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Auf zur neuen Freiheit

Die offene Gesellschaft und ihre Freunde: Nach der Häme, nach ihrem vermuteten Ende will die FDP zurück ins politische Geschäft. Brauchen wir ihren Liberalismus nicht mehr denn je?

Jetzt soll also alles anders sein. Die FDP hat sich neu-, sie hat sich wiedergefunden. Dem Klientelismus werde abgeschworen, die Freiheit als Markenzeichen in den Vordergrund gestellt, so lautet das Versprechen. Schlechte Stimmung kann man den Liberalen jedenfalls nicht vorwerfen. Der traditionelle Ball am Vorabend des Dreikönigstreffens ist zu einer liberalen Lounge im Stuttgarter Maritim-Hotel zusammengeschrumpft, aber der Optimismus scheint hier vorab als Wunderpille verabreicht worden zu sein. In den Gesprächen wird enthusiastisch von der aktiven Teilnahme der Mitglieder bei der Katastropheninventur der Partei erzählt.

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Erotische Menschmaschinen

Vier Männer mit dem unwiderstehlichen Charme von Bill Murray: Kraftwerk spielen ihre 3-D-Konzertreihe nun auch in der Berliner Nationalgalerie.

Gestern, am 6. Januar, wäre Syd Barrett 69 geworden. Der Tag, an dem die Sex Pistols wegen provokanter Auftritte ihren Plattenvertrag bei EMI verloren, jährte sich zum 37. Mal – und Kraftwerk spielten den Auftakt einer achttägigen 3-D-Konzertreihe in der Neuen Nationalgalerie in Berlin. Seit 2011 tourt die Band mit ihrem mehrkanäligen Videokonzept nicht etwa durch Multifunktionshallen, sondern durch Museen. Vielleicht hängt das mit der vagen Vermutung zusammen, die Mitglieder hätte sich schon immer gerne in der „bildenden Kunst“ verortet – oder damit, dass das Museum ein Ort ist, in dem man sich historisch mit der Frage beschäftigt, wie Menschen sich früher über existenzielle Probleme verständigt haben.

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Mit dem Rücken zur Kunst

Unser Kolumnist geht in ein Museum und verspürt Übelkeit: Baselitz, Beuys – soll das Kunst sein und wenn ja, wer hat das Recht, sowas zu behaupten?

Ich ging ins Museum und beschaute die Bilder der Ausstellung. Es hingen an den Wänden nicht die Leichen der Avantgardisten, es hingen die großen Schinken von Baselitz, von dem es heißt, er sei ein großer deutscher Maler.

Jedes Mal, wenn ich vor einer Leinwand stehen blieb, wurde mir schlecht. Ich sah: kopfüber aufgeknüpfte Luftsäcke, Dreiviertelporträts, gesudelt und bespritzt, aus der Tube gefurzte Ölfarben, dick und doof aufgespachtelt. Titel: Ohne Titel. Noch nie habe ich so viele Frauen, Männer und Kinder gesehen, die den Kopf zur Seite neigten.

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2014 – Die hilfreichsten Kundenrezensionen

★★★★★ Die Lieferung erfolgte prompt, wie vom gregorianischen Kalender nicht anders gewohnt. Ob es funktioniert, kann ich noch nicht sagen, hat ja gerade erst angefangen. Fünf Sterne!

★★★☆☆ Als großer Fan der Reihe freue ich mich immer schon ab Oktober aufs neue „Jahr“. Seit „1956“ habe ich keines ausgelassen. „2014“ hat mich allerdings eher enttäuscht. Die Geschehnisse wiederholen sich doch zunehmend: Frühling, Sommer, Herbst, Winter. Krieg, Krise, Angst, schnell andere Angst, immer wird irgendwas hundert und immer sagt jemand was in aller Entschiedenheit und immer geht Sting auf Tour. Vielleicht verstehe ich auch einfach den Humor nicht mehr.
Auch beim Titel könnte man etwas nachlegen, seit „1999“, „2000“ und „2001“ sind sie irgendwie nicht mehr so knackig. Aber klar, werde ich mir auch „2015“ nicht entgehen lassen. Ein Leben ohne „Jahre“ könnte ich mir einfach nicht vorstellen.

★★☆☆☆ 2014 machte eigentlich einen wertigen Eindruck, aber schon ab Februar war die Luft raus. Seitdem liegt es mehr oder weniger nur im Weg rum. 365 Tage sind auch schlichtweg zu lang. Da wäre weniger mehr gewesen. Ich schau mich jedenfalls nach Alternativen um.

★☆☆☆☆ Ich muss vorweg sagen, dass ich kein großer Freund von Jahren bin, aber ich wollte es nach all dem Hype halt auch mal ausprobieren. Was soll ich sagen: Ich wurde bitter enttäuscht. Ich weiß gar nicht, warum so viele bei diesem Mist mitmachen. Für mich sind Jahre nichts als eine Ansammlung von wahllosen Tagen, und am Ende ist das gleiche drin wie in den anderen Mogelpackungen „Wochen“ und „Monate“. Reine Geldmacherei! Nie wieder!

★★★★★ Ich weiß nicht, was all die anderen Rezensenten hier an 2014 auszusetzen haben. Es war ein astreines Jahr: Weltmeister, fast dritter Weltkrieg, spannender Killervirus, verschwundene Flugzeuge, rappende Terroristen. Da war echt für jeden was dabei. Ich persönlich hätte mir etwas mehr Ice-Bucket-Challenges und ein etwas weniger beschisseneres iPhone 6 gewünscht, aber das ist Jammern auf hohem Niveau. Da muss 2015 erst einmal nachlegen. Notfalls mache ich aber einfach 2014 noch einmal.

★★★★☆ Ich fand das Jahr sehr schön. Vor allem die Parlamentswahl in Belgien.

★☆☆☆☆ Doofer Januar, doofer Februar, doofer März, doofer April, sehr doofer Mai, doofer Juni, doofer Juli, extrem doofer August, doofer September, ziemlich doofer Oktober, doofer November, doofer Dezember.

★★★☆☆ Eigentlich mochte ich 2014 sehr gern, wie fast alle Jahre. Klar, es kam nicht an 1992 oder 2004 ran, aber es hatte echt seine Momente und lief im Ganzen ziemlich rund. Kompliment! Was ich allerdings schwierig finde, ist dieses Abo-System, dass man ungefragt ein neues bekommt, wenn das alte abgelaufen ist. Manchmal will ich einfach eine Zeitlang mal kein Jahr. Und manchmal will ich gern zwei auf einmal, weil es unpraktisch ist, das eine immer überall hin mitzunehmen. Auch sollte man sich verschiedene Farben aussuchen können. Unbedingt Service nachbessern!

★★★★★ Nur zwei Worte: Der Grünspecht ist Vogel des Jahres geworden. Geilstes Jahr ever!

★★★★★ 2014 machte, was es versprach. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Es begann, es war da, und jetzt geht es halt wieder. Und Leute, bevor ihr meckert: Es ist kostenlos. Da kann man nicht mehr erwarten. Diese Gratismentalität k**** mich ehrlich gesagt ziemlich an.

★★☆☆☆ Ich habe 2014 von meinem Mann damals zu Weihnachten bekommen. Er ist nicht mehr mein Mann. Aber das Jahr ist noch da. Ich bin etwas traurig.

★★☆☆☆ Okay, es sind noch ein paar Stunden übrig. Und okay, in ein paar Stunden kann viel geschehen. Vielleicht nimmt dieses Jahr noch eine überraschende Wendung. Wie in diesen Filmen, in denen die letzten fünf Minuten noch einmal alles auf den Kopf stellen. Vielleicht planen alle schon seit Monaten die große Überraschung, sie verkneifen sich angestrengt das Kichern, sie tuscheln, sie tauschen sich in Facebook-Gruppen über den genauen Ablauf der Überraschung aus, vielleicht geht es längst nur noch um Details, um Tortenbeschriftungen, um letzte Feinheiten auf der Playlist. Aber seien wir ehrlich: das ist nicht besonders wahrscheinlich. Dennoch werde ich bis Silvester kurz vor Mitternacht noch darauf hoffen, und dann ist es sehr laut und sehr vorbei, und ich werde sagen, dass 2015 bestimmt besser wird, was ich auch schon zu 2014 gesagt habe und zu 2013 und 2012, 2011 und zu einer Menge Jahre davor.
Und ja, ich weiß, das Jahr kann nichts dafür, dass es nicht gut war. Meine Güte, es ist ein Jahr. Ich bin ja nicht blöd. Es ist absolut lächerlich, einem Jahr an irgendetwas die Schuld zu geben, aber es ist auch absolut verlockend, einem Jahr an allem die Schuld zu geben, weil man ja irgendjemandem die Schuld geben muss, und am besten jemandem, der nicht widersprechen kann. Und deshalb zwei Sterne: weil 2014 nie widersprochen hat, als ich es beschimpfte, als ich es verfluchte, als ich versuchte, es mit Dingen zu bewerfen, als ich es verleugnete, als ich ihm Spitznamen gab: „Drecksjahr“, „Zweitausendfurzzehn“, „Susi“. Es blieb stoisch. Dafür meinen Respekt. Andererseits: Stoisch sein ist leicht. Ich kann auch stoisch sein. Ich will es nur nicht. Dies ist meine erste Rezension. Ich bin nicht sehr stolz darauf. Einen guten Rutsch!

★★★☆☆ Ich habe mir 2014 im April gebraucht geholt. Jetzt schreibt mir immer jemand namens Holger und anscheinend habe ich Meerschweinchen. Könnte schlimmer sein. Ist wahrscheinlich auch schlimmer.
UPDATE: Ja, ist schlimmer. Egal.

 

Meine Ohrwürmer (4): Carl Gottlieb Hering, „Der Kaffee-Kanon“

„C-a-f-f-e-e…“ – unser Autor hat sich einen Dresdner Ohrwurm eingefangen, der ihn in den Wahnsinn treibt. Pausenlos singt der vom „Türkentrank“ und kranken Moslems.

Beschreibung: Kaum nötig, schließlich gehört das Stück zu den populärsten deutschen Kinderliedern. Zudem beschreibt es in den ersten beiden Takten auf überraschend moderne, selbstreferenzielle Weise seine eigene Form: „c-a-f-f-e-e, trink nicht so viel Kaffee!“ Der Rest des Textes ist dann schon deutlich weniger zeitgemäß: „Nicht für Kinder ist der Türkentrank, schwächt die Nerven, macht dich blass und krank. Sei doch kein Muselmann, der ihn nicht lassen kann!“

Vorkommen: Seit etwa einem Monat, vor allem montagabends.

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Zwei Fingerbreit Arschritze

Hektik beim Hausmeister: Einbrecher! Sind die etwa gerade an der Balkonbrüstung erforen? Unser Kolumnist telefoniert mit seiner Mutter in Ankara, lacht sich halbtot, schickt uns aber doch noch ein Fax.

Hasan, der Hausmeister, klingelt an der Tür der Wohnung meiner Eltern in Ankara. Er hört das Knurren des Hundes, der ihm knapp über den Fußknöchel reicht. Vater schiebt die Riegel aus massivem Eisen zurück, schließt ihm auf, Schatten bellt und schnappt, er will Hasans Schnürbänder zerreißen. Hasan macht einen Schritt nach hinten und sagt: Zwei Kinder in roten Mänteln brechen gerade bei Ihnen ein.

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Frohes Weihnukka!

Unsere Autorin ist Jüdin, ihr Mann westfälischer Katholik. In diesem Jahr kommt es zur Kollision der Feste. Wie soll man da den Familienfrieden wahren?

Dass ich Jüdin bin, hat sich, denke ich mal, bei dem einen oder anderen in der Republik herumgesprochen, und als solche habe ich eigentlich keinen Anspruch auf Weihnachten. Eigentlich.

Als Kind hat mich das nicht davon abgehalten, Weihnachten voller Inbrunst zu erwarten. War auch nicht weiter schwierig. Ich war in einem Waldorf-Internat, Anfang November begann der Ausnahmezustand:

Mehrere Zentner Tannenzweige wurden aus dem Wald geholt, damit Kränze für den Basar geflochten werden konnten. Überdimensionale Reifen wurden mit dem frischen Grün bespannt, gewaltige rote und weiße Kerzen schmückten das Ungeheuer, das unter großen Ahs und Ohs hochgezogen wurde. Vielleicht waren sie auch gar nicht so groß, nur ich, ich war noch so klein…? Winzige Kerzenständer wurden aus glänzendem Goldpapier gebastelt, für jedes Kind, für jede Woche gehörte sich ein anderer Adventskerzenständer. Weiter„Frohes Weihnukka!“

 

Den Feind aufhalten im Pufferstaat

Dieser Tage begegnet unser Kolumnist überall nationalen Fratzen. Lob aufs Militär hier, nieder mit dem Iwan oder Moslem da. Seiner Wut macht er mit einem Fax Luft.

Jahresendfieber, große Erwartungen, es passiert nichts. Freunde im Osten, in Berlin, in Itzehoe, in Ingolstadt, in den Grenzgebieten, sie machen Meldung: Wir sind gegürtet und gerüstet, es soll endlich enden oder beginnen, wir haben die Schnauze voll, wir warten. Warme Stube. Krieg der Imperien, Krieg im Moslemland, wir aber sitzen in der warmen Stube. Kein Tod, kein Verderben, überall erbärmliche Zivilisten.

Was machst Du? Ich warte nicht, sage ich, ich bin gereist, hab gelesen und geschrieben, keine Lust mehr auf Bahnhöfe, können mich alle mal … Blättere in der Zeitung, der Mob marschiert gegen Moslems, gegen solche wie mich. Memmen machen Krawall. Fackelzug der Bürger, die dem Wirt aufn Tisch kacken wollen. Gestern Stadionschläger oder Nazi, heute Wutbürger. Gehe herum, sehe kleine gärende Milieus, ein Mann mit einem Gesicht wie blanker Arsch, er hat sich die Fresse rot gesoffen, er brüllt, Kollegen brüllen mit. Weiter„Den Feind aufhalten im Pufferstaat“

 

Tagebuch des allmählichen Untergangs (3)

Verkehrte Welt: Die eigene Angst richtet sich nicht auf das Erwachen von Gewaltbereitschaft irgendwo anders, sondern paradoxerweise auf die emotionale Ablehnung aller Gewalt hier bei uns.

Oktober 2014

Opole: Gestern im Kino gewesen, in Miasto 44 (Stadt 44). Junge Leute im Warschauer Aufstand. Patriotismus, jugendlicher Übermut, erste Liebe – und dann: das Schlachten; eine ganze Generation wird in den Straßenkämpfen ausgelöscht. Die Willkürlichkeit dieses Gemetzels trifft mich ins Gedärm. Das Erschütternde ist aber, wie ich bald begreife, nicht die Sinnlosigkeit des Krieges selbst, sondern die Angst, dass nur wir Europäer vielleicht derart reflektieren, was Krieg ist. Anderswo auf der Welt hingegen die Verherrlichung des Krieges, des Tötens, des Enthauptens desjenigen, den man im Namen welcher Sache auch immer als Feind betrachtet, nicht aber als Mensch. Verkehrte Welt: Durch unser geschichtlich gewachsenes Bewusstsein und unseren Pazifismus werden wir mitfühlend, und dadurch wiederum ein leichtes Ziel. Meine Angst richtet sich also nicht auf das Erwachen von Gewaltbereitschaft irgendwo anders, sondern paradoxerweise auf die emotionale Ablehnung aller Gewalt hier bei uns.
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Der Garten

Eine Reise in die USA, eine Begegnung mit imaginären und echten Freunden und einem Ort in den Tiefen des eigenen Geistes.

Im Sommer war ich zu Gast in einer Wohnung in Chicago. In einem Haus an einer vielbefahrenen Straße. Vor den Fenstern war Amerika. Zuvor war ich eine Woche lang durch New York gelaufen und hatte mich immer wieder dazu überreden müssen, Interesse für die Stadt aufzubringen. Am Ende dachte ich dann doch jedes Mal, dass man diesen Ort getrost sich selbst überlassen kann. Da muss eigentlich niemand mehr hin. Am wenigsten ich selbst.

Ich nahm einen Flug nach Chicago und blieb den Rest meiner Zeit in Amerika in dem Haus an der vielbefahrenen Straße. Manchmal ging ich zu einem Supermarkt und selten traf ich jemanden in einer Bar oder machte einen Spaziergang am See. Hinter dem Haus gab es einen kleinen Garten, in dem ich oft saß, mit meinen Gastgebern, meinen Freunden, und wenig sprach, kühlen Whiskey trank und dem Kater dabei zusah, wie er durch den Farn strich.

Ich hatte die erste Hälfte des Jahres damit verbracht, jemand zu sein, der ein Buch veröffentlicht und ein zweites gerade zu Ende gebracht hat. Ich war schließlich an dem Punkt angekommen, an dem ich vorkam in einer Welt, auf die ich mich lange Zeit schreibend zubewegt hatte (nicht inhaltlich, aber im Kontext der Veröffentlichung, dessen also, was allgemein als Erfolg meiner Arbeit begriffen wird, nicht zuletzt von mir selbst). Weiter„Der Garten“