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„Marginalisierte Männlichkeit“

In der Werkstatt 3 berichtet Ayhan Taşdemir von den Ergebnissen seiner Forschungen in Deutschland und der Türkei.

Was ist marginalisierte Männlichkeit? Das Konzept stammt aus der Feder der australischen Transgender-Soziologin Raewyn (vormals Robert) Connell und ist inzwischen auch in der deutschen Soziologie fest verankert. Damit wird die Geschlechterrolle von Männern bezeichnet, die aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung oder ethnischen Zugehörigkeit nicht dominant werden kann (obwohl sie es gern würde). Vereinfacht gesagt: Sie sind Männer, aber in einem hierarchischen sozialen Denken marginalisiert und mit Stereotypen besetzt, als Machos, Halb-Kriminelle oder primitive Goldkettchen-Proleten. Die Werkstatt 3 hat Ayhan Taşdemir eingeladen, weil er sich im Rahmen seiner Doktorarbeit an der Universität Hamburg mit Männlichkeitskonstruktionen im Migrationsprozess beschäftigt. Der Vortrag ist eine Veranstaltung der Silent University, die 2012 in London als autonome Plattform von Flüchtlingen, Asylsuchenden und Migranten gegründet wurde, die in ihren Heimatländern eine akademische Ausbildung gemacht haben, sie aber im Exil nicht anwenden können. 2014 wurde sie auf Initiative der Stadtkuratorin Hamburg zusammen mit der W3 auch hier etabliert.

Text: Nik Antoniadis

 

Mathilde Slam

Zivilisiertes Spektakel statt Die-Trying-Gemetzel: Unter dem Motto „Hamburg“ treten zehn mutige Poeten gegeneinander an.

Über zehn Jahre werfen sich Hamburgs Hobbypoeten jetzt schon bei Mathilde in die Manege. Manche sagen, es sei ein milder Slam. Andere nennen es: zivilisiert. Das Spektakel hält sich hier in der Tat in Grenzen, Mathildes Slam ist kein Die-Trying-Gemetzel, in dem talentfreie Protagonisten vom buhenden und johlenden Mob von der Bühne getrieben werden. Es geht um Inhalt, zumindest auch. Und es geht um das Publikum, das in Gänze die Jury ersetzt. Jeder Gast erhält Zettel und Stift und vergibt Noten von 1 bis 10. Enthaltungen gibt es nicht. Dafür wird der am schönsten verzierte Stimmzettel belohnt. Während dem Slam-Gewinner eine Flasche Whiskey winkt, gehen beim Schöpfer des am originellsten gestalteten Stimmzettels alle Drinks aufs Haus. Wichtig: Nur die 50 Gäste, die als Erste kommen, können zuhören. Mehr Stühle gibt es nicht. Deshalb entweder früh kommen oder online anmelden.

Text: Nik Antoniadis

 

Knust Acoustics

Ausgestöpselt und ganz dicht dran: Drei Berliner Formationen geben vor dem Knust ein zweistündiges Gratis-Unplugged-Konzert.

Intimität! Darum geht’s bei jedem Akustikkonzert. Logisch, dass auch die Knust Acoustics Sommersession 2015 von eben diesem sehr nahen, intensiven Klang lebt, den ausgestöpselte Musik versprüht. In diesem Fall gespielt von drei Berliner Fomationen. Die Biografie von Duncan Townsend liest sich wie ein Reisebericht: Geboren im Mittleren Osten, aufgewachsen in Nottingham, Studium in London und Barcelona. Danach „hing er eine Weile in Köln ab“, war Musiker in St. Pauli und ist schließlich in die Hauptstadt gezogen, um als Singer-Songwriter zu arbeiten. Jetzt ist er wieder in Hamburg, ebenso wie Kitty Solaris (Foto), die seit 2007 ein ganz amtliches Lo-Fi-Repertoire zusammengestellt hat und jede Menge Pop-Appeal mitbringt. Abgerundet wird der Abend von den Indierockern Man Behind Tree. Insgesamt zwei Stunden lang gibt’s auf dem Lattenplatz vor dem Knust ein Gratis-Unplugged-Konzert, das jedem die Möglichkeit bietet, ganz dicht dran zu sein an diesem speziellen Sound.

Text: Erik Brandt-Höge

 

Rhiannon Giddens

Archäologie amerikanischer Musikhistorie: Die Sängerin aus North Carolina stellt im Mojo Club ihr erstes Soloalbum vor.

Bereits als Mitglied der Grammy-gekrönten Old-Time-Band Carolina Chocolate Drops hat Rhiannon Giddens gezeigt, dass sie ihre Inspiration mit Vorliebe aus der musikalischen Tradition ihrer amerikanischen Heimat schöpft. Auch auf ihrem Solo-Debüt Tomorrow Is My Turn, für das sie mit Produzentenlegende Joseph Henry „T-Bone“ Burnett zusammengearbeitet hat, gräbt sich die Singer-Songwriterin und Multiinstrumentalistin aus North Carolina wie eine Archäologin durch die Sedimente der amerikanischen Musikhistorie und befördert Folk-, Blues- und Country-Klassiker von Nina Simone, Patsy Cline oder Dolly Parton ins Hier und Jetzt und vielleicht auch ins Morgen. Im Mojo Club stellt sie Hamburg ihr neues Album vor.

Text: Katharina Grabowski

 

„Swing Fever“

Pflichttermin für Swing Kids: Das Mandalay wird zum Speak Easy mit viel Swing, Cocktails und unsittlichen Angeboten.

Jeden Mittwoch unternimmt das Mandalay eine Zeitreise in die Ära, als Tänze Namen hatten wie Wild Jump Blues, Nasty Swing, Good Old R’n’B, Flic Flac Jive, Lindy Hop, Charleston, Swing’n Hop oder Balboa. Wer bei so viel Nostalgie nicht an sich halten kann und stilsicher mitmischen will, bekommt vor Ort einen kostenlosen Balboa-Crashkurs. Das nötige Vinyl zum Mandalay Swing Fever bringt DJ Broonzy mit, während es an der Bar keinen Moonshine gibt, sondern allerfeinste Cocktailkreationen. Dandys im Stresemann-Anzug oder Swing Chicks in Coco Chanels „Kleinem Schwarzen“ samt Federboa sind allerwärmstens willkommen, Pflicht ist zeitgemäßer Chic allerdings nicht (auch wenn’s besser aussieht). Also, Date merken, Anzug bügeln und Manieren überdenken: Es wird sicher unsittlich.

Text: Nik Antoniadis

 

„Die Schutzbefohlenen“

Die nie eingelöste Humanität Europas: Das Thalia Theater zeigt Elfriede Jelineks Flüchtlingsdrama als „sprach- und bildmächtiges Oratorium“.

Man kann Elfriede Jelinek lieben oder hassen. Man kann sie sogar belanglos finden, aber man läuft dann Gefahr, sich aus reinem Unmut in einen gewaltigen Irrtum zu begeben. Denn man kommt nur sehr schwer an ihr vorbei, wenn man sieht, wie massiv sie polarisiert. Wie ihre Themen und ihre Sprache sogar das gediegene hanseatische Theaterpublikum regelmäßig aus der Fassung geraten lassen. Seit das Stück Die Schutzbefohlenen im September 2014 im Thalia Theater uraufgeführt wurde, hat es kein bisschen an Aktualität und Brisanz verloren. Eher im Gegenteil, schrieb es die österreichische Nobelpreisträgerin doch als unmittelbare Reaktion auf die Besetzung einer Wiener Kirche durch Asylsuchende und deren spätere Ausweisung sowie den Tod zahlreicher Flüchtlinge vor Lampedusa wenige Wochen danach. Regisseur Nicolas Stemann inszeniert das Stück – so das Thalia zwar in eigener Sache, aber doch sehr zutreffend – „als sprach- und bildmächtiges Oratorium, das uns in Form und Inhalt mit der Aporie der nie eingelösten Humanität Europas konfrontiert“.

Text: Nik Antoniadis

 

Open Air Kino

Zehn Minuten länger als die reguläre Spielzeit: Das St. Pauli Sommerkino zeigt „Grand Budapest Hotel“ von Wes Anderson.

Was neben den Elbbrücken vermutlich als der lauteste Ort der Stadt gelten kann, ist seit dem 7. Juni allabendlich muksmäuschenstill. Die Gegengerade am Millerntor wird über einen Monat lang zum Kinosaal, wenn auf dem heiligen Rasen das St. Pauli Sommerkino eröffnet. Aktuell auf dem Programm steht Wes Andersons preisgekrönte, temporeiche und skurrile Komödie Grand Budapest Hotel, in der der Inhaber eines ehemals gediegenen Luxushotels einem blockierten Schriftsteller die Geschichte der noblen Absteige anvertraut. Eine Geschichte, die es in sich hat: Der mit beinahe allen Wassern gewaschene Concierge Gustave erbt nach dem Tod einer sehr reichen und sehr alten Dame von ihr ein überaus wertvolles Gemälde. Weil ihre Nachkommenschaft diese Nachlassverfügung unter keinen Umständen akzeptieren will, entscheidet sich Gustave kurzerhand, das Bild zu stehlen und leitet so seinen unaufhaltsamen tragikomischen Niedergang ein. Ein Vergnügen, das zehn Minuten länger dauert als die reguläre Spielzeit und beinahe ebenso dramatisch ist.

Text: Nik Antoniadis

 

Houston Ballet

Gewebt, gewagt, getanzt: Das texanische Ensemble präsentiert in der Staatsoper drei Werke des Choreografen Stanton Welch.

„Houston, wir haben ein Problem!“ Die texanische Stadt wird unmittelbar mit Raumfahrt, nicht jedoch mit Ballett in Verbindung gebracht. Ein Fehler, denn dort ist immerhin das fünftgrößte Ballett-Ensemble der USA zu Hause. Und das gastiert während der diesjährigen 41. Hamburger Ballett-Tage erstmalig in der Hamburgischen Staatsoper. Auf dem Programm stehen drei je halbstündige Werke des Künstlerischen Direktors und Choreografen Stanton Welch, einem australischen Ex-Tänzer, der die Company seit zwölf Jahren leitet. In Tapestry nutzt er die Tanzenden wie ein Bildender Künstler die Farben, um einen Wandbehang (englisch: tapestry) zu weben, den Klangteppich dazu liefert W. A. Mozart. Wie schutzlos sich Menschen in Beziehungen zu zeigen wagen, untersucht Maninyas – und erlaubt auf der Bühne physisches und psychisches Entkleiden. Velocity schließlich feiert temporeich die körperlichen Fähigkeiten heutiger Tänzer, erlaubt ist, was technisch geht. Das Houston Ballet muss kein Problem melden, gehört es doch zu den finanziell am besten ausgestatteten Truppen in den USA.

Text: Dagmar Ellen Fischer

 

„Chapel of Love“

Die rollende Kapelle, in der man alles und jeden heiraten kann, kommt zum Tag des Kusses zum Spielbudenplatz.

Spontan und ohne bürokratischen Aufwand heiraten, aus einer Laune heraus, weil die Sonne scheint, die Nacht so berauschend ist, die Gefühle so stark sind – das geht in der Chapel of Love. Und zwar alles und jeden: die beste Freundin, seinen WG-Mitbewohner, die Schallplattensammlung, das Haustier, den Lebensabschnittsgefährten. Dank vier Mädels und Friedl, einem Oldtimer-Wohnwagen, geht das endlich auch! Die mobile, bunt, schräg und zuckerhübsch gestaltete St. Pauli Chapel of Love tourt durch Hamburg und bietet liebestollen Menschen drei unterschiedliche Zeremonien der (inoffiziellen) Eheschließung: Ganz schlicht, advanced mit Erinnerungsfoto, Konfetti, Brautstrauß oder in der Deluxe-Version mit Hochzeitsdress. Zum Internationalen Tag des Kusses parkt die rollende Hochzeitskapelle auf dem Spielbudenplatz.

Text: Julia Braune

 

„Worst Case Scenario“

Schlimmer geht’s nimmer: Im Metropolis läuft die wilde Groteske über das Scheitern eines ambitionierten Dokumentarfilms an.

Filmemachen und andere Katastrophen sind Gegenstand der wilden Groteske Worst Case Scenario. Sie erzählt von einem deutschen Regisseur, der in Polen eine Komödie über die Fußball-EM drehen will, infolge intimer Verwicklungen aber selbst zur Lachnummer wird. „Schlimmer geht’s nimmer!“ ist das unausgesprochene Motto des Films über das grandiose Scheitern des Filmemachers und seiner Kostümbildnerin, die gleichzeitig seine ehemalige Lebensgefährtin ist. Gestrandet auf einem polnischen Campingplatz müssen sie hilflos zusehen, wie ihr Filmprojekt den Bach runter geht. Mit Samuel Finzi und Laura Tonke konnte Regisseur Franz Müller für den unter „katastrophischen“ Bedingungen improvisierten Film erstklassige Darsteller gewinnen. Bei der Hamburg-Premiere ist er persönlich zu Gast im Metropolis Kino.