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Es geht ihnen nicht um Deutschland

Alexander Gauland, Björn Höcke, Alice Weidel und all die Neuen Rechten: Was wollen sie eigentlich verteidigen? Sie scheinen nichts an Deutschland zu schätzen, sie scheinen es noch nicht einmal zu kennen.

Kurz vor einer AfD-Demonstration am 1. September in Chemnitz (© Sean Gallup/Getty Images)

Ich frage es mich jedes Mal, wenn ich diese Bilder sehe von wütenden Leuten mit schwarz-rot-goldenen Fahnen oder mit schwarz-weiß-roten, wenn ich in Videos sehe, wie sie ihre Fäuste recken und ihre Ärsche zeigen, wenn ich sie schreien höre, wenn ich sie auf die Straße springen sehe, zu dritt, um einem Mann hinterherzujagen, der etwas dunklere Haut hat als sie.

Ich frage es mich, wenn ich lese und höre, was gewisse Politiker so sagen zu diesen Bildern oder einfach so, weil ja Wahlkampf ist oder Donnerstag oder Herbst. Weiter„Es geht ihnen nicht um Deutschland“

 

Der Mensch bastelt weiter

Androiden und künstliche Wesen begleiten uns durch alle Epochen. Aber warum erfindet sich der Mensch überhaupt noch einmal als künstliche Art selbst?

 

Copyright: YOSHIKAZU TSUNO/AFP/Getty Images

Kennt ihr den Algorithmus Pou? Er existiert in einer App, die ihr euch aufs Smartphone laden könnt. Eine Kreatur, die man füttern, waschen, ja rundum pflegen und mit der man spielen muss. Pou ist der Tamagotchi des frühen 21. Jahrhunderts und für Kinder konzipiert, die kein Haustier haben können, damit sie “Verantwortung übernehmen” lernen. Nur dafür, dass man für Pous Wartung eigene Lebenszeit opfern muss, hätte er gern weniger unansehnlich sein können. Denn er posiert auf dem Display als Kothaufen mit Augen. Ich will den Entwicklern jetzt keinen Hintersinn oder Zynismus unterstellen. Kinder lieben Pou. Und mit jedem Tag Pflege wächst dieser braune Berg ein Stück heran. Pou gibt den Tag über verschiedene Laute von sich. Manchmal schmatzt oder ruft das Smartphone so lange, bis die App aufgerufen und Pou versorgt ist. Weiter„Der Mensch bastelt weiter“

 

„Lieba zehn Dackel als een Mann“

Frau Ponesky und Frau Frenzel in Berlin-Marzahn brauchen nur einander und ihre zwei Hunde zum Glück. Und alle sechs Wochen eine Fußpflegesitzung bei unserer Autorin.

© Lena Mucha für ZEIT ONLINE

Im Berliner Stadtbezirk Marzahn-Hellersdorf sind etwa 11.000 Hunde registriert. Damit liegt Marzahn-Hellersdorf hundemäßig an Berlins Spitze, gefolgt von Reinickendorf und Spandau.

Einer der 11.000 in Marzahn-Hellersdorf registrierten Hunde ist Amy. Amy ist sieben Jahre alt und gehört Frau Frenzel. Frau Frenzel ist meine Kundin. Alle sechs Wochen pflege ich ihre Füße.

Frau Frenzel ist 70 Jahre alt, schaut mit einer heiteren Verachtung auf die Welt und lässt sich von nichts und niemandem die Laune verderben. Sie erinnert mich an einen Igel, die Nase kess nach oben gebogen, muntere Knopfaugen, dazu dieser graue Vokuhila-Bürstenschnitt aus den Achtzigern: Akkurat auf eine Länge gestutzt, stehen die Haare wie Stacheln in die Höhe, sind aber um die Ohren, am Hinterkopf und im Nacken etwas länger gehalten. Immer wenn ich Frau Frenzel wiedersehe, muss ich den Gedanken verscheuchen, dass sie sich den Schnitt im Hundesalon machen lässt, der gleich um die Ecke liegt und ebenso gut frequentiert wird wie unser Kosmetikstudio. Natürlich geht Frau Frenzel nie zum Hundefriseur, nicht einmal Amys wegen, denn Amy, mit der Frau Frenzel das Leben teilt, ist eine Kurzhaardackeldame. Weiter„„Lieba zehn Dackel als een Mann““

 

Das Wetter findet immer statt

Von 1960 bis zu ihrem Tod 2011 hat Christa Wolf jedes Jahr über den 27. September geschrieben. Was für ein Tag, was für ein Werk, wenn man sich darauf einlässt.

 

  1. Wie man ein Buch liest

 1960 fordert die Moskauer Tageszeitung Iswestija Schriftstellerinnen* auf der ganzen Welt auf, einen gewöhnlichen Tag in ihrem Leben zu dokumentieren, und zwar den 27. September. Christa Wolf folgt dem Aufruf und dokumentiert auch den 27. September der Folgejahre, es wird daraus eine lebenslange Gewohnheit und daraus werden die Bücher Ein Tag im Jahr und Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert. Weiter„Das Wetter findet immer statt“

 

Magda bummelt

Frau Thannert liegt im Bett und erinnert sich. An früher, ihre Jugend, an alte Gerüche und ihr vergangenes Glück. Draußen ist Sommer – oder hat es schon geschneit? Eine Erzählung.

Copyright: David von Diemar/unsplash.com

Magda streckt den Hals. Lichtstreifen, Schattenstreifen. Ein Gefängnis an der Decke und keine Aussicht. Vor dem Fenster Lamellen, steif wie Hemdkragen. Auf dem Tisch ein Weihnachtskaktus, die Triebe vertrocknet. Ist bereits Sommer? Wie ist das möglich? Sie müsste einen Wärter rufen und nach dem Schnee fragen.

Ein Duft in der Luft. Marillenknödel, das allerhöchste Glück. Marille, Erdäpfelteig, Brösel in Beurre Noisette. Die Dielen unter ihren Füßen dürfen nicht knarren, wenn sie den Knödel von Vaters Teller stiehlt. Sie sind frisch poliert. Selbst der Schmutz in den Fugen glänzt. Die Schwestern Dangl helfen im Geschäft aus, der Vater sucht in der Bibliothek seine Brille. Trude Dangl, zu Magdas Wartung bestellt, ist bärtig, Katharina Dangl, das Zweitmädchen zum Putzen, Waschen und Bügeln, eine kundige Lippenpfeiferin. Auf dem Teller Brösel und Beurre. Aber kein Knödel. In der Luft nur ein Duft. Jaschko, der Schuft. Weiter„Magda bummelt“

 

Die Toten sind lebendig

Auf georgischen Friedhöfen isst und trinkt man mit den Verstorbenen, damit es ihnen im Jenseits gut geht. Leider macht die Totenverehrung auch vor Stalin nicht halt.

© Vano Shlamov/AFP / Getty Images

Ich dachte immer, georgische Männer seien extrem stark, lebten sehr lange. Sie gewinnen bei den Olympischen Spielen im Judo Medaillen, genauso wie im Gewichtheben. Ihr Nationalsport spiegelt Ausdauer, Kraft und Macht. Sie sind klein, schwarzhaarig, haben dunkle Gesichter. Ihre Augen sind wunderschön. Und sie sind ungeheuer charmant. Ja, die georgischen Männer sind Helden. Die meisten von ihnen arbeiten in tausend Meter Höhe in den kaukasischen Bergen. Vor Jahrhunderten schon bauten sie Festungen aus Stein, um die Kloster mit den Ikonen aus der Zeit der Regenschaft von Königin Tamar (1184-1213) zu schützen. Weiter„Die Toten sind lebendig“

 

Tschüss Flip, Ciao Flop

Nackte Männerfüße gehen gar nicht? Sagt wer? Seit Mai rekelten sich die Zehen unseres Autors in der Sonne. Aber mit dem Sommer schwinden auch die Latschen. Ein Abschied

© [M] Ian Waldie / Getty Images
Das war’s dann also mit uns dreien, nun ist es Zeit für den Abschied, hinweg mit euch zweien. Auf den Friedhof des Sommers mit euch, in den Plastikcontainer oder lieber doch in den Sondermüll? Wir haben schließlich viel erlebt miteinander, und an euren Sohlen klebt nicht nur Kaugummi. Weiter„Tschüss Flip, Ciao Flop“

 

Erdbeerarsch mit Schlagsahne

Die Nackten fürchteten nichts: weder den Sonnenbrand am Hintern noch die verpasste Bikinifigur, weder die Kollegen noch die DDR. Mein erster Sommer neben dem FFK-Strand

FKK-baden in der DDR: Bikinifigur braucht nur, wer einen Bikini trägt.
Diorama eines FKK-Strandes im DDR-Museum in Berlin (Archivbild) © [M] imago/Steinach/DDR-Museum
Irgendwer musste uns direkt an die Abgrenzung gelegt haben. Ich glaube schon, dass uns dieser Platz gezielt zugeteilt wurde. Wir waren in der DDR, wo Zuteilung bekanntlich großgeschrieben wurde. Wir, zwei Busladungen voller Kinder plus Betreuer eines Ferienlagers, waren in Bansin, einem der drei Kaiserbäder auf Usedom und lagen zwei Wochen lang fast täglich am selben Strandabschnitt. Hinter uns weiße Villen, vor uns die Ostsee und direkt neben uns die größte Ansammlung Nackter, die ich in meinem bisherigen Leben gesehen hatte. Weiter„Erdbeerarsch mit Schlagsahne“

 

Pharaos Traum

Der Flokati aus Laubbäumen ist verschwunden. Die biblische Dürre-Prophezeiung scheint wahr geworden. Werden wir bald auf rituellen Regenwegen wandern müssen?

© Sean Gallup/Getty Images

Seit Wochen hat es nicht richtig geregnet. Die einen finden das toll, andere leiden. „Dicke Füße und schlechte Laune!“, schrieb meine Schwester mir neulich, der es eigentlich nie heiß genug sein kann. Die Hitze macht eben doch nur so lange Spaß solange sie sich zwischendurch mit genug Regen abwechselt. Doch statt Regen macht das Wort „Dürre“ die Runde. „Dürre“ klingt unheimlich, nach der warnenden Vorbotin eines Unglücks, zwei schnelle Silben mit viel Geröchel in der Mitte, auf die dann das unvermeidlich Einsilbige folgt, wenn man nicht aufpasst: „Tod“. Weiter„Pharaos Traum“

 

Sommer der Psychedelik

In größter Hitze drei Tage Musik auf den Ohren: Ist man nach dem Berliner Pop-Kultur-Festival noch derselbe Mensch? Notizen aus der Endlosschleife

Neneh Cherry im Kesselhaus der Berliner Kulturbrauerei (© Camille Blake/Pop-Kultur)

Ich wache auf, ein Blick auf den Wecker: Es ist morgens um drei, und ich habe ein Fiepen im rechten Ohr, als hätte sich ein Schwarm Moskitos in meinem Gehörgang eingenistet; oder ist die amerikanische Techno-Produzentin Karen Gwyer eingezogen und legt gerade die extrem hochgepitchte Version eines ihrer Minimal-Tracks auf? Es ist nur mein Tinnitus, Andenken an das Pop-Kultur-Festival in Berlin. Wer sich drei Tage in Folge jeden Abend sieben Stunden lang mit Musik berauschen lässt, darf sich aber auch echt nicht wundern. Weiter„Sommer der Psychedelik“