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Alles wieder offen im Prozess? – Das Medienlog vom Donnerstag, 30. April 2015

 

Die Hauptangeklagte Beate Zschäpe schweigt im NSU-Prozess – doch nur unter großen Mühen, wie der Gerichtsgutachter Norbert Nedopil in Gesprächen mit ihr herausgefunden hat. Sein Gutachten liegt nun auch mehreren Medien vor. Demnach vereinbarte Zschäpe mit ihren Verteidigern, „unbeteiligt und gleichmütig zu erscheinen“. Nun bemerke sie jedoch, „dass die Fassade des Schweigens allmählich bröckele“ und sie etwa ihre Mimik schwer kontrollieren könne, wie Julia Jüttner und Björn Hengst auf Spiegel Online berichten. Nedopil empfiehlt dem Verteidigungsteam schließlich gar, ihre Prozesstaktik um der psychischen Gesundheit ihrer Mandantin willen zu überdenken.

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Besonders belastend sind für Zschäpe dem Gutachten zufolge die Aussagen früherer Bekannter oder Momente, in denen sie Angaben nicht richtigstellen kann, wie Helene Bubrowski in der Frankfurter Allgemeinen ergänzt. Gerade weil sich die Angeklagte im Prozess nicht äußert, erregt ihre Offenheit jetzt große Aufmerksamkeit: Zschäpe habe den Gutachter „so tief in ihre Seele schauen lassen wie sonst wohl noch kaum jemanden“, schreibt Annette Ramelsberger in der Süddeutschen Zeitung. Es sei vorstellbar, „dass es für die leutselige Zschäpe schwer ist, seit zwei Jahren wort- und regungslos im Gericht zu sitzen“.

Sollte die Verteidigung tatsächlich beschließen, dass eine Aussage Zschäpes sinnvoll sei, so könne sie dies nun mit medizinischen Ursachen begründen – während eine Einlassung aus reiner Prozesstaktik nicht glaubwürdig wäre. Das Fazit: „Es ist nun alles wieder offen im NSU-Prozess.“

Zu einer Überraschung kam es bei der Verhandlung am Mittwoch, als der ehemalige Neonazi Kay S. aussagte. Denn anders als die meisten Zeugen, die der rechten Szene entstammen, übte er sich nicht im Mauern und Relativieren, sondern belastete Zschäpe und den Mitangeklagten Ralf Wohlleben. Die Aussagte legte nahe, „Zschäpe habe sich schon vor dem Gang in den Untergrund im Januar 1998 so weit radikalisiert, dass sie bei einer politisch motivierten Straftat mitmachte“, wie Frank Jansen im Tagesspiegel analysiert. Hintergrund: S. sagte, dass Zschäpe und Wohlleben 1996 an einer Aktion beteiligt waren, bei der Uwe Böhnhardt eine Puppe mit Judenstern und eine Bombenattrappe an einer Autobahnbrücke anbrachte. Im Prozess gegen Böhnhardt habe er sogar gelogen.

Was der Zeuge vor Gericht sagte, „belastet die beiden Hauptangeklagten im Münchner NSU-Verfahren erkennbar“, kommentiert Oliver Bendixen vom Bayerischen Rundfunk. Für Anklage und Nebenklägeanwälte sei dies ein Hinweis, dass Zschäpe ihre Komplizen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt „bei der Begehung der weiteren, sehr viel schwereren Straftaten begleitet haben könnte“. Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl habe bei der Vernehmung detailliert nachgefragt, berichtet Tanjev Schultz in der Süddeutschen Zeitung: „Nun sitzt vor ihm ein Aussteiger, der offenbar reinen Tisch machen will.“ Zulasten der Angeklagten: „Für Wohlleben ist der Mann ein unangenehmer Zeuge“, Zschäpes Verteidigern „dürfte zumindest nicht der gesamte Auftritt missfallen haben“, analysiert Kai Mudrai in der Thüringer Allgemeinen.

Der Mitangeklagte Ralf Wohlleben hat einen dritten Anwalt als Pflichtverteidiger beigeordnet bekommen, wie eine Sprecherin der Nachrichtenagentur dpa bestätigte. Dabei handelt es sich, wie am Vortag berichtet, um Wolfram Nahrat, der sich lange Zeit in der rechtsextremen Szene betätigte.

Das nächste Medienlog erscheint am Montag, 4. Mai 2015.