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Zu sanft für diese Welt

Zehn Jahre ist es her, dass die Europäische Union im französischen St. Malo eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik beschloss. Was ist eigentlich daraus geworden?

Europa, so das Fazit, betreibt Verteidigungspolitik auf die denkbar langsamste Art: auf Basis kleinster gemeinsamer Nenner

Ein Report

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Wer das militärische Hauptquartier der Europäischen Union betritt, ist gleich zweifach erstaunt. Erstens darüber, dass es so etwas überhaupt gibt. Und zweitens über die Sicherheitssorgen der EU-Soldaten. Die Kontrollen am Eingang des Bürogebäudes mitten im Eurokratenviertel von Brüssel fallenstrenger aus als am Empfangsschalter der Nato, jenes großen transatlantischen Konkurrenten draußen vor den Toren der Stadt. Freundliche Wachen bitten den Besucher, neben dem Handy auch seinen USB-Stick am Empfang abzugeben.

Ja, können denn EU-Truppen Feinde haben? Sie sind schließlich notorisch unaggressiv, keine andere Weltmacht wie die aus Brüssel schickt derart diplomatische, derart neutral, sprich: solch tiefblaue Friedensbringer in ferne Länder. Die neueste Manifestation der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) macht sich gerade abmarschbereit für Georgien. Mindestens 200 Beobachter der EU sollen von Anfang Oktober an die Waffenruhe überwachen, die Tbilissi und Moskau nach dem Krieg um Südossetien und Abchasien vereinbart haben. Ausschließlich ziviles Personal, betonen EU-Diplomaten, werde an den Kaukasus entsandt – 40 Kräfte auch aus Deutschland –, um verbotene Truppenbewegungen oder Munitionsdepots in der Krisenregion aufzuspüren.

Natürlich ist das ein Soldatenjob. Aber ebenso natürlich wird die EU sich hüten, in Armeeuniform an den Rändern Russlands zu patrouillieren. Europas Stärke, so die Philosophie seiner Sicherheitsdenker, sind gerade seine Sanftheit, seine Glaubwürdigkeit als Mittler. Ob in Bosnien, dem Kosovo, den Palästinensergebieten, Afrika oder Aceh in Indonesien – wo Europa eingreift, wandeln sich seine Soldaten, Polizisten und Richter zu Nannys für schwer erziehbare Regierungen, zu Sozialarbeitern zwischen Milizenfronten. Was gut war für Europa – Versöhnung, Demokratie und Respekt vor Vielfalt –, kann schließlich für den Rest der Welt nicht schlecht sein. Oder?

Die Frage ist bloß, wie die EU ihre Prinzipien – im konkreten Fall das Eintreten für die territoriale Integrität Georgiens und die Nichtanerkennung von Südossetien und Abchasien – in operative Politik übersetzt.

Im Kaukasus-Case steht zu befürchten: gar nicht.

Weder wird die EU einen weiteren Konflikt mit Russland riskieren, um seine Beobachter in die eigentlichen Krisenregionen hinein zu bekommen, noch wird Brüssel Moskau drängen, die Vertreibungen von Georgiern aus den Provinzen rückgängig zu machen. Europäische Peacebuilding bedeutet in der Praxis, die eigenen Überzeugungen zugunsten einer weitgehenden Neutralität zu verwässern.
Eben dieser Spalt zwischen hehrem Anspruch und nüchterner Wirklichkeit zieht sich durch die gesamte Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

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Die französische Ratspräsidentschaft hatte sich vorgenommen, das militärische Profil der EU zu ungeahnter Schärfe zu schleifen.
Dann kam anderes dazwischen.

Die Selbstwahrnehmung der EU als Soft Superpower, sie mag zwar auf den ersten Blick stimmen. Zwischen 2002 und 2004 waren nach Zählung des Pariser EU Institute for Strategic Studies deutlich mehr europäische Soldaten (33 261) in Friedensmissionen eingesetzt als amerikanische (20 966). Gleichzeitig pflegt das europäische Militär ein gänzlich anderes Lebensgefühl als das amerikanische; es fühlt sich im Frieden, nicht im Krieg.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die EU regelmäßig so niedrigschwellig interveniert, weil jeder Entsendebefehl zugleich den militärischen Minimalkonsens von 27 Mitgliedsstaaten widerspiegelt.

Ein irischer Offizier führt durch die »Operationszentrale« des EU-Militärstabes in Brüssel. In dem Raum, etwa so groß wie drei Klassenzimmer, sieht es aus wie im Arbeitsstall eines Start-up-Unternehmens. Dunkle Flachbildschirme reihen sich aneinander. Das knappe Dutzend Stuhlreihen ist leer.

Bis zu 2000 Soldaten, sagt der Offizier, könnten von hier aus im Ausland geführt werden. Theoretisch. »Aktiviert worden ist das Zentrum seit seiner Gründung 2007 noch nicht.« Denn noch werden die EU-Missionen in aller Welt von nationalen Befehlsständen aus geführt.

Europa mag grenzenlos geworden sein – seine Verteidigungspolitik ist es noch lange nicht. Noch immer dienen die meisten Soldaten und das meiste Gerät zur Verteidigung der Nationalstaaten.

Europas Kraft bleibt daher zersplittert. Die EU verfügt mit 1,9 Millionen Soldaten zwar über mehr Streitkräfte als die USA (1,5 Millionen), und zusammen bringen die Mitgliedstaaten fast ein Viertel der weltweiten Militärausgaben auf. Doch Europas statistische Stärke ist dividiert in je 27 Oberkommandos, Heere und Luftwaffen sowie 22 Marinen. Zudem ist der Zuschnitt der Armeen veraltet. So bringt die EU aus Kalten-Kriegs-Kontingenten zwar noch immer viele Heeressoldaten, 10 000 Kampfpanzer und 2500 Jagdflieger auf – nicht aber genügend weitreichende Transportflugzeuge und staubfeste Hubschrauber, um ihre Truppen in Krisengebiete zu fliegen. Nur ein Fünftel aller europäischen Soldaten gelten derzeit als „verlegbar“.

Im Tschad beispielsweise, wo 3700 EUFor-Soldaten Flüchtlinge aus dem Sudan beschützen sollen, ist Europa auf die Hilfe Russlands angewiesen. Moskau schickte auf Brüsseler Bitten hin vier MI-8 Transporthubschrauber samt 200 Mann Betriebspersonal in den Tschad Ohne sie wäre die EU-Mission gelähmt. Regelmäßig klagen Offiziere außerdem über mangelnde Satellitenaufklärung und inkompatible Kommunikationssysteme der verschiedenen Truppen.

Immerhin hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass europäische Soldaten künftig schneller und besser in modernen Krisen eingesetzt werden sollen, ob zur Terrorprävention, zur Eindämmung regionaler Konflikte oder zum Stopp von illegalem Waffenhandel. Bundeswehr, British Army und Armée française bemühen sich daher um Strukturreformen.

Nur fünf Länder, Großbritannien, Frankreich, Bulgarien, Griechenland und Zypern, geben derzeit mehr als 2 Prozent ihrer jährlichen Haushaltssummen für Verteidigung aus und treffen damit die Marke, die sich alle Nato-Mitglieder selbst gesetzt haben. Am anderen Ende der Skala, weit unter der 2-Prozent-Schwelle, liegen Deutschland, Spanien, Schweden, Österreich und Irland.

Hinzu kommt, dass die militärische Großplanung ist in Europa nach wie vor ein geradezu absurd nationales Geschäft ist. Bis zu 200 Milliarden Euro könnten eingespart werden, wenn die EU-Mitgliedsstaaten ihre Verteidigung gemeinsam koordinieren würden, schreibt Nick Witney in einem Report für den European Council on Foreign Relations.

Doch der Brite, der bis vor Kurzem die Europäische Verteidigungsagentur leitete, kennt die Realität nur zu gut. Bisher hätten »die EU-Mitgliedsstaaten wenig getan, um diesem Ziel näher zu kommen«, lautet sein Fazit. Mehr als einmal hat Witney erleben müssen, wie Europas Verteidigungsministerien munter Waffensysteme nur für ihr Land entwickeln lassen und die Kooperation an nationalen Eitelkeiten scheitert. Witney wirbt auf seinen Reisen durch Europa unverdrossen für eine besser abgestimmte Rüstungspolitik. Bislang mit begrenztem Erfolg.

Im Durchschnitt werden nur 12 Prozent aller Rüstungsprojekte europaweit ausgeschrieben. Die Bundesregierung steht dabei ganz weit hinten. Sie stellt nur 2 Prozent der Beschaffung für die Bundeswehr in den europäischen Wettbewerb. In Frankreich, zum Vergleich, beträgt die Ausschreibungsquote 20 Prozent. In Zukunft, so will es das Europaparlament, sollen Schluss sein mit den Ausflüchten in vermeintliche „nationale Sicherheitsinteressen.“ Rüstungsaufträge, so will es eine Richtlinie, die das Parlament im Januar 2009 verabschiedete, sollen künftig nur noch vergeben werden können, wenn zuvor eine europaweiten Ausschreibung stattgefunden hat. „Ich erwarte nicht über Nacht eine Revolution auf dem Markt“, sagt der liberale Europaabgeordnete Alexander Lambsdorff, „aber es dürfte immerhin vorbei sei mit dem Missbrauch des bisherigen Ausschreibungsrechts.“ Freilich werden sich dann auch die Deutschen daran gewöhnen müssen, dass ihre Soldaten in Afghanistan künftig nicht mehr in Mercedes-Jeeps durchs Gebirge fahren, sondern in Renaults. Andererseits könnte das britische Militär auf Daimler-Laster umstellen.
Insgesamt erhofft sich Lambsdorff eine Stärkung der europäischen Rüstungsindustrie – bei gleichzeitig sparsamerem Einsatz von Steuergeldern. Und langfristig auch eine ausbalanciertere transatlantische Investitionslandschaft. „Es gibt derzeit 89 militärische Forschungsprojekte in der EU, in den USA sind es nur 27“, so Lambsdorff. „Gleichzeitig haben die USA einen Anteil vom 48 Prozent am europäischen Rüstungsmarkt. Umgekehrt haben die EU-Hersteller einen Anteil von 2 Prozent der amerikanischen Militärbeschaffung.“

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Im Dezember will der Außenbeauftragte der Union, Javier Solana, eine neue Europäische Sicherheitsstrategie vorlegen. Sie wird allerdings, so viel ließ der Spanier schon durchblicken, trotz der Georgienkrise nicht noch einmal überarbeitet werden. Unsere Fotos zeigen belgische Soldaten auf der Rue de la Loi, der Hauptstraße des EU-Viertels in Brüssel

Dabei klingen selbst Kanzlerinnen und Kanzlerkandidaten bei offiziellen Anlässen ganz euphorisch. Kurz vor der 50-Jahr-Feier der EU plädierte Angela Merkel öffentlich für eine »EU-Armee«. Im Frühsommer dieses Jahres zog Außenminister Steinmeier nach. Auf einer Tagung der SPD-Bundestagsfraktion forderte er, die »Europäische Armee« so schnell wie möglich zu verwirklichen – sekundiert vom Generalinspektor der Bundeswehr, Wolfgang Schneiderhan.

Seither ist die Integration europäischer Armeen selbst in militärischen Kreisen kein Tabu mehr. Zwar wissen die soldatischen Planer, dass es selbst bei gutem Willen Jahrzehnte dauern würde, um eine Parlamentsarmee wie die deutsche und eine Atommacht wie die Franzosen unter gemeinsamem Kommando steht. Doch auch sie halten das Ziel nicht mehr für irreal.

Der Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, Generalleutnant a. D. Kersten Lahl, warnt gar: »Europa muss seine Hausaufgaben machen und wird in der globalen Welt nur dann eine Rolle spielen, wenn wir auf allen Gebieten handlungsfähig sind. Das bedeutet vor allem die Verbesserung von Fähigkeiten, damit es als ernstzunehmender Partner der USA auch seine eigenen, europäischen Interessen umsetzen kann.«

Noch freilich bleibt der Spalt zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Eigentlich hätte die französische Ratspräsidentschaft in diesen Monaten zumindest ein paar Hürden aus dem Weg räumen wollen. Ursprünglich hatte Präsident Sarkozy einige weitreichende Pläne, um zumindest die Armeen einiger Pionierländer zur stärkeren Synergie zu bringen.

Doch inzwischen ist das vertagt – wegen der Iren. Seit die Nein zum Lissabon-Vertrag gesagt haben, ruht in Brüssel fast jedes Dossier, das mehr Integration bringen könnte, allen voran die Verteidigungspolitik. Zu groß ist die Angst, vor einem möglichen zweiten Referendum über den EU-Vertrag die falschen Signale nach Irland zu schicken.

Dabei könnte Europa seine Fähigkeiten schon heute selbstbewusster vermarkten, nach innen wie nach außen. Denn zwischen der oftmals prekären Sicherheit, die UN-Blauhelme bieten, und der »roten«, feuerstarken Sicherheit, die das US-Militär verbreitet, klafft eine geopolitische Marktlücke. Die Nische für die Europäer, sie hieße: weiche Sicherheit, hart durchgesetzt.

Das jedenfalls ist eine Vorstellung, die nicht nur draußen, beim ausgelaugten Bruder Nato, immer mehr Sympathisanten findet.

Mitarbeit: Petra Pinzler

 

Dachschaden

Die einzige Angst der Gallier ist bekanntlich, dass ihnen der Himmel auf den Kopf fällt. Genau das ist jetzt passiert. Im Plenarsaal des Straßburger Europarlaments brach ein Teil der Deckenkonstruktion ein, die Trümmer prasselten herab auf die Sitze der Abgeordneten.

Glücklicher Weise geschah das Ganze während der Sommerpause, niemand kam zu Schaden.

Niemand? Naja, fast niemand. Denn das Malheur lenkt die Aufmerksamkeit manches Untertanen mit einem Schlag auf den größeren europäischen Dachschaden, der hinter Straßburg steckt – und für den heute allen voran Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy die Verantwortung trägt.

Das Straßburger Plenargebäude nämlich bildet einen vollkommen überflüssigen Zweitsitz für das Europäische Parlament. Alle drei Wochen brechen die 785 Abgeordneten aus Brüssel samt Mitarbeitern für eine Sitzungswoche ins Elsaß auf. Angeblich wird auf diese Weise die deutsch-französische Freundschaft gefördert.

Fördern tun sich die Abgeordneten freilich in erster Linie selbst – mit bis zu 12 000 Euro Sitzungspauschalen. Den Steuerzahler kostet diese Art der Völkerverbindung pro Jahr insgesamt geschätzt 200 Millionen Euro. Immer mehr grenzpendelnde Europaparlamentarier kostet sie mittlerweile allerdings auch den letzten Nerv.

Regelrecht erfreut zeigen sich deshalb viele von ihnen dieser Tage über das geknickte Gebälk in Straßburg. Denn es beschert ihnen bis auf Weiteres einen Zwangsverbleib im Brüsseler Heim. „Große Erleichterung“, registriert der deutsche SPD-Abgeordnete Jo Leinen (bisher nicht bekannt für Frankreich-feindliche Töne) im Plenarrund. Jetzt, hofft er, jetzt wenn nicht jetzt, sei die Gelegenheit für Nicolas Sarkozy, über die Zukunft von Straßburg nachzudenken. Zusammen mit anderen Kollegen schreibt er entprechende Briefe nach Paris.

Der deutsche liberale EP-Abgeordnete Wolf Klinz schlägt Sarkozy in einem Schreiben vor, „in den Räumen des Europäischen Parlaments eine Diplomatenschule der Europäischen Union einzurichten, in der der diplomatische Nachwuchs aller Mitgliedstaaten etwa sechs Monate seiner gesamten Ausbildungszeit zubringt, um sich speziell mit Fragen der EU zu beschäftigen. Die angehenden Diplomaten der EU-Mitgliedstaaten würden lernen, in Fragen der EU zunehmend mit einer Stimme zu sprechen. Die persönlichen Beziehungen, die sich während der gemeinsamen Ausbildungszeit in Straßburg ganz natürlich entwickeln, wären eine ausgezeichnete Basis für die vertrauensvolle Zusammenarbeit der europäischen Diplomaten im Laufe ihrer Karriere.“

Ach ja, schön wär’s, in Paris ließe man sich von solchen Ideen beeindrucken. Aber wie war das noch mit diesem gallischen Dorf? Irgendwie hat es immer geschafft, sich auch die stärkste Legion vom Leib zu halten.

 

Die neue Nato heißt EU

Oder: Wie der Georgienkrieg das Zentrum des Westens nach Osten verschoben hat

Welches Bündnis sorgt eigentlich noch für mehr Sicherheit in Europa?
Die Nato oder die EU?

Gut einen Monat nach Ende des Fünftagekrieges um die abtrünnigen Provinzen in Georgien drängt sich eine klare Bilanz auf. Die Nato hat sich durch eine amerikanisch injizierte Überreaktion selbst gelähmt. Unmittelbar nach Ausbruch der Kämpfe legte sie den Nato-Russland-Rat auf Eis und begab sich damit der Möglichkeit, als Mittler einzuspringen. Die EU hingegen hat zwar kleinmütig, am Ende aber wenigstens als formender Akteur gewirkt.

Zwar ist das Ergebnis von Sarkozys Pendel-Diplomatie zwischen Moskau und Tiflis nicht formidabel (die EU nimmt es hin, dass die von ihr noch immer als georgisch betrachteten Provinzen Südossetien und Abchasien von 7600 russischen Soldaten überflutet werden, dass ethnische Säuberungen ungesühnt bleiben und dass ihre Beobachter sich auf Kerngeorgien beschränken müssen). Aber immerhin reden die Konfliktparteien mit Brüssel, ja, sie nehmen die EU als halbwegs unparteiisch war – im Gegensatz zu den Amerikanern, die von Anfang an wie eine pro-georgische Schutzmacht auftraten.

Die Ukraine hat (die innenpolitischen Gründe einmal unerwähnt) daraus eine interessante Lehre gezogen. Sie strebt vor allem eine EU-Mitgliedschaft an, erst dann, vielleicht, einmal eine Mitgliedschaft in der Nato.

Das Resüme der Georgien-Krise lautet deshalb: Das Solidaritäts- und Sicherheitsversprechen des Westens hat sich nach Osten verschoben. Weg von der Nato, hin zur EU. Der Westen ist nicht mehr Washington-zentrisch, er ist Brüssel-zentrisch.

Diese Entwicklung ist auch eine Folge der gewandelten Vorstellungen von den Methoden, die geopolitische Sicherheit schaffen. Der Paktgedanke der Nato, sprich: mit überlegener Raketen- und Soldatenschlagkraft den Gegner abzuschrecken, ist überholt.
Laut einer Umfrage des Institutes Harris und der Financial Times von September würden 50 Prozent aller Deutschen, 40 Prozent aller Spanier und 39 Prozent aller Italiener es ablehnen, nationale Truppen zur Verteidigung der Baltenstaaten zu schicken, falls diese von Russland angegriffen würden. 73 Prozent der Deutschen und 62 der Franzosen lehnen es außerdem ab, trotz der neuen Aggressivität Russlands mehr Geld für die Verteidigung auszugeben. Und fast die Hälfte aller Deutschen, Engländer und Franzosen stehen einem möglichen Nato-Beitritt Georgiens und der Ukraine gleichgültig gegenüber.

In der globalisierten Welt zählt eben mittlerweile ein anderer Gedanke: Wir alle sind auf wirtschaftlichen Austausch angewiesen. Wer aber gemeinsam engen Handel treibt, der entwickelt auch besonderes enge gemeinsame Interessen – inklusive Sicherheitsinteressen.

Zu dieser These zwei Proben aufs Exemple:

Finnland ist kein Nato-, wohl aber ein EU-Mitglied. Was würde nun passieren, wenn Russland den finnischen Teil der Grenzregion Karelien angreifen würde (das ist kein besonders wahrscheinliches Szenario, aber nehmen wir es einfach einmal an)?
Es stünde wohl außer Zweifel, dass die EU (jedenfalls ihre Eliten) reagieren würde wie ein Militärbündnis. Sofortige Sanktionen, Reisebeschränkungen und das Ende aller Partnerschaftsverhandlungen mit Moskau wären die erste Folge, Truppenmobilisierungen und eine Alarmierung der EU Battle Groups höchstwahrscheinlich die zweite. Die EU würde sämtliche Zähne zeigen. Ganz einfach deshalb, weil sie in Finnland handfeste Interessen bedroht sähe. Allen voran die Integrität ihres Wirtschaftsraumes.
„In Finnland lautet ein Argument gegen den Nato-Beitritt, er sei doch einfach nicht nötig. Schließlich seien wir doch EU-Mitglied, und niemand traut sich ein EU-Mitglied anzugreifen“, sagte mir unlängst ein finnischer Diplomat in Brüssel.

Nun die Gegenprobe:

Die Türkei ist Nato-, aber kein EU-Mitglied. Was würde wohl passieren, wenn Russland die Türkei angreifen würde, an der Schwarzmeerküste etwa. Kein Zweifel. Europa brächte längst nicht so viel Solidarität auf wie im Finnland-Fall. Im Nato-Hauptquartier würden die Gesandten aus Berlin, Paris oder Warschau so lange wie möglich nach politischen Alternativen suchen, um bloß nicht einen ihrer Soldaten an den Bosporus entsenden zu müssen.

Was lernen wir daraus? Die EU ist de facto die viel stärkere Solidargemeinschaft als die Nato. Weil sie die viel stärkere Schicksalsgemeinschaft ist. Der Begriff der „Finnlandisierung“ stand in der Sicherheitpolitik früher einmal für etwas anderes. Heute könnte er als Chiffre stehen für die natürliche Fürsorge, die ein Freundeskreis wie die EU sich untereinander gewährt.

It’s the economy, stupid! – diese Weisheit gilt auch für die Sicherheitspolitik des 21. Jahrhunderts.

Mehr zur Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik in der aktuellen Print-Ausgabe der ZEIT, Seite 9

 

Schmerz durch Kuscheln

Sarkozys Moskau-Reise zeigt: Europa beginnt, seine eigentliche Stärke zu entdecken. Es ist die rücksichtslose Kooperation mit den Rändern Russlands

Die ganze Kraft und den ganzen Kleinmut Europas vereinte Nicolas Sarkozy in Moskau in nur einem Satz. „In einem Monat werden die russischen Truppen von georgischem Territorium abgezogen sein, mit Ausnahme natürlich von Ossetien und Abchasien“, sagte der französische Staats- und derzeitige EU-Ratspräsident nach einem vierstündigen, angeblich spannungsgeladenen Gespräch mit dem russischen Präsidenten Dimitri Medwedjew über die Krise im Kaukasus.

Teil eins des Satzes, die russische Abzugszusage aus dem georgischen Kernland, ist der kleinst denkbare Erfolg, den Sarkozy für die Europäische Union Anfang dieser Woche mit nach Hause bringen konnte. Alles andere wäre für die EU eine blanke Blamage gewesen.

Auf ihrem Brüsseler Krisengipfel schließlich hatten die 27 Staatschefs diese Forderung (die nach ihrer Ansicht ja schon im Waffenstillstandsabkommen vom 12. August festgeschrieben war), mit aller der Gemeinschaft möglichen Verve bekräftigt. Solange noch ein russischer Soldat jenseits der abtrünnigen Provinzgrenzen stehe, lautete die sachte Drohung der EU, werde es keine weiteren Verhandlungen über ein neues Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit Russland geben.

Zurück zum institutionellen business as usual könnte es jetzt schneller gehen als erwartet. Spätestens bis zum 1. Oktober will die EU in der Pufferzone zwischen Abchasien und Südossetien 200 Beobachter in Stellung bringen, im Austausch für die 500 russischen Soldaten, die sich dort völkerrechtswidrig eingegraben haben. Diese Einheiten, so Medwedjews Zusage, werden sich binnen zehn Tagen nach Ankunft der Europäer zurückziehen. Wohin sie marschieren, falls sie marschieren, liegt nahe: zu ihren Kameraden in jene beiden Provinzen, die Russland nach dem georgischen Angriff auf Tschinwali erobert, einseitig anerkannt und allem Anschein nach in den Tagen darauf ethnisch „gesäubert“ hat. Dies jedenfalls legt die georgische Regierung derzeit vor dem internationalen Gerichtshof in Den Haag mit einiger Überzeugungskraft dar.

Genau diese Vorgeschichte lässt den zweiten Teil von Sarkozys Moskauer Erfolgsmeldung verrutscht erscheinen. Wie kann es „natürlich“ sein, dass Europa zu der russischen de-facto-Einverleibung Südossetiens und Abchasiens schweigt? Selbst wenn Georgiens Präsident Michael Saakaschwili den Krieg begann, indem er in Tschinwali Zivilisten bombardieren ließ, und selbst wenn man die russische Argumentation eine historische Sekunde lang ernst nimmt, lediglich die eigenen Staatsbürger verteidigen zu wollen, so rechtfertigt das eine Verbrechen nicht das andere, und schon gar nicht entschuldigt die zweifelhafte neue Doktrin eines Ethno-Protektionismus den beispiellosen Unilateralismus, mit dem Russland die Karte des Kaukasus neu zeichnet.

Wie entschiedener der Tonfall der amerikanischen Außenministerin Condoleeza Rice in einem Beitrag in der FAZ vom 24. September:

„Auf beiden Seiten wurden Fehler gemacht“, stellt Rice über die gegenseitigen Provokationen von Russland und Georgien fest, „aber die Reaktion der russischen Führung – der Einmarsch in ein souveränes Land über eine international anerkannte Grenze hinweg, und dann der Versuch, das Land durch die Anerkennung Abchasiens und Südossetiens zu zerteilen – war unverhältnismäßig.“

Diese Aggression fordere vom Westen erstens Standhaftigkeit:

„Wir können es uns nicht leisten, die Vorurteile zu bestätigen, die einige russische Politiker anscheinend haben: dass, wenn man Druck auf freie Nationen ausübt – wenn man einschüchtert, bedroht und losschlägt, wir aufgeben und uns letztendlich geschlagen geben werden. Die Vereinigten Staaten und Europa müssen derartigem Verhalten die Stirn bieten und dürfen es nicht erlauben, dass die Aggression Russlands irgendeinen Nutzen hat.“

Und zweitens eine klare strategische Ansage an Russland:

„Die Vereinigten Staaten und Europa werden nicht zulassen, dass die russische Führung doppelgleisig fährt und auf der einen Seite die Vorteile der internationalen Regeln, Märkte und Institutionen genießt, aber gleichzeitig ihre unmittelbaren Grundlagen in Frage stellt. Es gibt keinen Mittelweg. Ein Russland des 19. Jahrhunderts kann nicht Seite an Seite mit einem Russland des 21. Jahrhunderts in der Welt auftreten.“

Über das politisch wie moralisch Widernatürliche, das währenddessen in Sarkozys „Natürlich“ liegt, dürfte die EU schon bald wieder in Streit geraten. Denn während das „kalte Europa“ (die Baltenstaaten, Polen, Schweden und Großbritannien) nach wie vor der Ansicht ist, Russland müsse spürbarer bestraft werden, um weitere moskowiter Ausfallschritte zu verhüten, glaubt das „warme Europa“ (Frankreich, Deutschland und Italien), Russland am besten durch neue Sicherheitskooperativen zähmen zu können. Während des EU-Außenministertreffens vergangene Woche in Avignon trat diese Spaltung noch einmal klar zu Tage.

Vor allem Frank-Walter Steinmeier will die EU auf Konferenzkurs bringen. Zunächst soll am 15. Oktober in Genf ein internationales Treffen über die Zukunft des Kaukasus stattfinden. Darüber hinaus hat die Türkei angeboten, eine „Stabilitätskonferenz“ für die Schwarzmeeranrainer Ukraine, Moldawien, Russland, aber auch Armeniern und Aserbaischdschan auszurichten. Sie könnte, glaubt ein deutscher Diplomat, zu einem „dauerhaften Mechanismus“ werden, zu einer Art Kaukusus-OSZE also.

Tatsächlich ist zu hoffen, dass die Dialog-Befürworter der EU auf den noch anstehenden Krisentreffen der Gemeinschaft die Oberhand behalten. Denn die Steinmeierisierung der europäischen Russlandpolitik ist (ja, liebe Blogleser, damit auch etwas Abbitte) richtig. Allerdings nur deshalb, weil sie keineswegs so defensiv ist, wie ihre Verteidiger glauben.

Russland lässt nicht mit Peitschenhieben (Ausschluss aus den G8, Visa-Beschränkungen, Blockierung des WTO-Beitritts) zur Kooperationspolitik zwingen. Nachdenklich werden allerdings dürften die Putinisten, wenn der Westen jetzt umso entschlossener den Druck der russischen Pipelines drosseln würde – und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Russland tritt vor allem deshalb so selbstsicher auf, weil es sich erfolgreich zum geopolitischen Nadelöhr für Gas- und Öllieferung nach Europa gemacht hat.

44 Prozent der Deutschen fürchten laut einer Allensbach-Umfrage, dass Russland seine Öl- und Gasvorräte nutzen könnte, um Deutschland politisch zu erpressen.

Mit jedem Schlauchanschluss, den der Westen selbst Richtung Kaspisches Meer legt, mit jedem Kubikmeter Gas, der durch die Nabucco-Pipeline vorbei an Russland, durch Aserbaidschan durch Georgien und die Türkei in die EU geschleust wird, werden die Europäer einen Teil dieser Angst und Moskau damit einen Teil seiner außenpolitischer Arroganz verlieren. Deshalb ist alles gut, was der Stabilisierung dieser Länder dient, alles, was Investoren anlockt und alles, was einen echten Wettbewerb um Rohstoffe zulässt, die in der Hand von Nationalisten schlecht aufgehoben sind. Das hübsch-perfide an der Europäischen Nachbarschaftspolitik ist, dass sie das Potenzial hätten, Russland zu isolieren ohne dass die EU irgendwelche Sanktionen gegen Moskau verhängen müsste. Die EU müsste bloß die russische Peripherie so warm an sich binden, dass sich Russland im Vergleich unterkühlt fühlt.

Öl und Gas machen Russland unilateral. Etwas weniger davon könnte es zum besseren Partner machen.

 

Des Kremls General

Der russische Nato-Botschafter Dimitri Rogosin schockt Europa immer wieder mit seinen Ausbrüchen. Was denkt der Mann wirklich? Ein Treffen

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Der Raum war zu klein für den Mann und seine Botschaft. Um die fünfzig Journalisten drängten Mitte August in das Besprechungszimmer der russischen Mission bei der Nato, um zu hören, wie Dmitri Rogosin den soeben gefällten Beschluss der Allianz bekrähen würde. Mit Russland, so hatten die 26 Außenminister Nato-Außenminister nebenan im Hauptgebäude Minuten vorher beschlossen, könne es nach dem Feldzug gegen Georgien kein „business as usual“ mehr geben. Der Nato-Russland-Rat werde bis auf Weiteres auf Eis gelegt. Hochspannung im Russenquartier: Wie würde Rogosin, das enfant terrible der europäischen Diplomatenszene, darauf reagieren?

Der Mann enttäuschte nicht.

„Die Allianz ist jetzt isoliert!“, schmetterte er den stifteschwingenden Reportern entgegen. Statt endlich zu erkennen, welch Fehler es gewesen sei, den georgischen Präsidenten Michael Saakaschwili zu umarmen, lasse sich die Nato nun auch noch von den USA in einen neuen Kalten Krieg treiben. Spätestens nach der georgischen Aggression gegen Südossetien müsse doch klar sein: „Diese Nato sollte erst Hitler, dann Saddam Hussein und erst danach Herrn Saakaschwili aufnehmen.“ In dem unklimatisierten, stickigen Raum tropften den ungläubigen Journalisten nach einstündiger Tirade Schweißperlen auf die Notizblöcke. Dimitri Rogosins Hemdkragen dagegen bekam nicht einmal einen feuchten Rand.

Es sind solche mephistophelischen Momente, die den 44jährigen Rogosin erscheinen lassen wie die leibhaftige russische Außenpolitik. Blitzschnell ausholen, krachend zuschlagen und das Staunen der Welt mit kühler Miene quittieren. Im Januar setzte Wladimir Putin den hartgesottenen Nationalisten mit dem jungenhaften Rehblick auf den Brüsseler Nato-Posten. Seitdem lässt der gelernte Journalist keine Gelegenheit aus, anti-diplomatische Schockwellen durch den Medienäther zu senden. Den Vormarsch der 58. russischen Armee nach Georgien kommentierte er mit den Worten: „Jetzt fährt Amerikas Lieblingskind zur Hölle!“

Wenn es Putins Absicht war, ein Megaphon des russischen Weltschmerzes in die Nato-Zentrale zu hängen, dann hat er mit Rogosin eine talentierte Wahl getroffen. Im kleinen Kreis und ohne Kameralicht kann Rogosin zwar wohltemperiert reden. Doch selbst dann, in einem ansonsten nüchternen Gepräch mit der ZEIT etwa, pfefferte er nonchalant mit Grobheiten nach. Den georgischen Präsidenten bezeichnet Reogosin als einen „Bastard“ und einen „Drogenabhängigen mit krimineller Vergangenheit“. Fliehende Georgier vergleicht er mit „Kakerlaken“. Dabei macht er eine tribbelnde Fingerbewegung über den Marmortisch und lacht den Reporter komplizenhaft an.

Ach, Herr Rogosin, nun einmal ehrlich, was soll das? Sind all diese Ausfälle nicht bloß rhetorischer Punkrock, um Russland Gehör zu verschaffen in europäischen Salons?

„Ich denke wirklich, was ich sage“, antwortet Rogosin. „Es mag schon sein, dass meine Wortwahl schockiert. Aber wenn sie schockiert, dann hoffe ich damit zu erreichen, dass die Leute beginnen, nach der Wahrheit zu suchen.“

Rogosins Wahrheit über die Weltlage sieht so aus: Die Nato ist eine Militärallianz, die den Amerikanern dazu dient, die Europäer kleinzuhalten. Und obwohl die Amerikaner die Terrorinternationale al-Qaida, die sie am 11. September angegriffen hat, mithilfe der CIA in Afghanistan selbst geschaffen hat, lassen sich die Europäer für den weltumspannenden US-Anti-Terrorkrieg einbinden, inklusive eines völkerrechtswidrigen Krieges gegen den Irak. Dieses Amerika, dieses Europa wollen Russland jetzt dafür bestrafen, dass es im Kaukasus sein legitimes Recht wahrgenommen hat? Das legitime Recht seine eigenen Staatsbürger vor dem Völkermörder Saakaschwili zu schützen? Dabei müsse doch gerade Amerika die neue russische Sicherheitsdoktrin verstehen: was für die USA der 11. September 2001 gewesen sei, sei für Russland der 8. August 2008 gewesen – ein massiver Angriff auf seine Staatsbürger. Den jüngsten Beschluss der EU, die Verhandlungen über ein neues Partnerschaftsabkommen mit Russland auszusetzen, bis sich Moskaus Truppen aus dem Kerngebiet Georgiens zurückgezogen haben, geißelt er deshalb „unfair“.

Rogosin spricht vielmehr von einer „Pufferzone“, die Russland um Südossetionen und Abchasien einrichten musste. Sie sei selbstverständlich nur eine vorübergehende Lösung. „Wir wünschen uns, dass aus in diesem Gebiet eine demilitarisierte, international kontrollierte Zone wird, gerne auch mit OSZE- und EU-Beobachtern“, sagt er. „Natürlich werden die russischen Truppen dort nicht für immer bleiben. Natürlich werden wir uns zurückziehen.“ Die Anerkennung von Südossetien und Abchasien als eigenständige Staaten, sie zeige doch gerade, dass Moskau kein Interesse habe, diese Provinzen zu besetzen.

Es mag eine Ironie der Geschichte sein, dass Rogosin gerade wegen seines überschäumenden Nationalismus zum Diplomaten wurde – und gerade wenn es um militärische Selbstbeschränkung Russlands geht, macht ihn seine Vita wenig glaubwürdig. 2003 gründete Rogosin die Partei „Rodina“, („Mutterland“). Ihr Hauptversprechen lautete, ethnische Russen zu beschützen, sei es gegen kaukasische Gastarbeiter, sei es als Minderheiten in ehemaligen Sowjetstaaten. 2006, als „Rodina“ dem Kreml zu mächtig wurde, belegte Putin die Partei mit einem Wahlverbot.

„Das war eine harte Zeit“, erinnert sich Rogosin heute. Zum Glück allerdings habe sich in dieser Krise ein Mensch als echter Freund erwiesen – der heutige Außenminister Sergej Lawrow. „Ich erzähle Ihnen jetzt etwas, was ich noch niemanden erzählt habe“, sagt Rogosin zum Abschied. „Lawrow war der einzige, der mich weiter angerufen und mich unterstützt hat. So etwas vergisst man nicht. 18 Monate später rief mich Putin an, und sagte, er würde gerne unsere Beziehung erneuern. Seitdem halte ich den Posten bei der Nato. Deswegen betrachte ich Herrn Lawrow als einen treuen Kameraden. Niemand, keine Intrige, wird je zwischen uns kommen können.“

Und wieder scheint er zu wirklich zu sagen, was er denkt.

 

Wir bleiben im Gespräch

Auf ihrem Sondergipfel zu Georgien ringt sich die EU zu altbekannter Einigkeit zusammen: Sie reagiert vorerst gar nicht auf die russische Teilbesatzung der Kaukasusrepublik

„Es gibt keinen neuen Kalten Krieg“, stellte der russische EU-Botschafter Vladimir Chizov noch kurz vor Beginn des Europäischen Sondergipfels zur Georgienkrise fest. „Wir leben schließlich in einer vernetzten, globalen Welt“, sagt er in Brüssel. „Ich sehe nicht, dass heute noch unversöhnliche Ideologien aufeinanderprallen würden.“

Nein, unversöhnliche ökonomische Welterklärungstheorien sind es sicher nicht mehr, die Europa und Russland trennen (der Kapitalismus hat sich dort bloß in einer besonders raubtierhaften Ausprägung breitgemacht). Aber eine gemeinsame politische Weltsicht fehlen Europa und Russland wie eh und jeh.

„Stehen wir wirklich nicht vor einem Zusammenprall der Ideologien?“, antwortete der polnische Außenminister Radoslaw Sikorski mit Blick auf die anhaltende Teilbesatzung Georgiens durch russische Truppen seinem Vorredner aus Moskau. „Der EU geht es schließlich darum, Grenzen aufzulösen und nicht zu verstärken. Ihre Ideologie ist es, aufgrund von Regeln zu handeln, nicht aufgrund von Macht.“

Vielleicht steckt in diesen Zitaten die kleine historische Marke, die der Brüsseler Septembergipfel setzte. Er steht, wie wohl noch kein anderer Termin seit 1989, für das Ende der Illusionen gegenüber Russland – aber auch für das Ende der Illusion Europas über sich selbst.

Zum einem ist da das vorläufige Ende jenes europäischen Traums zu besichtigen, auch der Rest der Welt, vor allem der nahe gelegene, werde über kurz oder lang die Vorzüge transnationaler Kooperation zu schätzen lernen. Die Vision, wie Jeremy Rifkin sie einmal formulierte, „mit Beziehungen kommt Geborgenheit, und mit der Geborgenheit kommt Sicherheit“, hat offenbar geringere Strahlkraft, als Europa dies bisher wahrhaben wollte.

Hat diese europäische Selbsteinhegung überhaupt je attraktiv gewirkt jenseits des Urals?

Viel spricht dafür, dass Europa den Reiz überschätzt hat, den eine kleingedruckte Hausordnung auf Großmächte mit unbelastetem Nationalgefühl auszuüben vermag. Entsprechend ratlos steht die friedensliebenden Wohngemeinschaft EU heute vor dem Rowdy im Nachbarhaus.

Zu besichtigen war bei diesem Gipfel deshalb auch das Einknicken Europas vor einer neuen Machtpolitik aus Russland. Für die Rückkehr der Realpolitik auf die eurasische Platte, das wurde heute deutlich, fehlt es der Brüsseler Meta-Demokratie schlicht an Verdauungskraft.

Gerade weil sich Europa zivilisierten Spielregeln verschrieben hat, gerade weil es die konsenstechnologisch fortschrittlichste Region des Planeten ist, mangelt es ihm an Regeln zum Umgang mit hartnäckigen Regelverletztern. Die EU erscheint in diesen Tagen, auf diesem Gipfel, wie eine gediegene Familienfeier, an deren Rand ein zu kurz gekommener Cousin kostbares Geschirr zerschmeißt. Man ist allerseits pikiert, möchte aber die projizierte Eintracht nicht zerstören.

Sagen wir es deutlich: Begrenzter als die europäischen Mittel, Russland zu maßregeln, erscheint nach dem heutigen Gipfel nur noch die europäische Bereitschaft, dieses schmale Arsenal von Zwangsinstrumente auch einzusetzen.

Wenn Russland noch Argumente für die Richtigkeit seiner anderen, nennen wir sie neo-imperialen Weltsicht gesucht hat, auf diesem Brüsseler Gipfel konnte es fündig werden. Die 27 EU-Staatschefs haben ihren gemeinsamen Nachmittag für nichts weiter genutzt, als sich in langwierigen Gesprächen zu einigen, vorerst nicht zu reagieren.

Weder die anhaltende Teilbesatzung Georgiens durch Moskau, noch die völkerrechtswidrige Anerkennung Südossetiens und Abchasiens wird bis auf weiteres spürbare Folgen für die Putinisten haben. Zwar verurteilten die EU-Chefs in ihrer Abschlusserklärung alle diese Aktionen. Doch statt aus diesen Feststellungen Konsequenzen zu ziehen, sprach Bundeskanzlerin Angela Merkel davon, jetzt müsse „die Evaluierung beginnen und fortgesetzt werden.“ Vielleicht sollte man besser sagen: Das Aussitzen und Verdrängen.

Ideen, wie die EU auf die Aggression hätte reagieren können, gab es zuhauf. Und einige wären absolut verhältnismäßig gewesen angesichts der Schwere des russischen Aggression. Hier eine kurze Aufzählung des Möglichen und das, was dem Sondergipfel dazu eingefallen ist:

Die EU ruft ihre Mitglieder auf, die georgischen Teilrepubliken Südossetien und Abchasien nicht als Staaten anzuerkennen. Das ist nun kein starkes Signal, sondern eine Selbstverständlichkeit, die in Artikel 2 der UN-Charta ihren Ausdruck findet ( „Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.“)

Die EU könnte die Verhandlungen über ein neues Partnerschafts- und Kooperationsabkommen (PKA) mit Russland aussetzen. Über diesen Pakt sollen auf dem EU-Ratsgipfel im Oktober sowie beim EU-Russland-Gipfel am 14. November weitere Beschlüsse gefasst werden. Bei letzterem Termin wird es wohl auch nach der so unpartnerschaftlichen Aggression Russlands in Georgien bleiben. „Ich habe nirgendwo gehört, dass jemand das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen nicht mehr will“, antwortete der Präsident des Europäischen Parlaments, Hans-Gert Pöttering, am Rande des Gipfels fast überrascht auf die entsprechende Frage eines Journalisten. Vielmehr sei wichtig, „dass unsere Prinzipien in dem Abkommen mit Russland eindeutig zum Ausdruck kommen.“
Als Rechtsfolge des „unverantwortlichen Völkerrechtsverstoßes Russlands“ wäre Pöttering Folgendes am liebsten: „Wir sollten die strategische Partnerschaft nicht beenden. Wir sollten zum Dialog bereit sein, denn wir brauchen Russland.“ Dito äußerten sich Außenminister Steinmeier, dito die Kanzlerin. Die Treffen zu Aushandlung des Partnerschaftsabkommen werden allerdings verschoben, bis die russischen Truppen sich aus dem Kerngebiet Georgiens zurückgezogen haben.

Die EU könnte Reisebeschränkungen erlassen, etwa für russische Regierungs- oder Armeevertreter. Diesen Vorschlag hat Polen in die Runde geworfen. Es gehe allerdings nicht darum, russische Bürger vom Reisen abzuhalten, stellte Polens Außenminister fest, „aber wir sollten über differenziertere Visa-Vergabemöglichkeiten nachdenken.“ Hausverbot für die schlimmsten Krawallmacher also? In der Schlussfolgerung des EU-Gipfels findet sich zu dieser Überlegung kein Wort.

Die EU könnte darauf dringen, Russland teilweise aus der G 8, den wichtigsten Industrienationen der Welt, auszuschließen. Diese Option hat der britische Außenminister David Miliband vor wenigen Tagen vorgeschlagen. “Wir sollten bereit sein, als G 7 zu agieren, falls Russland eklatante Völkerrechtsverletzungen begeht”, schrieb er in einem Beitrag für mehrere englische Zeitungen. Auch dazu kein Satz in der Abschlusserklärung.

Der Westen könnte die Bestrebungen Russlands, der Welthandelsorganisation (WTO) beizutreten, vorerst blockieren. Diese Idee stammt zwar nicht aus Europa, sondern vom demokratischen amerikanischen Präsidentschaftsbewerber Barack Obama, aber warum sollte die EU sie nicht erörtern? Warum auch immer, sie tat es nicht.

Die EU könnte darauf dringen, die olympischen Winterspiele 2014 nicht in der Schwarzmeerstadt Sotschi stattfinden zu lassen. Dies würde allerdings erstens ziemlich hilflos (ist jetzt das IOC für Europas Würde zuständig?) und zweitens ziemlich ziemlich zwecklos würden (nein, ist es nicht, deswegen würde das IOC diese Idee wohl auch nicht sehr beeindrucken.).

Europa könnte sich eine Energiepolitik geben, die den Namen verdient. Bisher lässt sich die EU von Russlands Monopolisten Gazprom systematisch auseinanderdividieren. Dabei ist gar nicht klar, welche Seite eigentlich am längeren Hebel säße, ließe man es drauf ankommen. Zwar ist Europa zu etwa 30 Prozent von russischen Gasimporten abhängig, aber Gazprom liefert 70 Prozent seiner Gesamtexporte in die EU, noch dazu fehlen dem Konzern westliche Investoren, um die Förderleistung aufrechtzuerhalten. War hätte da eigentlich mehr Druckpotenzial? Dass die EU hier die Reihen schließen muss, sehen die Regierungschefs nun mit gewisser Dringlichkeit (Schlussfolgerung Nr.8: „Die jüngsten Ereignisse haben gezeigt, dass Europa seine Bemühungen im Bereich der Sicherheit der Energieversorgung verstärken muss. Der Europäische Rat ersucht den Rat, in Zusammenarbeit mit der Kommission, die diesbezüglich zu ergreifenden Initiativen, insbesondere im Bereich der Diversifizierung der Energieversorgung und der Lieferwege, zu
prüfen.)

Die EU könnte ihre Nachbarschaftspolitik ernsthafter vorantreiben. „Die Bevölkerung der Europäischen Union ist dreieinhalbmal so groß wie die Russlands, unsere Wirtschaft fünfzehnmal größer, und unsere Militärausgaben sind zehnmal größer als die Russlands“, stellt der schwedische Außenminister Carl Bildt heute in der FAZ fest. Eine Ost-Partnerschaft der Europäische Union, eine weitere europäische soft power-Vervielfältigung könnte deshalb einhegend auf russische Großmannsgesten wirken. Die Bundeskanzlerin verwies in soweit auf die dafür zuständigen Gipfel, etwa den EU-Ukraine-Gipfel am 9. September.

„Wir sind in ständigem Gesprächskontakt“, sagte die Bundeskanzlerin zum Abschluss des Brüsseler Gipfels. Mit „wir“ meinte sie die EU. Schöner und schrecklicher kann man das Wesen europäischer Außenpolitik derzeit kaum beschreiben.

 

„Vielleicht war der Weckruf noch nicht laut genug“

Die Ukraine fürchtet, nach Georgien könnte auch sie in den Moskauer Klammergriff geraten. Die Regierung ruft deshalb die Europäische Union auf, sie in ihren Sicherheitsraum einzubinden

Ein Interview mit dem stellvertretenden Ministerpräsidenten der Ukraine

Grigorij Nemyria deutet aus dem Fenster seines Büros über die Kiewer Innenstadt hinweg auf die funkelnden Türme der Klosterkirche St. Michael. Vor ein paar Jahren erst haben die Ukrainer die orthodoxe Kathedrale wieder aufgebaut. „Die Bolschewisten haben sie in den Dreißiger Jahren abgerissen“, erzählt der Vize-Premierminister. „An ihre Stelle wollten sie eine riesige Stalin-Figur setzen, sie sollte weit über das Dnjepr-Tal blicken.“ Aus der gigantomanischen Idee wurde nichts; was blieb, war das erste Segment eines gewaltigen Rundbaus, der den Stalin-Platz umschließen sollte. Es beherbergt heute das ukrainische Außenministerium. Die riesige blaue Europa-Flagge, die über seine graue Fassade gespannt ist, sie ist selbst von hier aus noch zu sehen.
Vize-Premier Nemyria ist gerade aus Georgien zurückgekehrt. Was er dort gesehen hat, hat ihn darin bestärkt, dass die Ukraine, jenes sicherheitspolitische Niemandsland zwischen Russland und der Nato, schnellstens eine klare Westbindung braucht. Am besten durch eine Art Sicherheitsgarantie der Europäischen Union. Am besten schon in den nächsten Wochen.
„Die Lehren aus Georgien lauten: Grauzonen sind gefährlich. Das Sicherheitsvakuum hat sich ausgedehnt. Die Ukraine befindet sich in diesem Vakuum.“ Nemyria, ein nüchternder Historiker, neigt nicht zu schlichten Parolen. Aber vielleicht genau deswegen scheint es gerade zu köcheln unter seiner akademischen Oberfläche.

Herr Nemyria, Sie sind gerade aus der georgischen Hauptstadt Tiflis zurückgekehrt, wo Sie Hilfsmaßnahmen koordiniert und Solidarität mit der georgischen Regierung demonstriert haben. Was sind Ihre Eindrücke?

Die Menschen sind geschockt. Gerade hatten sie gemerkt, dass es wirtschaftlich ein wenig bergauf geht. Jetzt fühlen sie sich um fünfzehn Jahre zurück geworfen. Viele Schulen zum Beispiel sind jetzt mit Flüchtlingen überfüllt, das Schuljahr wird also nicht wie üblich beginnen können, sondern vielleicht erst Ende Oktober. Die Regierungsvertreter, die ich getroffen habe, waren auch körperlich gezeichnet von den vergangenen Wochen. Einige redeten übrigens auch über Fehler, die man möglicherweise gemacht habe. Was freilich zeigt, dass Georgien ein Land ist, in dem die Opposition zu Wort kommen kann.

Welche Folgen hat dieser Konflikt nun für Ihr Land? Die Ukraine befindet sich ja in einer ähnlichen sicherheitspolitischen Grauzone zwischen der Nato und Russland wie Georgien.

So ist es. An den Begriff der Grauzone sind wir ja nun schon seit fast zwanzig Jahren gewöhnt. Und ich darf Sie daran erinnern, dass Ukraine einen gefrorenen Konflikt an ihrer Grenze hat, nämlich mit Transnistrien. Das ist übrigens nicht nur unser Problem, sondern auch eines für die EU, denn Transnistrien liegt auch an ihrer Grenze.
Darüber hinaus haben wir auf der Krim eine Lage, die alle typischen Voraussetzungen für die Entstehung eines gefrorenen Konflikts erfüllt. Die Krim ist seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion einer der möglichen flashing points. Immerhin hat es die Ukraine bisher geschafft, ethnische Gewalt auf ihrem Territorium zu verhindern, was für den Zusammenhalt der Zivilbevölkerung und die Reife der politischen Klasse spricht.
Die Lehren aus Georgien lauten: Grauzonen sind gefährlich. Das Sicherheitsvakuum hat sich ausgedehnt. Die Ukraine befindet sich in diesem sich ausdehnenden Vakuum. Regionale Konflikte können sich, wenn die USA durch irgendeine Präsenz involviert sind, zu großflächigen, wenn nicht gar globalen Konflikten auswachsen.

Was folgt daraus für die Europäische Union?

Die EU hat den Kaukasus nicht ernst genug genommen. Die europäischen Führer glaubten, sie könnten mit diesen gefrorenen Konflikten und Grauzonen endlos lange und bequem leben. Sie dachten, sie könnten die Sache in den politischen Kühlschrank legen.

Es gibt ukrainische Intellektuelle, die fürchten, Russland könnte die Krim als ein ukrainisches Südossetien benutzen. Moskau könnte vorgeben, die russischsprachige Bevölkerung dort vor der Unterdrückung der Kiewer Regierung „schützen“ zu müssen. Ist das ein glaubwürdiges Szenario? Hat die Ukraine hier eine Achillesferse?

Nun ja, jedes Konfliktmanagement sollte mit einem Worst-Case-Szenario beginnen. Und dies wäre in der Tat der schlimmste Fall. Um dies zur verhindern, sollten wir politische Antworten parat haben. Die Krim gilt seit der Unabhängigkeit der Ukraine als der potenziell gefährlichste flashing point mit Russland. Denn in Hafen von Sewastopol ist die russische Schwarzmeerflotte stationiert. Außerdem leben dort etwa 300 000 Krimtataren, die während des Zweiten Weltkrieges vertrieben wurden und nun auf die Halbinsel zurückkehren. Trotz der Schwierigkeiten, die dies für die soziale Integration mit sich bringt, herrschen dort noch immer Frieden und Stabilität. Was die Krim allerdings braucht, ist ein Programm zur nachhaltigen wirtschaftlichen Belebung. Sie hat ein enormes touristisches Potenzial.

Mit der Schwarzmeerflotte hat Russland allerdings die Möglichkeit, die Lage zu destabilisieren. Drei Viertel der Einwohner der Hafenstadt Sewastopol sind ethnischen Russen, und deren Lebensunterhalt hängt an der Flotte.

Laut des Stationierungsabkommens werden Russlands Schiffe dort bis 2017 bleiben. Es war allerdings von Anfang an klar, dass dieses Abkommen Regelungslücken hat. Jetzt, während des Georgien-Konflikts, tritt eine dieser Lücken sehr klar zutage: Russische Kriegsschiffe sind von Sewastopol aus in die Konfliktregion ausgelaufen, ohne dass die ukrainische Seite etwas davon wusste. Es wäre wünschenswert, dass so etwas in Zukunft abgestimmt wird. Denn auch das lehrt uns der Südkaukausus: Es ist wichtig, der Versuchung unilateraler Entscheidungen zu widerstehen. Denn dies könnte die andere Seite provozieren und zu einer gefährlichen Eskalation führen.

Ist es also an der Zeit, das Sewastopol-Abkommen neu zu verhandeln?

Nein. Es gibt einfach Lücken im Abkommen. Und über die sollte im Rahmen des Schwarzmeer-Subkomitees zwischen beiden Präsidenten gesprochen werden. Wir müssen darüber mit den Russen reden. Wir müssen ihnen harte Fragen stellen. Aber wir müssen auch den Willen haben, einen Kompromiss zu finden.

Weil Sie nicht möchten, dass die Ukraine als Brückenkopf für weitere russische Aggressionen dient?

Kein Land will der Brückenkopf für die Aggressionen eines anderen Landes sein.

Unterschätzt der Westen die Bedrohungen, die derzeit vom Kaukasus ausgehen?

Natürlich! Vielleicht war der Weckruf noch nicht laut genug. Wir müssen uns jetzt schwerwiegende Gedanken machen, auch über die Veränderung unserer Politik. Wir sehen doch gerade, wie schnell gefrorene Konflikt entfrostet werden können – geradezu mit Mikrowellengeschwindigkeit. Es brauchte nur drei oder vier Tage, bis die Lage eskaliert war.
Und wissen Sie, die Ukraine ist eine Ex-Atommacht. Unsere militärischen Kapazitäten sind moderner, und unsere ist Armee größer als die von Georgien. Und wir haben potenzielle Konflikte an unseren Grenzen. Und wenn wir schon von Worst-Case-Szenarios sprechen: Es gibt, anders als in Georgien, Atomkraftwerke auf dem Territorium der Ukraine.
Ich will nicht von einem Dominoeffekt reden, aber es ist doch offenkundig für jeden, der auf die Landkarte sieht, wie die Lage ist.
Das Schwarzmeer ist im strategischen Sinne kein Binnenmeer. Es hat militärische Bedeutung, von seiner Wichtigkeit für die Ölförderung ganz zu schweigen. Die EU allerdings hat sich innerhalb ihrer Schwarzmeerpolitik bisher um Umweltschutz, kleinen Grenzverkehr und kulturellen Austausch gekümmert. Vielleicht sollte sich auch fragen, was passieren würde, wenn der Ölstrom versiegt.

Was erwarten Sie angesichts dieser Analyse konkret vom Westen, von Europa?

Nun, die Reaktion der EU auf die Georgien-Krise ist ja schon einmal sichtbarer als sonst. Ich denke, die EU reagiert damit auf das Versagen ihrer eigenen Nachbarschaftspolitik. Denn ein Ziel der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) war es, eine stabile und sichere Nachbarregion zu schaffen. Dieses Ziel ist gescheitert. Das zeigt, dass die ENP in ihrem jetzigen Zuschnitt und Instrumenten nicht geeignet ist, ihren Zweck zu erfüllen. Das spricht dafür, diese Politik upzugraden, oder sie um etwas zu erweitern, das garantieren würde, dass etwas Ähnliches in Zukunft nicht passieren kann. – Und dass die bereits ausgebrochenen Konflikte angemessenen kontrolliert werden können.

An welches „etwas“ denken Sie dabei?

Wir denken, dass die Ukraine in ungewöhnlich hohem Maße in die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESDP) hineinpasst, besonders in deren Konfliktmanagementdimension. Denn trotz der flashing points, die wir im Land haben, ist die Ukraine ein außergewöhnlich stabiles Land. Ich darf unter anderem an die Erfahrungen der ukrainischen Friedenstruppen erinnern, die sie während ihrer Missionen im ehemaligen Jugoslawien und außerhalb Europas gesammelt haben. Wir haben Fähigkeit und Kenntnis zur Kooperation bewiesen. Die ukrainische Führung hat darüber hinaus die politische Absicht, formellere Bande mit der ESDP zu knüpfen. Wir halten sie für eine der, wenn Sie so wollen, strategischen Autobahnen in Richtung europäischer Integration der Ukraine. Dazu zählen natürlich auch Freihandelsabkommen und Visa-Erleichterungen.
Die zweite klare Schlussfolgerung aus dem Georgien-Konflikt lautet: Es gibt gemeinsame Bedrohungen, und niemand darf isoliert sein. Es muss deshalb gemeinsame Antworten geben. Weder ein Einzelstaat noch Staatengruppen sind in der Lage, den Ausbruch solcher Konflikte zu verhindern. Dies kann also keine Aufgabe für subregionale Organisationen sein.

Aber glauben Sie denn, Russland würde sich von einer engeren Einbindung der Ukraine in die ESVP beeindrucken lassen? Wäre nicht vielmehr die Nato das Mittel der Wahl, um Sicherheit für die Ukraine zu garantieren?

Beides widerspricht sich nicht. Aber sehen Sie, anders als Georgien haben wir eine Grenze zur EU. Diese unmittelbare Nachbarschaft spricht doch für eine engere Zusammenarbeit in der ESDP. Noch einmal, das wäre ein wichtiger Schritt. Damit würde die EU auch zeigen, dass sie es ernst meint mit der Ukraine und keine Entwicklung übersieht, die womöglich zu Instabilität an ihren unmittelbaren Grenzen führt.

Woran denken Sie konkret? An eine Art militärische Solidaritätsklausel der EU für die Ukraine?

Ich denke, darüber sollten wir sprechen, wenn wir das neue Partnerschaftsabkommen verhandeln. Es geht dabei ja auch um Garantien für unsere Souveränität.

Denken Sie also, die Ukraine sollte letzten Endes Mitglied einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft werden, wenn schon nicht Mitglied der EU?

Wir betrachten das nicht als Alternativen. Wir betrachten es eher als Phasen (stages). Wir werden nicht eine Submitgliedschaft im Club gegen die Vollmitgliedschaft eintauschen.

Werden Sie also während des EU-Ukraine-Gipfels am 9. September eine engere militärische Zusammenarbeit mit der EU fordern?

Das wäre ein guter Ort, die Verhandlungen zu führen. Schweden und Polen haben ja schon eine Initiative in dieser Richtung vorgelegt. Ich habe mit den Außenminister Bildt und Sikorski schon darüber geredet. Wir haben jetzt die Gelegenheit, diese Ideen aufzuwerten, mehr Kooperation zu erreichen, als sie Frankreich bisher vorschwebte. Ich registriere übrigens auch bei meinen deutschen Gesprächspartnern einen größeren Appetit auf Zusammenarbeit.
Wir erwarten von diesem Gipfel eine neue Dynamik für die Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine. Wir brauchen neue Ideen und Diskussionen über die ESVP. Wir erwarten auch neue Ideen dazu, wie die Ukraine ein integraler Teil der Europäischen Energiesicherheit werden kann.
Die Nato-Perspektive steht diesen Vorschlägen nicht entgegen, sie ergänzt sie vielmehr. Aber natürlich wäre es für die Nato eingewöhnlich, ein Land einzubinden, das Konflikte auf seinem Territorium hat. Deshalb müssen wir alle ergänzenden (supplementary) Ideen erörtern.
Sehen Sie, unsere Bevölkerung ist in der Nato-Frage gespalten. Gegenüber der EU hingegen besteht Einigkeit. Deshalb ist, was die Unterstützung durch die Öffentlichkeit angeht, die EU-Schiene vielversprechender. Ganz davon abgesehen, dass die Nato-Staaten selbst gegenüber der Ukraine gespalten sind.

Auch für Russland wäre eine Einbindung der Ukraine in die EU wahrscheinlicher leichter verdaulich. Wollen Sie Ärger mit Moskau vermeiden?

Also, ich will nicht, dass Ärger-und-Angst-Erwägung irgendeinen Ausschlag geben. Russland fühlt sich doch selbst zu einem Teil europäisch. Natürlich will es nicht Teil der EU werden, aber es zeigt doch viel Ehrgeiz bei dem Versuch, ein neues strategisches Abkommen (framework) mit der EU zu schließen. Es wäre doch sehr legitim von der EU, hier eine Position zu beziehen. Die EU hat ein Interesse an einer stabilen Nachbarregion. Und die Position der Ukraine hat dabei eine Schlüsselbedeutung. Wegen unserer Größe und wegen unserer Rolle.

Lassen Sie mich dennoch eine gemeine Frage stellen. Die EU ist bisher nicht als ein besonders kraftvoller Akteur aufgefallen. Sie zeigt sofort Unterwerfungsgesten, wenn sie mit autoritären Regimes konfrontiert wird. Glauben Sie, dass es ihrem Land tatsächlich mehr Sicherheit bringen würde, wenn Europa ihnen eine Art Beistandsgarantie geben würde?

Sicherheit bedeutet nicht nur harte Sicherheit. Sicherheit bedeutet auch weiche Sicherheit, und Sicherheit hat auch eine wirtschaftliche Dimension. Europa weiß das doch. Es gibt eine gegenseitige Gas-Abhängigkeit zwischen Russland und der EU. Deswegen ist für uns zum Beispiel ein weitreichendes Freihandelsabkommen mit der EU ein Teil des Sicherheitsnexus – und ein klarer Pfad für die Ukraine. Das würde garantieren, dass es für Russland, um das mildeste Wort zu benutzen, kontraproduktiv wäre, die Anwendung irgendeiner Form von Gewalt in Erwägung zu ziehen.

Georgien Präsident Saakaschwili hat gesagt: „Die Sowjetunion kehrt zurück.“ Stimmen Sie ihm zu?

Nein. Die Ukraine war – als Erbe der Sowjetzeit – lange Zeit Opfer eines Kleiner-Bruder-Komplexes. Den bewältigen wir gerade erfolgreich. Die Ukraine ist ein unabhängiges, souveränes, demokratisches Land, das Land der Orangen Revolution. All das ist Grund gut für Selbstachtung und für ein Ende des Minderwertigkeitskomplexes.
Natürlich gibt es Anzeichen dafür, dass die so genannte „gesteuerte Demokratie“ zu Überreaktionen neigt, und das erinnert in gewisser Weise an alte Zeiten. Aber: Es gab in vielen Ex-Sowjetstaaten in den vergangenen Jahrzehnten Momente, die die Geschichte verändert haben. Für Polen war es die Solidarnocz-Bewegung, für Ungarn war es Budapest 1956. Für die Tschechen 1968. Für die Ukraine war es die Orangene Revolution 2004. Das war der Moment, der die Ukraine als europäischen Staat definierte.
Es bleibt noch abzuwarten, welches geschichtliche Ereignis sich in Russland abspielen wird, um ein neues Russland zu definieren. Ein Russland, das wirklich Teil der globalen Gemeinschaft sein will. Vielleicht die Olympischen Spiele in Sotschi? Oder die Wahl eines neuen Präsidenten?

Der russische Außenminister Lawrow behauptet allerdings heute schon, sein Land sei zusammen mit Amerika und Europa Teil der westlichen Zivilisation. Würden Sie dem nach den Ereignissen in Georgien noch zustimmen?

Sehen Sie, genau das habe ich unlängst den Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses der Duma, Konstantin Kossatschew, gefragt. Ich sagte ihm, um bestimmen, was man sein will, muss man wissen, was man ist. Wir hatten die Orange Revolution. Was ist der definierende Moment Russlands? Kossatschew überlegt vielleicht 20 Sekunden lang. Dann sagt er: Die Wahl Präsident Putins im Jahr 2000. Das gibt Ihnen einen Eindruck vom Von-oben-nach-unten-Denken dieses Landes. Die Veränderung kam von oben, nicht von unten.

Die Frage ist nun natürlich, wie man Putin einschätzt. Ist er ein Imperialist?

Nun ja, es gibt so Definitionen von Imperialismus.

In Putins Fall könnte sie lauten: Er ist nicht bereit, Regierungen in seiner Peripherie zu dulden, die einen Westkurs einschlagen.

Ich denke, was im Südkaukasus passiert ist, ist ein Test für viele Führer, unter ihnen Putin. Auch ein Test für Saakaschwili. Kann er der Versuchung des Autoritarismus widerstehen? Auch ein Test für die europäischen Führer. Für Kanzlerin Merkel. Es ist ein sehr guter Zug, dass sie nach Sotschi und nach Tiflis gereist ist. Auch ein Test für die ukrainische Führung.

Im Moment gibt es in Europa zwei Strömungen. Die einen, die neuen osteuropäischen Mitgliedsstaaten, verlangen gegenüber Russland eine härtere Politik. Die anderen, inklusive Deutschland, bleiben einer weichen Dialogstrategie. Erleben wir noch einmal eine Teilung zwischen „altem“ und „neuem“ Europa?

Nein. Aber ich denke schon, wir stehen vor einem entscheidenden Moment. Wir sollten jetzt eine Politik entwickeln, die, lassen Sie mich es so sagen, immun gegen Improvisation ist. Alles andere wäre zum Scheitern verurteilt. Wir brauchen jetzt nüchterne Analysen und kollektive Antworten. Die ENP hat keine entwickelte Sicherheitsdimension. Wir brauchen jetzt einen Prozess, an dem sich sowohl die EU, wie auch der nächste amerikanische Präsident, wie auch Russland beteiligen können. Man kann keine globale Sicherheit herstellen, in dem man die Welt in Schwarz und Weiß aufteilt.

Die Ukraine strebt aber schon weiter die Nato-Mitgliedschaft an?

Ja. Vielleicht sollten wir jetzt, nach dem Georgien-Konflikt, auch noch einmal neue Meinungsumfragen in Auftrag geben. Vielleicht hat sich die Einstellung der Bevölkerung geändert – auch gegenüber Amerika.

 

Brandstifter und Kremlmänner

Liebe Leser,

angesichts der massiven Empörung über den vorausgegangenen Blogeintrag hier ein paar klärende Worte.

Mit der Verurteilung Russlands ist noch nichts über das Verhalten des georgischen Präsidenten Michael Saakaschwili gesagt. Das Vorgehen seiner Streitkräfte in Tschinwali erscheint in der Tat kriegsrechtswidrig, wenn nicht kriminell. Es ist sogar wahrscheinlich, dass sich sich die georgische Regierung damit als Nato-Kandidat unmöglich gemacht hat. Sowohl die Nato wie auch Menschenrechtsorganisationen werden den Kriegsablauf hoffentlich bald so präzise wie möglich rekonstruieren. Dann sollte auch Herr Saakaschwili zur Verantwortung gezogen werden.

Dies ändert jedoch nichts daran, dass das Verhalten Russlands vor und nach den georgischen Angriffen auf Tschinwali auf eine lange geplante Invasion Georgien hindeutet. Dafür spricht zum einen das Verteilen von russischen Pässen an Südosseten wie auch die ständigen Provokationen durch russische Kampfflugzeuge und „Friedenstruppen“. Und zum

Ja, Saakaschwili ist ein Heißsporn, der sich zu einem Krieg hat provozieren lassen. Aber das Feuer, die er entfacht hat, wirft vor allem ein alarmierendes Licht auf die politische Natur der Kreml-Führung. Das Bild, das sie derzeit abgibt, ist meines Erachtens wesentlich erschreckender als die Fahrlässigkeit des Brandstifters in Tiflis.

Die weitaus größere Bedrohung für den Frieden an den Rändern Europas geht von einem Russland aus, das erklärtermaßen „seine“ Bürger“ im Ausland zurück in seine Grenzen führen will – und zwar durch Ausweitung seiner Grenzen.

Wer diese Gefahr noch immer nicht sieht, oder sie mit Verweisen auf den Irak-Krieg zu relativieren sucht, unterschätzt meines Erachtens eklatant die strategische Bedrohung für die Wahlfreiheit der Nachbarvölker, die von einem nationalistisch wiedererwachten Russland ausgeht.

 

Good bye, Putin

Wenn Russland es erst meint mit seiner außenpolitischen Doktrin, dann hat es in der westlichen Staatengemeinschaft keinen Platz

Hastings Lionel Ismay, der erste Generalsekretär der Nato, hat einmal prägnant formuliert, wozu das westliche Verteidigungsbündnis ursprünglich da war: „To keep the Americans in, to keep the Russians out, and to keep the Germans down.“

Sechzig Jahre später hat sich das Selbstverständnis der Allianz – was den dritten Punkt betrifft – gründlich gewandelt. Die Nato will die Deutschen nicht mehr am Boden halten; im Gegenteil mahnt der Generalsekretär die Bundesrepublik bei jeder Gelegenheit, endlich ihren Verteidigungshaushalt zu erhöhen.

Amerika, ja natürlich, soll Stützpfeiler der transatlantischer Sicherheit bleiben.

Und Russland?

Ihm gegenüber verfolgte die Nato seit Ende des Kalten Krieges eine Politik der offenen Tür. Es ging ihr nicht mehr darum, Russland draußen zu halten. Tatsächlich waren es gerade die Amerikaner, die Russland geradezu einluden, sich dem Bündnis anzuschließen – vorausgesetzt, Moskau erfülle die politischen Eintrittskriterien. Diese haben die Außenminister des Bündnisses heute noch einmal eindringlich wiederholt:

Die Beachtung „der Prinzipien friedlicher Konfliktlösung gemäß der Helsinki Schluss-Akte, der Nato-Russland-Gründungsakte und der Erklärung von Rom.“ All diese Standards, so die Nato heute, habe Russland durch seinen Feldzug gegen Georgien verletzt.

„Wir können nicht so weitermachen, als wäre nichts passiert“, folgerten die 26 Außenminister, unter ihnen auch der deutsche Frank-Walter Steinmeier. Als erstes werde der Nato-Russland-Rat auf Eis gelegt, erklärt Nato-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer. „Solange russische Truppen weite Teile Georgiens praktisch besetzt halten, sehe ich nicht, dass der Rat zusammen treten kann.“

Angesichts der grundsätzlichen Verhaltens Moskaus sind allerdings Zweifel angebracht, ob der Kreml diese Sanktion als auch nur im entferntesten schmerzhaft empfinden wird. Wenn die unmittelbare Antwort des russischen Nato-Botschafter die Haltung seiner Regierung annähernd wiedergibt, dann ist das nicht der Fall. Seine Reaktion auf die Kontaktsperre des Bündnisses lautete ohne Witz: „Die Nato ist jetzt isoliert.“´

Die Rhetorik aus Moskau mag natürlich von Kampfeslust aufgepuscht sein. Aber die Kampfeslust selbst ist echt – und diese Tatsache muss die Nato vor eine größere Frage stellen. Sie lautet, ob es mit diesem Russland noch irgendeine Basis für einen konstruktiven Dialog, geschweigedenn eine Partnerschaft geben kann, ja, ob es noch Sinn hat, diesem Russland die Tür zum Westen offenzuhalten. Oder ob jetzt die Zeit für eine Renaissance des Russians-out gekommen ist.

Die Frage stellt sich in dieser Härte, weil der Kampfgeist aus Moskau aus einer Weltsicht rührt, die mit westlichen Überzeugungen von einem zivilisiertem globalen Miteinander schlicht inkompatibel geworden zu sein scheinen.

Dimitri Rogosin, erwähnter russischer Botschaft bei der Nato, hat zum Krisengipfel einen Artikel in der International Herald Tribune geschrieben, in dem er Amerika und der Nato Heuchelei vorwirft. Die russische Föderation, argumentiert er, habe in Südossetien lediglich ihr Recht auf Selbstverteidigung gemäß Artikel 51 der UN-Charta wahrgenommen.

Einen solchen Text schreibt der Botschafter nicht ohne Rückendeckung oder Auftrag aus Moskau. Sein Schlüsselsatz lautet:

„Was die Verteidigung von Bürgern außerhalb des Landes betrifft, so wird die Anwendung von Gewalt, um eigene Landsleute zu verteidigen, traditionell als eine Form der Selbstverteidigung betrachtet.“

Wenn diese Annahme tatsächlich die russische Doktrin für die Region zwischen Moskau und Warschau ist, dann sollte sich der Westen keine Illusionen über wahre Denkart der Kreml-Herrscher mehr machen. Dann ist Georgien nur der Auftakt gewesen für eine ganze potenzielle Reihe von russischen Befreiungskriegen, von der Ukraine bis nach Litauen. Dann muss sich Europa fragen, ob die berühmten Worte von Paul-Henri Spaak, dem ersten Vorsitzenden der UN-Generalversammlung, an die damalige sowjetische Delegation nicht immer noch stimmen: „Messieurs, nous avons peur de vous“ (Meine Herren, wir haben Angst vor Ihnen).

Der Nato-Botschafter Rogosin behauptet, auch andere Ländern hätten von Recht auf Verteidigung ihrer Landesleute im Ausland schon Gebrauch gemacht: Die Belgier 1965 im Kongo, die Amerikaner 1983 in Grenada und 1989 in Panama.

Mit diesem Vergleich allerdings liegt Rogosin völlig falsch, und vermutlich weiß er das. In all den genannten Operation haben zwar Spezialkräfte Staatsangehörige dieser Länder evakuiert – im Land verteidigt haben sie sie aber gerade nicht. In der Tat kennt das Völkerrecht die Möglichkeit, in einer punktuellen Nothilfeaktion die Souveränität eines Staates zu durchbrechen, wenn Schaden für Leib und Leben nicht anders abgewendet werden kann. Aber daraus folgt auf keinen Fall das Recht auf langanhaltende Intervention oder gar Besatzung.

Wenn die russische Regierung allen Ernstes versucht, ein Recht auf extraterritoriale Verteidigung eigener Staatsangehöriger herbeizuphantasieren, dann steckt dahinter mehr als völkerrechtliche Ungebildetheit. Es kommt einem Ethno-Imperialismus nahe. Rogosins Worte sind weniger mit der UN-Charta in Einklang zu bringen als mit der Doktrin der aggressiven Selbstverteidigung, die Katharina die Große ausgeprochen haben soll: „Um meine Grenzen zu verteidigen, bleibt mir nur den Weg, sie auszudehnen.“

Wer solch ein Prinzip zur Grundlage seiner Außenpolitik macht, sprengt die Kerngrundsätze, die internationale Völkerregime seit dem Westfälischen Frieden von 1648 geprägt haben. Einer von ihnen lautet, dass die territoriale Integrität von definierten Staaten gefühlten nationalen Vereinigungsgelüsten vorausgeht.

Wenn Russland in allem Ernst glaubt, das pannationale Russentum sei als Zivilisationswert höher einzustufen als die neue Staatlichkeit ihrer ehemaligen Vasallenstaaten, dann hat es in der westlichen Friedensordnung keinen Platz. Gut möglich, dass Russland diese Prinzipien der modernen Weltordnung (sie stammen übrigens von einem Deutschen aus Königsberg) noch nie verstanden hat, denn schließlich war noch nie eine aufgeklärte Demokratie. Gut möglich auch, dass wir Russland noch nicht richtig verstanden haben. Aber dann sollte uns der Ausspruch des britischen Premierministers Nivelle Chamberlaine zu denken geben, der 1938, als Nazi-Deutschland das Sudentenland in der Tschechoslowakei annektierte, das Urteil abgab, dies sei “ein Streit in einem weit entfernten Land zwischen Leuten, über die wir nichts wissen.”

Der Westen sollte für erste aufhören, Putin-Russland wie einen verantwortungsvollen Erwachsenen zu behandeln. Und ihm lieber mit aller angemessenen Autorität des Älteren helfen, seine Pubertät ohne weiteres Blutvergießen zu bewältigen.

 

Zurück in den Kalten Krieg?

Die Spannungen an Russlands Rändern stellen die Nato vor eine Richtungsentscheidung

Zwischen der ukrainischen Hauptstadt Kiew und Georgien hat sich in den vergangenen Tagen eine hektische Pendeldiplomatie entwickelt. Zum einen will die ukrainische Regierung ihrem ebenfalls postsowejtischen Nachbarn im Südosten Solidarität zeigen. Zum anderen sorgt sich die ukrainische Regierung selbst um ihre Sicherheit. Der Ausfallschritt Moskaus in den Ex-Vasallenstaat Georgien muss nicht der einzige bleiben, fürchtet manch einer in Kiews Regierungsstuben. Der Ruf nach einer Nato-Mitgliedschaft wird deshalb immer lauter.

Über die Frage, ob und wann Georgien und die Ukraine in die Allianz aufgenommen werden sollten, entspinnt sich immer wieder Streit zwischen zwei Lagern innerhalb des Bündnisses. Er dürfte durch das aggressive Ausgreifen Russlands in sein „nahes Ausland“ nun befeuert werden.

Amerika und die osteuropäischen Nato-Staaten drängen darauf, die ehemaligen sowjetischen Teilrepubliken so schnell wie möglich aus dem sicherheitspolitischen Niemandsland in den Westen zu ziehen. Deutschland dagegen mahnt zusammen mit anderen Westeuropäern zur Zurückhaltung; das Bündnis solle aufpassen, keine Konflikte mit Russland zu importieren.

Auf dem Nato-Gipfel im April 2008 in Bukarest einigten sich beide Seite einstweilen auf eine Lösung, die alle zufrieden stellen sollte – und keinem wirklich gefiel. Georgien und die Ukraine, so der Beschluss der 26-Nato-Regierungschefs, sollen vorerst zwar nicht in den so genannten Membership Action Plan (MAP), das Beitrittsprogramm zur Nato, aufgenommen werden. Eine Botschaft aber sprachen sie den beiden Anwärtern dennoch aus: „Wir haben uns heute darauf geeinigt, dass diese Länder Mitglieder der Nato werden“ (Org.: We agreed today that these countries will become members of NATO), laute der entscheidende Satz im Abschluss-Communiqué von Bukarest. Im Dezember wollen die Staatschefs nun ihre Außenminister darüber beraten lassen, ob die Zeit reif ist für MAP.

Nach der russischen Aggression gegen das Nato-Patenkind Georgien werden die Spannungen um die Interessen der Allianz zunehmen. Denn beide Lager, die Erweiterungsbefürworter wie ihre Gegner, fühlen sich durch den Krieg im Kaukasus bestätigt.

Russland, so sagen Diplomaten aus Osteuropa, habe den weichen Ausgang des Bukarest-Gipfels als „grünes Licht“ verstanden, Georgien zu attackieren. Hätte die Nato die Nachbarländer fester umarmt, dann hätte sich Moskau diesen Angriff niemals getraut. Aus Amerika mehren sich die Stimmen, die eine „Jetzt erst recht“-Nato-Erweiterung als Gegenmittel zum russischen „Neoimperialismus“ fordern. Mit einer schnellen Aufnahme Makedonien zum Beispiel (es ist schon seit 1999 MAP-Mitglied) könne der Westen Putin und Medwedew beweisen, dass er sich von Ausfallschritten des Kreml nicht einschüchtern lasse.
Es fügt sich ins Bild, dass der polnische Regierungschef Donald Tusk die nunmehr schnelle Einigung mit Amerika über den Bau einer Abschussbasis für Abfangraketen in seinem Land auch als Folge des Georgienkrieges wertet. „Am wichtigsten ist für uns, und das zeigen die Erfahrungen gerade der jüngsten Tage, dass unser Territorium im Falle eines Konflikts von der ersten Stunde an geschützt wird“, sagte Tusk.

Deutschland hingegen, munkeln Nato-Diplomaten in verschiedenen Fluren des Brüsseler Hauptquartiers, werde nach dem Ossetien-Schock wohl „umso mehr auf Partnerschaft und Einbindung gegenüber Moskau machen.“

Kurzum, die Nato steht, pünktlich zu ihrem 60. Geburtstag (zu dem sie sich ohnehin eine neue Strategie geben will), vor einer Richtungsfrage. Will sie wieder deutlicher als kollektives Verteidigungsbündnis ausrichten, mit dem latenten Feindbild Russland? Sollte Moskau tatsächlich sein Militär einsetzen, um Pipelines und Öl unter seine Kontrolle zu bringen, könnte sich diese Rückentwicklung zum Blockbündnis schneller vollziehen als man es heute ahnt. Auf der anderen Seite steht zwar das starke neue Verständnis der Nato als globale Interventionsallianz.

Aber die Domäne des uniformierten Friedensstifters macht ihr immer mehr die Europäische Union streitig; auf dem Balkan, im Nahen Osten, in Afrika – kurz, überall dort, wo die Nato als amerikanische Hegemonialtruppe unwillkommen ist. Demnächst vielleicht im Kaukasus?

„Die EU steht bereit, sich zu engagieren“, sagt eine ranghohe EU-Diplomatin. Voraussetzung sei allerdings, dass aus der Waffenruhe in Georgien ein echter Waffenstillstand werde. Wie genau die EU in der Krisenregion aktiv werde könne, sei zwar noch zu früh zu sagen, aber denkbar sei Vieles, sagt die Diplomatin. „Wir könnten Polizisten schicken, eine Beobachtermission – oder eine andere Form von Präsenz zeigen.“ Soldaten aus Brüssel, Abschreckungsrhetorik und Abfangraketen aus Washington – ist das womöglich die neue Doppelnatur westlicher Sicherheitspolitik?