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Entfesselte Sau oder Shampoo-Linker?

Kann Kunst heute noch politisch sein? Unser Kolumnist wird von blutjungen Frolleinwundern gepiesackt und hält das Banner dennoch hoch. Das Fax der Woche

Der morsche Holzpoller am Hundeauslaufrasen ist umgetreten. Kumpels streiten über die Frage, ob das Viertel kippt. Der eine: Nix, neuer Poller und das Viertel glänzt. Der andere: Obrigkeit lässt uns verlausen. Er gibt mir das Stichwort, ich sage: Es wird nie geschehen, der Aufruhr mit gutem Ausgang. Kumpels verlachen mich als Shampoo-Linker. Was ist das? Das ist ein Mann, der Greisenpsalmen flüstert. Ein Sitzblockadenknaller. Ein Liebwilli des gewaltlosen Protests.

Kaffeepötte in der Hand, Mund zum Schluck gespitzt, die Kragen der Gaunermäntel hochgeschlagen: Wir lungern zwischen Kiosk und liegendem Poller, sprechen über Politik. Bert ist der Jüngste in der Runde, er tritt nach Grasbüscheln auf dem Pflaster, und weil ihn die Unruh‘ plagt, tritt er auch nach Steinen. Ein Stein prallt gegen die Stoßstange eines Autos. Fahrer steigt aus. Fahrer nennt Bert Missgeburt. Bert nennt ihn Arschbacke.

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Pegida ist kein Kochkurs und Kopenhagen nicht weit

Terror und Antisemitismus rücken immer näher. Wie lebt es sich als Jüdin in Berlin? Soll man womöglich der Einladung Netanjahus folgen?

„Hast du Angst?“

Hat man mich in den letzten Tagen gefragt. „Hast du jetzt mehr Angst als früher? Versteckst du dich? Bleibst du mehr zu Hause? Holst du deine Kinder immer und überall ab?“

Ich habe trotzig geantwortet: „Nein! Ich habe keine Angst. Und du?“

Dann habe ich möglichst schnell das Thema gewechselt.

Vielleicht hätte ich antworten sollen: „Ich will keine Angst haben. Und schon gar nicht, weil ich Jüdin bin. Ich will nicht, denn Angst essen Seele auf, das hat schon der olle Fassbinder gewusst.“

Ganz ehrlich, ganz im Vertrauen, ganz heimlich: Natürlich habe ich Angst. Aber jeder vernünftige Mensch hat jetzt Angst, ob Jude, Nichtjude oder Atheist. Weiter„Pegida ist kein Kochkurs und Kopenhagen nicht weit“

 

Die Stille nach dem Erbrechen

Unser Kolumnist ist jetzt Mainzer und weiß, was tun, wenn die Wurst zu doll wackelt. Sollen die Frankfurter doch sagen, er hat einen Schuss an der Waffel! Das Fax der Woche

Mainz. Mein erster Tag als Stadtschreiber. Aschermittwoch, Fastnacht vorbei, Putztruppe fegt den Marktplatz sauber, der leichte Wind lässt Konfettischnipsel aufflattern. Beziehe brandschutzsaniertes Dichterdomizil. Krache als Arschbombe aufs frischbezogene Bett. Vom dritten Stock runter vor die Tür, starre hoch zur Stuckdecke: Putte greift Putte an die ausgewachsene Brust. Finde einen abgefallenen schwarzen Türkenbart beim Gang um den Dom. Zeichen oder Zufall, es wird sich zeigen. Im Lottoladen darf man Kaffee trinken. Erhitzter Mann ruft: Die wollen uns in’d Engä dreibä. Kollegen grölen: Jawoll! Frage nicht nach, wer da jagt, und wer von wessen Flintenschuss erlegt wird.

Laufe durch hohle Gassen, will Geschichte fühlen, spür aber nur Hunger. Blick auf die Speisekarte im Kasten am Bierbrauhaus Zum Halben Runden Rad: Handkäs mit Musik, Saftrippchen mit e Gurk. Rüttele an der verschlossenen Tür. Laufe am Rhein entlang, will Legenden fühlen, stoße auf einen Baum, an dessen Ästen abgelatschte Turnschuhe hängen. Auf gestutzte Platanen, deren Astenden im Dunkeln aussehen wie zu Baumfäusten erkaltetes schwarzes Wachs. Esse Erdnüsse in der Wohnung. Weiter„Die Stille nach dem Erbrechen“

 

Alles muss man selber machen!

Gestern wurden im Karriere-Teil von Spiegel Online eine Reihe von prominenten Wirtschaftslenkern bewundernd kurzporträtiert, die erzählen, wie wahnsinnig früh sie aufstehen und was sie dann alles erledigen. Nur mich hat man da natürlich wieder vergessen.

Einen Wecker braucht Tilman Rammstedt nicht. Pünktlich um vier weckt ihn täglich eine Panikattacke. „Der frühe Morgen ist für mich die ideale Zeit, um alles sehr, sehr schlimm zu finden“, hat Rammstedt über sich herausgefunden. Bis halb fünf erledigt er die dringendsten Aufgaben des Tages (Verzweifeln, Seufzen, Haareraufen, Wimmern) direkt noch im Bett. „Selbsthass im Pyjama? Ja, das geht gut“, lacht der sympathische Managertyp. Weiter„Alles muss man selber machen!“

 

Der Mann mit dem Gewehr

Vorsicht vor Frauen, die mit geschnickten Popeln jeden Mann in Fleischbrei verwandeln. Unser Kolumnist spielt Anstandsdame und muss sich gut wappnen. Das Fax der Woche.

Stolz der Unterschicht: die einmalige Karin. Sie hat in ihren Reisepass Totenköpfe gemalt, und gekreuzte Schaftknochen, gleich neben dem Foto, auf dem sie aussieht wie die einmalige Karin. Ihr Anblick haut Siggi um. Roter Lack, rote Lippen, rotes Haar. Jan, der Kumpel vom Bau, hat ihn gewarnt: Finger weg von der Roten, vom Schmachten fällt dir der Arsch ab. Siggi lebt ohne Arsch. Und sitzt ohne Arsch im Eiscafé, am Tisch mit der tschilpenden Karin, die ihm aus Spaß den kleinen runden Mandelkeks ins offene Maul warf.

Die Freundin neben ihr ist Türkin, keine Pracht ihrer Sippe. Doofer als Karin, nicht so doof wie Siggi. Aysche im Glück, sie hat sich Affenschaukeln ins Haar geflochten, und mit Festiger besprüht, zwei Mini-Totenkränze liegen ihr auf den Ohren auf. Das Wort Rendezvous spricht sie aus, als ginge es um Kampfsport: Rand Fu. Sie sagt: Ich bin das erste Mal Anstandsdame bei einem Rand Fu. Und was bist Du? Siggis Gewährsmann, sage ich, er hat darauf bestanden. Jetzt starren mich alle an, und Siggi mahnt, ich solle mal keinen Kack erzählen, er sei unbewaffnet, und er brauche auch keinen Träger für ein Gewehr, er wolle im Bilde bleiben, Karin würde jeden Kerl, der mit einer Kanone auf sie schieße, mit einem geschnickten Popel aus ihrer herrlichen Nase in Fleischbrei verwandeln.

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Die Freiheit ist dem Menschen zumutbar

Den Bürger entmündigen zu wollen, ehe er Schaden anrichtet, ist voraufklärerisch und antidemokratisch. Eine Antwort auf Ann Cottens Schelte des Liberalismus

© AFP/Getty Images/Montage: ZEIT ONLINE
© AFP/Getty Images/Montage: ZEIT ONLINE

Klar, den Liberalismus muss man nicht mögen. Man muss sich nicht einmal mit ihm beschäftigen. Wenn man allerdings öffentlich gegen ihn zu Felde zieht, dann sollte man sich nicht allein auf Ressentiments verlassen. Anders gesagt: Die Freiheit ist dem Menschen zumutbar – mit Wasser können wir dann immer noch kochen. Ann Cotten verspürt ein Unbehagen ob einer Welt, in der die Entscheidungsvielfalt im Alltäglichen nicht mehr befreit, sondern überfordert, ambivalente Verhaltensweisen aus dem zugrundeliegenden Menschenbild herausretuschiert wurden und die Gerechtigkeit nicht immer zur Stelle ist, wenn man sie braucht. Als teils dafür verantwortliche, teils davon profitierende Geisteshaltung sieht sie den Liberalismus. Nun ja, welchen eigentlich genau?

In ihrem Beitrag rennt Ann Cotten gegen ein Liberalismusbild an, das ein Potpourri teils aus dem Neoliberalismus einer Margaret Thatcher und der Chicago Boys, teils aus einem Liberalismus des 18. Jahrhunderts, teils aus einem fiktionalen Wild-West-Liberalismus ist, der gleich ganz auf staatliche Rahmenrichtlinien verzichtet. Zuordnen kann sie das alles leider nicht. Das ist etwa so überzeugend, als werfe man den Sozialdemokraten einen Turbo-Revisionismus im Erfurter Programm von 1891 vor, wenn man eigentlich Gerhard Schröders Agenda 2010 kritisieren will. Irgendwo, weit entfernt in Raum und Zeit, gibt es da einen Zusammenhang, aber dort ist auch alles mit allem verbunden. Auf der Suche nach dem Sinn, Freiheit und Scientology in einen Topf zu werfen, gebe ich schließlich auf. Steile Thesen klingen zwar oft gut, aber eine Steilheit, die 90 Grad übersteigt, tendiert dazu, wieder flach zu werden. Weiter„Die Freiheit ist dem Menschen zumutbar“

 

Gruppenbild mit Liebeskasper

Die Auserwählte will sich für den Richtigen aufsparen. Vor lauter Sehnsucht verwechselt man Bohnen mit Pommes. Unser Kolumnist lernt, was Liebe ist. Das Fax der Woche

Große Not. Siggi, der Liebeskasper, glüht. Wir sitzen vor dem C﹠A-Eingang, gelegentlich leuchten die Lampen der Alarmschranken auf, eine verschreckte türkische Dame erstarrt mitten im Schritt, hält die Tüten hoch, läuft zurück zur Kasse. Neben uns, am äußersten Sitzrand, schaufelt ein netter Irrer Kartoffelsalat aus dem Plastiktöpfchen. Eine Mücke fliegt mir ins Gesicht. Ich denke: Wieso locke ich immer Käfer und Fliegen an? Weiter„Gruppenbild mit Liebeskasper“

 

Meine Ohrwürmer (5): e““

Unser Autor hat einen neuen Ohrwurm. Es ist ein Tinnitus mit kryptischer Botschaft: Der Krieg in der Ukraine ist lauter als alle Lieder.

Beschreibung: Streng genommen handelt es sich um keinen Ohrwurm, sondern eher um ein Insekt. Es nistet in meinem linken Mittelohr und lässt in unvorhersehbaren Momenten ein hohes, glänzendes Sirren ertönen. Vielleicht versucht es zu singen, vielleicht zu fliegen, vielleicht reibt es auch einfach die Kanten seiner Vorderflügel gegeneinander wie eine Grille. Wenn ich für einige Sekunden mit dem Zeigefinger das betroffene Ohr verstopfe, verstummt es und schläft auf unbestimmte Zeit wieder ein.

Vorkommen: Unregelmäßig. Zum letzten Mal gestern Nacht, 4.33 Uhr.

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Frauen sind nur platzsparende Körper

Fetischisiert, vermessen, vorgeführt und verkauft: Germany’s Next Topmodel richtet eine ganze Generation zugrunde. Jetzt startet die zehnte Staffel.

Germany's Next Topmodel: Platzsparende hübsche Körper
© ProSiebenSat.1 TV Deutschland GmbH/Montage: ZEIT ONLINE

In meiner Jugend, hinter dem Eisernen Vorhang, gab es weder Models noch Castingshows oder Heidi Klum. Ein Mädchen sollte natürlich hübsch und artig sein, später heiraten und Mutter werden, das schon, aber von einer Model-Karriere war nie die Rede. Es gab weder den vermeintlichen Glamour noch die Glitzerschuhe oder die Werbekunden, und der berufliche Aufstieg basierte nicht unbedingt auf dem perfekten Foto oder den Körpermaßen, sondern auf guten Noten in den Naturwissenschaften. Mädchen konnten Astronautin, Ärztin und Traktorfahrerin werden. Ich sage nicht, dass es die Gleichberechtigung gab, aber Mädchen konnten träumen – auch von ihr.

Heute wird durch die Castingshow Germanys Next Topmodel eine ganze Generation zugrunde gerichtet. Der Traum, der ihnen samt vielen in der Fernsehsendung beworbenen Artikeln verkauft wird, besteht aus einer Welt, in der eine Frau nichts weiter erreichen sollte, als groß, dürr und gefällig zu sein. Sie muss sich in Pose werfen können, auf Knopfdruck „sexy“ sein, immerzu lächeln und währenddessen ihren Mund entspannen. Gern kann diese Traumfrau ein wenig dumm geraten. Weiter„Frauen sind nur platzsparende Körper“

 

Die Regeln der Rebellion

Unser Kolumnist fragt sich, wo er in dieser Gesellschaft steht: Zwischen reichen Luftsäcken und verstrahlten Aussteigern, scheffelnden Großbürgern und stiernackigem Volk. Das Fax der Woche

Schweinekalter Sonntag. Steh am Fenster mit schiefem Hals, hab mich verlegen. Schnee auf Zweig und Ast. Krähe landet rutschend auf dem Dachfirst, wischt mit einem Flügel über die Kante. Raus ins Freie, schnaufe mich durch die Gassen, blicke auf, sehe eine Stütze der Gesellschaft: Großbürger in Grobripp-Freizeithose lupft zum Gruße die Mütze. Der Gruß gilt einer Dame. Schmelzende Mittelschicht, dezente Ausgehschminke, handgenähte Reitstiefel.

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