doch die Politik der militärischen Zurückhaltung, wie sie von Außenminister Westerwelle im Falle Libyen und auch sonst vertreten wird, ist in bestimmten Situationen nicht durchzuhalten. Mit der Enthaltung zu Libyen hat unser Land sich auch gegenüber befreundeten Regierungen isoliert.

Menschenrechte bestimmen die Beziehungen der Völker untereinander nicht allein. Am überzeugendsten wurde dies in der Schlussakte von Helsinki von 1975 definiert. Menschenrechtsschutz tritt hier gleichberechtigt an die Seite von Friedensbemühungen und wirtschaftlichen Beziehungen. Die Schlussakte gab der Freiheitsbewegung Solidarność in Polen Motiva-tion, Schwung und Kraft. Sie war ein wichtiges Instrument bei der Auflösung der Diktaturen des Ostblocks.

Ich plädiere nicht dafür, die Gesprächs- und Verhandlungsbereitschaft mit anderen Ländern abreißen zu lassen oder Wirtschaftsbeziehungen als Mittel zur Durchsetzung der Menschenrechte einzusetzen, von wenigen Ausnahmen abgesehen – wie jetzt im Verhältnis zum Iran. Als würdelos allerdings habe ich immer empfunden, wenn Demokraten sich verbiegen und eigene Grund-überzeugungen in der Absicht verleugnen, Vertreter diktatorischer Staaten für Geschäftsabschlüsse zu gewinnen.

Belehrende Arroganz ist in der Außenpolitik fehl am Platze. Oft sind eher Rat und Hilfe gefragt. Friedensicherung liegt im wohlverstandenen Interesse unseres Landes. Sie ist aber ohne eine menschenrechtsorientierte Außenpolitik nicht zu erreichen.

 

Gegen die Vermessenheit westlicher Moralpolitik

Leser Gerald Enderlein schickt mir folgende Entgegnung auf meinen Essay zur „Diktatorenknutscherei“ in der deutschen Außenpolitik. Ich veröffentliche ihn hier als Teil einer Debatte. Bisher hatten sich Eberhard Sandschneider von der DGAP und Hans-Georg Wieck (Ex-BND-Chef) geäußert. Nächste Woche wird die Debatte mit einem Beitrag von Gerhart Baum (FDP) fortgesetzt.

Herr Lau,

wer ist in Ihren Vorstellungen ein „Schurke“? Sie erwähnen Pinochet zusammen mit Putin und den chinesischen Regierungsvertretern. Wenn Sie bei Ihren Vergleichen so großzügig sind, warum erwähnen Sie nicht auch die Herren Berlusconi, der ja wahrscheinlich Wählerstimmen gekauft hat, und Orban, der die demokratischen Freiheiten eingeschränkt hat, oder Rajoy, bei dem es ja auch nicht ganz ohne Korruption zuzugehen scheint?

Glauben Sie, dass die chinesischen Menschen heute zufriedener und glücklicher wären, wenn nicht die jetzigen Schurken an der Macht wären, sondern es Dissidenten gelungen wäre, in China eine Scheindemokratie zu errichten? Das hätte genau so wenig funktioniert wie in Irak und in Afghanistan. Ich will damit nicht sagen, dass das jetzige chinesische System das bestmögliche und nicht zu kritisieren sei, ich will aber sagen, dass es leichter ist, gute Ratschläge zu geben, als ein Land wie China praktisch und nicht nur theoretisch zu führen und zu demokratisieren.

Oder glauben Sie, dass irgendeine Arabellion das Problem der arbeitslosen Jugendlichen löst? Wir schaffen es doch nicht einmal, so viel Geld bereitzustellen, dass die griechischen und spanischen Jugendlichen Arbeit finden. Genausowenig schaffen wir es, die reichen Griechen und Spanier daran zu hindern, Steuern zu hinterziehen. Und dafür, dass es nach dem Bürgerkrieg in Syrien nicht grundsätzlich anders wird als vorher, unterstützen wir eine der Bürgerkriegsparteien und halten es nicht für erforderlich, im Sicherheitsrat eine Einigung darüber zu erreichen, dass jegliche Unterstützung von außen (auch von Seiten einiger Golfstaaten und des Iran) unterbunden wird. Das Ergebnis: Zigtausend Tote, noch mehr Verletzte und Millionen Flüchtlinge.

Wenn man längere Zeit im Ausland gelebt hat, nicht im Hotel mit Kontakt vor allem zu Regimekritikern und Dissidenten, sondern zusammen mit Einheimischen, dann weiß man, dass für Menschen in anderen Ländern zum Teil andere Dinge wichtig sind als für uns hier in Deutschland. Oft gehört Korruption zum Alltag der Menschen, viele Waren und Dienstleistungen erhalten sie nur, wenn sie sich in ausreichender Weise dem Lieferanten oder Dienstleister erkenntlich zeigen.

In vielen Ländern gibt es einen sehr hohen Anteil an jungen Menschen und demzufolge eine hohe Jugendarbeitslosigkeit. Große Teile der Bevölkerung leben unter so schlechten Verhältnissen, dass für sie gewaltsame Veränderungen verbunden mit Risiken für Leib und Leben durchaus vorstellbare Optionen sind. Dazu kommt, dass der Besitz von Schusswaffen weiter verbreitet ist als in Deutschland. Es gibt Länder, in denen zwei oder mehrere Ethnien mit jeweils vergleichbarer Bevölkerungsstärke leben, zwischen denen erhebliche Spannungen bestehen. Die Unterschiede zwischen dem wohlhabenden Teil der Bevölkerung der Großstädte, die sich zum Teil an westlichen Maßstäben orientieren, und der Masse der Bevölkerung bergen ebenfalls sozialen Zündstoff. Manche Länder sind so groß und schlecht organisiert, dass die in der Hauptstadt konzentrierte Staatsgewalt an der Peripherie nur geringen Durchgriff hat. Historisch gewachsene Stammes- und Sippenstrukturen spielen eine große Rolle.

Ich weiß nicht, ob Sie sich vorstellen können, wie unsere Demokratie aussehen würde, wenn Deutschland und Mitteleuropa vor ähnlichen wie den von mir beschriebenen Herausforderungen stehen würde. Auf jeden Fall wäre die Unzufriedenheit in Teilen der Bevölkerung viel größer als heute und es ergäbe sich die Möglichkeit, dass z.B. die Russen oder die Chinesen oder die Türken aktiv in die deutsche Politik eingreifen würden, indem sie z.B. im Wahlkampf ihnen zugeneigte politische Gruppierungen finanziell ausstatten würden. Ich bin überzeugt, dass dann auch unser Leben nicht so relativ gewaltfrei wäre wie es jetzt ist, und dass härtere staatliche Maßnahmen erforderlich wären, um eine gewisse Stabilität zu sichern.

Man muss sich auch die Frage stellen, was in einem konkreten Land Demokratie ist – das, was sich die Mehrheit der Bevölkerung wünscht, oder das, was wir uns wünschen, und mit uns die in den Großstädten lebenden Dissidenten.

Ich jedenfalls halte es für vermessen, um nicht zu sagen für überheblich, wenn wir uns anmaßen, die Regierenden anderer Länder in der von Ihnen beschriebenen Weise zu verurteilen. Ich glaube, dass unter den von mir beschriebenen Umständen trotz vieler demokratischen Defizite und sogar Menschenrechtsverletzungen die Leistung mancher ausländischen Regierung für ihr Volk höher einzuschätzen ist als die vieler von uns als demokratisch eingestuften Regierungen.

Wenn wir als Deutsche den Anspruch stellen, als moralische Instanz auftreten zu wollen, sollten wir uns die Frage stellen, was wir bewirken, wenn wir von oben herab andere belehren oder gar das Gespräch mit ihnen ablehnen. Was für positive Folgen hätte es z.B. gehabt, wenn die Bundesregierungen nicht mit Herrn Mubarak gesprochen hätten? Wäre Ägypten heute schon eine Demokratie oder hätten die Muslimbrüder das Land jetzt fest im Griff?

Mir kommt diese ganze Diskussion vor wie der Slogan „Nazis raus“. Wohin denn wollen wir sie exportieren, und wen wollen wir mit diesen Leuten beglücken? Es geht nicht. Also müssen wir sie entweder alle einsperren oder mit ihnen reden.

Sicher gibt es Regimes, die verantwortlich sind für schlimme Gewalttaten bis zum Völkermord. In diesen Fällen sollten wir auch nicht zögern, die Dinge beim Namen zu nennen. Wir sollten uns aber bei unserer Kritik immer auch bewusst sein, dass der Westen Regimes wie das des Herrn Pinochet nicht nur toleriert, sondern aktiv unterstützt hat und dass vieles, was einige von uns äußern, vor diesem Hintergrund sehr scheinheilig klingt.

 

Menschenrechtspolitik ist Realpolitik

Hans-Georg Wieck, einer der erfahrensten deutschen Diplomaten, antwortet in dem folgenden Beitrag auf Eberhard Sandschneider von der DGAP. 

Wieck war von 1954 bis 1993 war er Beamter des Auswärtigen Amtes. Er war u. a. Botschafter im Iran, der UdSSR und Indien sowie Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland im Nordatlantikrat (NATO).

Außerdem war er im Verteidigungsministerium als Leiter des Planungsstabes tätig und leitete von 1985 bis 1990 den Bundesnachrichtendienst (BND).

Nach seinem Ausscheiden aus dem Staatsdienst war er von 1998 bis 2001 Leiter der OSZE-Berater- und Beobachtergruppe in Minsk, Weißrussland.

In seinem am 28. Februar in der „ZEIT“ veröffentlichten Beitrag „Debatte zur deutschen Außenpolitik: Raus aus der Moralecke“ plädiert Eberhard Sandschneider, Direktor des Forschungsinstituts bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, „für eine Außenpolitik auf der Grundlage des Machbaren und nicht der Rechthaberei“. Er führt dann aus, dass „die Zeiten vorbei sind, in denen Weltpolitik den Moral- und Wertvorstellungen des Westens folgte“.

 

Das mag sein, aber für alle Mitglieder der Staatengemeinschaft gilt auch weiterhin das vereinbarte Völkerrecht und gelten die vereinbarten politischen Verträge über politische Beziehungen und gegebenenfalls ihre Inhalte, und zwar unabhängig davon, ob es sich um “Staaten des Westens“, um sogenannte Schwellenländer oder um Länder im Entwicklungsprozess handelt.

 

Für einzelne Regionen sind weitergehende Verträge und Abkommen abgeschlossen worden, z.B. mit dem Vertrag zwischen den Mitgliedstaaten der NATO und des Warschauer Pakts über Höchstgrenzen der konventionellen Truppen und der Waffen in Europa vom 19. November 1990 und mit der von allen Staats- und Regierungs-Chefs der an der „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ mitwirkenden Staate n unterzeichneten „Charta von Paris für ein Neues Europa“ vom 21. November 1990.

In dieser Charta „verpflichten“ sich die Staats- und Regierungs-Chefs, „die Demokratie als die einzige Regierungsform unserer Nationen aufzubauen, zu festigen und zu stärken. In diesem Bestreben werden wir an folgendem festhalten: Menschenrechte und Grundfreiheiten sind allen Menschen von Geburt zu Eigen; sie sind unveräußerlich und werden durch das Recht gewährleistet. Sie zu schützen ist vornehmste Pflicht jeder Regierung. Ihre Achtung ist wesentlicher Schutz gegen staatliche Übermacht. Ihre Einhaltung und uneingeschränkte Ausübung bilden die Grundlage für Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden“.

Auf weiteren vierzehn Seiten des Dokuments werden im Einzelnen die von den Teilnehmerstaaten der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa geteilten politischen Werte der demokratisch verfassten Staaten definiert, seien es freie und faire Wahlen, unabhängige Wahlbeobachtung, Pressefreiheit, Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative, vor allem die Unabhängigkeit der Gerichte und eine auf der Initiative und Handlungsfreiheit des Einzelnen beruhende Marktwirtschaft.

 

Nach der Auflösung der Sowjetunion und der Jugoslawischen Föderationen übernahmen die Nachfolgestaaten ausdrücklich die Verpflichtungen aus der Charta von Paris. Jährlich stattfindende Außenministerkonferenzen und in regelmäßigen Abständen vorgesehene Gipfelkonferenzen sollen die Umsetzung der gemeinsam beschlossenen Werteordnung beobachten und gegebenenfalls mit neuen Vereinbarungen ergänzen. Es handelt sich also um eine zwischen den Teilnehmerstaaten der KSZE vereinbarte Werteordnung, die alle beteiligten Staaten bindet – auch heute – die Russische Föderation ebenso wie die EU-Mitgliedstaaten oder Georgien und die Tadschikische Republik.

 

Wer sich um die Beachtung dieser gemeinsamen Werteordnung in den hier genannten Staaten bemüht, treibt „Realpolitik“. Wer sich in dieser Hinsicht davonschleicht oder die Relevanz der gemeinsamen Werte mit griffigen Modewörtern marginalisiert, lässt Zweifel an seiner eigenen Bindung an diese gemeinsamen Werte aufkommen.

 

Auch im Verhältnis zwischen Ländern der atlantischen Zone und Staaten in anderen Teilen der Welt gibt es vertraglich vereinbarte Regeln z.B. eine Vielzahl von global geltenden VN-Konventionen, die beachtet werden müssen, unabhängig von den Unterschieden kultureller und gesellschaftlicher Art, die zwischen den Ländern bestehen.

 

Wir sollten uns nicht mit Modeworten wie „Raus aus der Moralecke“ in den internationalen Beziehungen zu Geldwechslern reduzieren lassen, die nicht nach dem Leumund der Beteiligten fragen.

Mit freundlichen Grüßen, Hans-Georg Wieck

 

Der sinnlose Kampf gegen die Homo-Ehe

Heute musste ich, unter dem Eindruck der CDU-Debatte über die völlige rechtliche Gleichstellung für Homosexuelle, an den „Gesprächsleitfaden“ für Einbürgerungstests denken, den das Land Baden-Württemberg im Jahr 2006 erstellt hatte. Da gibt es diese beiden Punkte:

29. Stellen Sie sich vor, Ihr volljähriger Sohn kommt zu Ihnen und erklärt, er sei homosexuell und möchte gerne mit einem anderen Mann zusammenleben. Wie reagieren Sie?

30. In Deutschland haben sich verschiedene Politiker öffentlich als Homosexuelle bekannt. Was halten Sie davon, dass in Deutschland Homosexuelle öffentliche Ämter bekleiden?

Volker Kauder, ein Politiker aus Baden-Württemberg, sagt heute im Spiegel: „Die Union will keine Homo-Ehe, und daran hat sich nichts geändert.“

Gegen die „Homo-Ehe“ zu sein bedeutet nicht notwendigerweise, homophob zu sein (wobei sich das natürlich oft überschneidet). Kauder möchte die Institution der Ehe schützen, die in seiner christlich geprägten Weltsicht einzig und allein für heterosexuelle Paare offen sein darf. So sehen das natürlich auch viele gläubige Muslime, um nicht zu sagen: so gut wie alle. Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich meine nicht, dass nur der, der für volle rechtliche Gleichstellung Schwuler und Lesben hierzulande ist, auch das Recht hat, die himmelschreiende Ungerechtigkeit anzuprangern, die Menschen mit solcher Orientierung in islamisch geprägten Ländern (aber weiß Gott nicht nur da, siehe weite Teile Afrikas!) angetan wird. Ich vergleiche auch nicht die letzten Reserven konservativer Politiker hierzulande mit dem Schwulenhass in anderen Teilen der Welt. Das wäre bizarr und würde verkennen, wie weit sich dieses Land bewegt hat.

Aber es ist schon pikant: 2006 fand man es opportun, in einem christdemokratisch regierten Land die einbürgerungswilligen Moslems zu zwiebeln, indem man eine progressiv-liberale Einstellung zu Schwulen und Lesben zum Maß der Zugehörigkeit zur deutschen Wertegemeinschaft machte. Die Verdacht war natürlich, vielleicht auch die Hoffnung, dass viele wegen der endemischen Homophobie im Islam scheitern würden. (Ist nicht so gekommen. 98% bestehen den Einbürgerungstest.) Die Fragen über Homosexualität werden heute übrigens nicht mehr gestellt, und das ist auch gut so. Aber dies ist erst nach öffentlichem Protest so gekommen. Es war eine ziemliche Heuchelei, dass Toleranz gegenüber Homosexuellen zum Maßstab gemacht werden sollte.

Das zeigt die hilflose Unionsdebatte dieser Tage.

Um weitere Missverständnisse zu vermeiden: Ich bin sehr dafür, eine Debatte über islamisch begründete Homophobie zu führen (und habe das hier auch immer wieder getan). Wenn das aber aus durchsichtigen taktischen Gründen geschieht (weil man das Zurückgebliebene und Hinterwäldlerische am Islam herausarbeiten will, während einem die Schwulen und Lesben herzlich egal oder gar unsympathisch sind), wenn dann noch im Gegenzug das Nein zur „Homo-Ehe“ (welch ein Wort!) zum letzten Alleinstellungsmerkmal des Konservatismus gemacht wird, nachdem Atomkraft und Wehrpflicht futsch sind – dann wirkt das doch reichlich verlogen.

Noch einmal: Ich unterstelle Volker Kauder keine Homophobie, und auch der Kanzlerin nicht, die jetzt ein „Machtwort“ in der Sache gesprochen haben soll. Volker Kauder hat einen ausgesprochenen Sinn für (andere) Minderheiten und ihre Rechte. Ich schätze Kauders Engagement für verfolgte Christen weltweit. Wo immer ich bei meinen Reisen im letzten Jahr hinkam – ob bei bedrängten Christen in der Türkei oder in Ägypten, Kauder war immer schon da gewesen. Das ist keine Kleinigkeit.

Aber er und Merkel führen die Christdemokraten soeben in eine sehr enge und dunkle Gasse, scheint mir. Das Verfassungsgericht wird die volle rechtliche Gleichstellung fordern, spätestens vor der Sommerpause, wenn das Urteil zum Ehegattensplitting erwartet wird. Es gibt einfach kein schlagendes Argument dagegen. Wer homosexuellen, verheirateten (verpartnerten) Menschen die gleichen Pflichten auferlegt wie denen in anderen Beziehungen, der kann ihnen auch die Rechte nicht verweigern, die den anderen zukommen.

Eine Regierung, die sich im Ausland durch einen verheirateten Homosexuellen vertreten lässt, macht sich lächerlich, wenn sie solchen Lebensgemeinschaften, wie sie Guido Westerwelle und Michael Mronz bilden, volle Rechte verwehrt. Kauders Basta-Spruch über die „Homo-Ehe“ ist für Westerwelle und Mronz ein Schlag ins Gesicht.

Offensichtlich geht es hier darum, noch einmal an einer Stelle „Flagge zu zeigen“, ganz egal ob das sinnvoll oder durchhaltbar ist. Das ist deshalb so sinnlos, und zeigt damit die inhaltliche Ausgehöhltheit des deutschen Konservatismus, weil hier ein konservativer Impuls bestraft wird: der Wunsch der Schwulen und Lesben, als Teil derselben Wertegemeinschaft anerkannt zu werden, für die Kauder zu stehen beansprucht. Wir sind genauso verantwortungsvoll, bindungs- und liebesfähig wie ihr. Ja, wir wollen so sein wie ihr, so leben wie ihr. Warum soll man das zurückweisen? I don’t get it.

Was ich nicht verstehe, ist die Blindheit der Union für diese konservative Wende in der Schwulenbewegung: Mit der Öffnung der Ehe für andere Lebensformen wird diese Institution ja nicht geschwächt, sondern bestärkt. Ehe ist offenbar so attraktiv, dass selbst Schwule und Lesben sie wollen. Das ist eigentlich ein urkonservativer Impuls, den die „kulturrevolutionäre“ Fraktion unter den Homo-Aktivisten auch deshalb immer abgelehnt hat. (Die glaubte immer, dass Homosexualität ein Weg aus „Zwangsheterosexualität“ der Gesellschaft ist, eine Art dritter Weg.)

Es gibt keine stichhaltigen Gründe, adoptionswillige schwule oder lesbische Paare anders zu behandeln als heterosexuelle. Selbstverständlich soll deren Zuverlässigkeit geprüft werden, wie es alle anderen auch über sich ergehen lassen müssen.

Es gibt keine Gründe, einer solchen Lebensgemeinschaft das Ehegattensplitting zu verweigern und sie also steuerlich schlechter zu stellen als „normale“ Ehen. Das Splitting sollte ohnehin abgeschafft werden, weil es nicht (oder nur mittelbar) den Kindern zugute kommt, an denen es Deutschland mangelt. Es ist eine überlebte Subvention der Hausfrauenehe, eine Prämie für Gehaltsungleichheit zwischen den Geschlechtern. Es könnte durch ein „Familiensplitting“ ersetzt werden, bei dem die Zahl der Kinder die steuerliche Begünstigung bestimmt.

Die Union hat die Chance verpasst, die wertkonservative Wende der Schwulen und Lesben für sich zu nutzen. Sie verteidigt eine sinnlose Position, von der sie heimlich weiß, dass sie bis zu den Sommerferien geräumt werden muss. Man wird ihr dann zu Recht vorwerfen, den Konservatismus weiter ausgehöhlt zu haben.

 

 

Ein Treffen mit arabischen Bloggern und Journalisten

„Noch niemals wurde die Meinungsfreiheit in Ägypten so eingeschränkt.“ „In unseren Ländern gibt es nach der Arabischen Revolution eine absolute Freiheit der Presse.“

Die letzten drei Tage habe ich in Barcelona verbracht, bei einem Treffen mit arabischen Journalisten, Bloggern, Menschenrechtlern (gefördert von der Mittelmeer-Union und der Anna-Lindh-Stifung). Zwischen den beiden oben genannten Sätzen oszillierte die Selbstdarstellung der Kollegen. Wahrscheinlich stimmt beides.

Frustration, Wut und Erschöpfung konnte man aufseiten der Aktivisten erleben. Lina Ben Mhenni, die mit ihrem Blog „A Tunisian Girl“ maßgeblich am Beginn der Revolte beteiligt war, wirkte extrem desillusioniert und ausgepowert. Sie sprach von zunehmenden Attacken, auch von physischen Bedrohungen gegen selbstbewusste, freiheitsliebende Blogger wie sie. Ganz offensichtlich hat die Ermordung Belaids sie mitgenommen.

Hani Shukrallah aus Kairo, eine der wichtigsten säkularen Stimmen der ägyptischen Debatte, berichtete von Hetze in salafistischen und MB-nahen Medien gegen ihn und andere Liberale. Es seien unter Mursi mittlerweile mehr Journalisten und Blogger wegen „Beleidigung des Präsidenten“ belangt worden als unter Mubarak. Rasha Abdullah, die an der Uni Kairo über Journalismus forscht, sprach ebenfalls davon, die Meinungsfreiheit sei „auf dem Rückzug“ in Ägypten. Zwar seien die Bürger heute schwerer einzuschüchtern als vorher und lehnten sich gegen die Autoritäten auf, aber der Preis dafür sei hoch, und dies sei eben nicht mit Pressefreiheit zu verwechseln.

Der aus Tunesien stammende Journalist Noureddine Fridhi (für Al-Arabya in Brüssel) sagte, es gebe in Tunesien keine staatliche Zensur und somit eine beispiellose Pressefreiheit. Doch sei die Medienlandschaft extrem polarisiert und tendenziös. Unternehmer und politische Kräfte unterhalten Medien als Propagandamittel zur Beförderung ihrer jeweiligen Agenda. der so entstehende Pluralismus sei extrem verwirrend für das Publikum, weil die immer gleichen Positionen auf einander treffen.

Um ein realistisches Bild von der Lage im Land zu bekommen, sei man auf ausländische Medien angewiesen (was wiederum vor allem Eliten nutzen können). Das bestätigte die Leiterin der Auslandsprogramme von France 24, Karin Osswald: Frankreichs internationaler Sender ist heute in Tunesien die Nummer Eins, vor Al Jazeera und Al Arabya – auch eine erstaunliche Ironie.

Der Kollege Lotfi Hajji von Al Jazeera in Tunesien, der zusammen mit Noureddine Fridhi auf meinem Podium saß, erging sich lange in Anschuldigungen gegenüber dem Westen, der „den Islam“ falsch darstelle. Selbst wenn dem (immer noch?) so wäre (was ich bestreiten möchte), muss man fragen: Ist das Tunesiens Problem? Fridhi hingegen beschuldigte Al Jazeera, „der Sender des Islamisten“ zu sein, jedenfalls werde das in der tunesischen Gesellschaft so wahrgenommen. Hajji schüttelte zwar den Kopf, wich aber aus, er sei kein Sprecher und dürfe sich zur Redaktionspolitik nicht äußern.

Die beiden entscheidenden Networks der arabischen Welt haben unterschiedliche Rote Linien: Al Jazeera kann nicht über katarische Interessen in der Region berichten, über die Politik des Emirs, überall die Muslimbrüder und ihre Ableger an die Macht zu bringen – es ist ja ein Instrument dieses Kampfes. Al Arabya blendet saudische Interessen aus, und infolge dessen etwa die Niederschlagung des Aufstands in Bahrein.

Immerhin wurde dies in Barcelona angesprochen, von einer super mutigen jungen syrisch-polnischen (!) Kollegin namens Rima Marrouch. Es war ein bisschen erschütternd zu sehen, wie die beiden etablierten Kollegen von den mächtigen arabischen TV-Sendern einfach passen mussten, als Rima sie fragte, warum Al Jazeera nichts über die Exzesse der Islamisten (auch in Syrien) berichtet und Al Arabya nichts über den Hintergrund des Aufstands in Bahrain.

Trotz aller Rückschläge vermittelten die Kollegen – sehr viele unter ihnen übrigens Frauen – den Eindruck, dass sie nicht klein beigeben werden. Hani Shukrallah wurde auf Druck der Muslimbrüder in eine frühere Pensionierung gedrängt. Seine Leitung des Internetauftritts des staatlichen Al Ahram Medienkonzerns war offenbar zu unabhängig.  Er ist zuversichtlich, dass er seinen Job in die Hände von leuten übergeben kann, die ebenso aufmüpfig sind wie er selbst.

Die freiheitsliebenden arabischen Blogger und Journalisten richten sich auf einen langen Kampf ein.