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Der Satiriker rettet die Grundwerte

Zwei Tage vor seiner Ermordung schrieb Stéphane Charbonnier, Chef von „Charlie Hebdo“ einen Essay. Sein „Brief an die Heuchler“ ist ein Fanal gegen soziale Feigheit.

charb

Anfang Januar, zwei Tage vor seiner Ermordung, gab Stéphane „Charb“ Charbonnier, Chefredakteur der Pariser Satirezeitschrift Charlie Hebdo, einen längeren Essay zur Veröffentlichung frei. Nun ist dieser Essay auch auf Deutsch erschienen. Die Debatte, in die er eingreift, mag speziell französisch sein und der Grund für die Übersetzung vielleicht nur, dass er ungewollt als eine Art Märtyrervermächtnis dasteht. Doch er konfrontiert eine Gesellschaft mit ihrer eigenen Feigheit. Damit wird er auch in Deutschland zur dringlichen Lektüre. Weiter„Der Satiriker rettet die Grundwerte“

 

Die Rentner schäumen

Motzen, pöbeln, schnarchen und schreien. Auf Busreisen nach Istanbul wie auch im sonstigen Leben zeigt sich schnell: Der Mensch ist nicht gut.

Der Nachtexpress nach Istanbul fährt auf dem Frankfurter Bahnhofsplatz vor. Die lauernden Türken werden munter. Mann mit geschwärztem Leistenbart schiebt mich zur Seite, die Tochter folgt im Galopp. Freie Platzwahl. Der Fahrer weist mir hinten einen Sitz zu. Der Gang ist mit Koffern vollgestellt, kein Durchkommen, ich schiebe mich nach vorne. Der Fahrer zeigt auf meine Aussiedlertasche und sagt: Was scheppert da? Sind es kleine Kupferkessel? Sind es Sparschweine? Ich sage: Es scheppern die Süßstoffspender für meine Mutter, ich habe gleich eine ganze Batterie gekauft. Weiter„Die Rentner schäumen“

 

Hier bin ich Gott, hier darf ich sein

Nun also wieder Bayreuth: Während sich Upperclass und Musik-Jetset um den Perlwein versammeln, entdeckt unsere Autorin das Sexuelle an Richard Wagner.

© Reuter/Michaela Rehle
Wagner-Puppen auf dem Grünen Hügel (© Reuters/Michaela Rehle)

Der Fernbus entlässt mich mit 40 Minuten Verspätung vor einer verschlafenen Bäckerei. Ein Spaziergang durch die Nebenstraßen macht es nicht besser: In Bayreuth dämmert nichts, schon gar nicht dämmern die Götter, hier döst alles so vor sich hin. Lieblos aneinander geschobene Nachkriegsbauten, Kleinstadtstraßen, flackernde Dönerbudenschilder, musikalisch unterlegt von Verkehrsrauschen und dem Surren der Ampel.

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Am Beckenrand dieses Sommers

Wie viel Mensch verträgt das Wasser? Es ist heiß und im Freibad ist die Hölle los. Vorsicht beim Reinspringen!

Freibad: Am Beckenrand dieses Sommers
Reuters/Bernadett Szabo

Der Sommer ist nun endlich da mit seiner ganzen Pracht. Es ist so prächtig, dass man seinem Hund, wenn man einen besitzt, das Wasser wegtrinken möchte. Wir stehen, schwitzen, trinken die Hälfte unseres Vorrats. Die Sonne macht weiter. Wir sind nicht die Schlauesten gewesen, wir hätten zwei Stunden eher losgehen sollen. Wir müssen eine Stunde lang warten, bis wir endlich hineinkönnen. Der Mann, der die Eintrittskarten verkauft, sitzt hinter Glas auf einem Drehstuhl und schwitzt nicht. Ich poche mit den Fingern gegen die Scheibe und frage: „Ist das Panzerglas?“ Er grinst und sagt: „Braucht man bei den Temperaturen!“ Weiter„Am Beckenrand dieses Sommers“

 

Gaunermongole lernt Flötentöne

Sie töten schlafende Männer und ringen Widder nieder. Unser Kolumnist hört von starken Frauen in fernen Ländern und ist beeindruckt. Das Fax der Woche

Safran heißt Safran, weil er mit dem Verkauf von Importsafran Millionär werden wollte. Der Händler seines Vertrauens, ein ostanatolischer Mongole, kassierte das Geld, schickte ihm gelbrot gefärbtes, verbrocktes Pulver in Hanfsäcken, und tauchte unter. Safran und sein Cousin zweiten Grades klapperten die Städte an der türkisch-arabischen Grenze ab. Sie wurden für Schleuser, Spione und ein Homo-Pärchen gehalten. Wilde verrotzte Dorfkinder bewarfen sie mit Steinen, dem Cousin riss die Augenbraue auf, Safran strauchelte und krachte mit der Stirn auf die Kühlerhaube.

Sie fuhren in andere Dörfer, sie waren Deutschländer und sprachen ein miserables Gossentürkisch, die Kurden und Araber im Grenzgebiet spuckten aus und starrten sie an. Eine Dorfhexe sagte: Der Gaunermongole? Er hat sich zu weit vorgebeugt und ist in den Brunnen gefallen. Er erscheint mir jeden dritten Mittwoch im Traum. Er hat in einen rostigen Teller Löcher gebohrt, er will ihm Flötentöne entlocken, und weil es ihm nicht gelingt, bittet er mich, ihm beizubringen, wie man Flöte spielt. Ich bringe ihm stattdessen bei, wie man auf den Kniescheiben trommelt … Weiter„Gaunermongole lernt Flötentöne“

 

Lasst uns über Frauen lachen

Männer stempeln Frauen gern als humorfrei ab. Und den Feminismus gleich mit. Was für ein erbärmlicher Versuch, mit der Angst vor dem anderen Geschlecht umzugehen.

Lasst uns über Frauen lachen - Freitext
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Lasst uns über Frauen lachen. Über Frauen, die Witze machen. Witze über Politik, über Religion, über Männer, über alles. Natürlich auch Witze über sich selbst – die werden Frauen, die komisch sind, ja immer als erstes abverlangt. Damit Männer, die nicht komisch sind, keine Angst haben müssen. Denn über sich selbst zu lachen gilt bei Männern, die nicht komisch sind, als hinreichender Nachweis von Schwäche, als Geste der Unterwerfung. Sodass sie die komischen Frauen dann gewähren lassen können.

Ja, die Männer, die nicht komisch sind: Geißel der Menschheit. Und eine von deren Lieblingsvokabeln, wenn sie über Frauen reden, ist „humorfrei“. Weiter„Lasst uns über Frauen lachen“

 

Der Dichter soll sich waschen!

Schöne Frauen umsummen den Mann der mächtigen Verse. Dabei stinkt der fies nach Krötensud. Unser Kolumnist aber sitzt im Spuckeregen ihrer Verachtung. Das Fax der Woche

Der Dichter, der sich nicht wäscht, gibt mir die Hand. Er riecht wie eine Mitgifttruhe, die man nach einem Jahr im neuen Haus eröffnet: Mottengift, Haut einer Hexe, die sich mit Krötensud eingerieben hat. Die schönen Frauen stehen auf und klatschen. Sehen sie nicht, dass er vor Fett glänzt? Sehen sie nicht, dass er torkelt, betrunken von der halben Flasche Schnaps, die er auf dem Balkon der Pension trank? Sie sehen es, und doch lieben sie ihn. Es zählen seine Verse. Es zählt nicht der Säuferbart, der ihm auf der Brust aufliegt wie ein Latz. Hoch lebe die Poesie, auch wenn der Dichter stinkt.

Er kommt aus einem fremden Land, er dichtet in der Sprache meiner Eltern, ich verstehe die einfachen Worte, die Frauen, Tagelöhner, Hausierer und Händler alter Gerätschaften beseelen. Für die Jungsubversiven ist er ein Mann des Staates. Sie werfen ihm vor: Einer der ihren hat auf das heilige Buch gespuckt, während eines surrealistischen Happenings. Der Dichter stürmte auf die Bühne, packte den Kerl am Kragen, zerrte ihn nach draußen, und drückte sein Gesicht in das Häufchen eines Königspudels. Sie werfen ihm vor: Der Dichter weint sich nicht an der Schulter ausländischer Journalisten aus. Auch will er nicht doofe Studentinnen zu Besuch in Istanbul mit Protestklamauk ins Bett kriegen. Sie werfen ihm vor: Der Dichter stinkt jeden Leseraum voll, er soll sich waschen, sie schenken ihm Shampoo und Duschgel. Weiter„Der Dichter soll sich waschen!“

 

Wir sind das Gemüse

In Berlin-Kreuzberg kündigt ein Investor einem türkischen Lebensmittelladen und entfesselt damit einen Sturm der Empörung. Ein Spaziergang ins Herz des Widerstands

 

1. Juli 2015

Es ist Mittwoch, ein warmer Sommerabend, die Sonne scheint, voller Kampfeslust gehe ich die Wrangelstraße entlang. Die Wrangelstraße, die vom Mariannenplatz zur Taborkirche reicht, ist zurzeit ständig in den Medien. Wegen Bizim Bakkal. Bizim Bakkal ist Türkisch und heißt „Unser Lebensmittelladen“. Bizim Bakkal ist der letzte Gemüseeinzelhändler in der Gegend, die letzte Bastion gegen Konzerne, die Globalisierung, die durchkommerzialisierte Stadt. Jetzt soll Bizim Bakkal schließen. Der neue Eigentümer des Hauses mit der Nummer 77 hat der Familie Çalişkan, die seit 28 Jahren im Erdgeschoss Gemüse verkauft, gekündigt. Ende September soll sie raus. Das will die Nachbarschaft nicht zulassen. Seit fünf Wochen gibt es Proteste. Jeden Mittwoch versammeln sich mehr und mehr Menschen vor Bizim Bakkal und demonstrieren dafür, dass er bleibt, wo er ist.

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Herr Hamit geht zum Arzt

Sand ist kein gutes Peeling, Schuhe sollten in der richtigen Größe gekauft werden und von Hühneraugen wird besser geschwiegen. Szenen aus einem deutschen Sprechzimmer

Herr Hamit sieht aus wie ein Rinderhälftenträger im Ruhestand. Er rasiert sich jeden Tag nass, und weil ihn morgens die Sorgen anfallen, wird er schon früh am Tag zornig und zerschneidet die Haut am Kehlkopf. Das Wattebäuschen zum Blutstillen klebt ihm stundenlang am Hals, bis er sich daran erinnert und es mit einem Ruck entfernt.

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Wie ich den Bachmannpreis gewann

Unsere Autorin würde nur ungern beim Wettbewerb in Klagenfurt vorlesen. Jetzt hat sie aber als Figur in einem Text den Preis gewonnen. Oder doch als Gottesteilchen?

Wie ich den Bachmannpreis gewann * Freitext
Die Gewinnerin des Bachmannpreises 2015, Nora Gomringer (© ORF)

Schon ihre Mutter hatte der Bossong einst prophezeit: Irgendwann, mein Kind, gewinnst du mal den Bachmannpreis. Demnächst, hat ihr ein Juror vor nicht allzu langer Zeit gesagt, wirst du Bachmannpreisträgerin sein. Erst einmal, meine herzallerliebsten Menschen, gab die Bossong zurück, gehe ich duschen, es ist nämlich zum Verrücktwerden heiß. Weiter„Wie ich den Bachmannpreis gewann“