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Was darf das Volk?

 

Frank Schirrmacher hat heute in der FAZ einen bemerkenswerten Kommentar geschrieben.

Man muss nicht alle Beziehungen des Witzes zum Unterbewussten kennen, um zu verstehen, wie massiv gerade moralische Übereinkünfte der Nachkriegszeit im Namen einer höheren, einer finanzökonomischen Vernunft zerstört werden. (…) Papandreou tut nicht nur das Richtige, indem er das Volk in die Pflicht nimmt. Er zeigt auch Europa einen Weg. Denn in dieser neuen Lage müsste Europa alles tun, um die Griechen davon zu überzeugen, warum der Weg, den es zeigt, der richtige ist. Es müsste dann nämlich sich selbst davon überzeugen.

Die Aufgabe der Ökonomie wäre es – Frank Lübberding hat darauf hingewiesen –, zu zeigen, dass das bisherige Rettungsprogramm eben nicht alternativlos ist. Denn es ist doch so: Die Logik der Finanzmärkte lässt sich zumindest ohne einen Systemwechsel ebenso wenig wie die Logik wirtschaftlichen Handels allgemein außer Kraft setzen. Man kann noch so viel regulieren und die Wall Street besetzen: Kein Mensch der Welt wird einem Staat Geld leihen, wenn dieser Staat seine Schulden nicht zurückbezahlt. Insofern ist das Risiko, das die Griechen eingehen, nicht eingebildet, sondern real.

Aber: Staaten können dieses Risiko in Kauf nehmen. Die Frage Wohlstand oder Selbstbestimmung ist es wert, gestellt zu werden. Die Politik ist insofern immer souverän – sofern sie die Konsequenzen ihrer Entscheidungen offenlegt und dann auch bereit ist, diese zu tragen. Sie kann sich auch für ein Leben im ökonomischen Suboptimum entscheiden.

Doch so weit muss es nicht einmal kommen. Denn es gibt noch andere Möglichkeiten als das aktuelle Rettungspaket, um die Krise zu beenden. Eurobonds wären eine, eine aktive Rolle der Europäischen Zentralbank eine andere. Es geht hier nicht um die Bewertung dieser Ansätze, sondern darum, dass die Wahl eben nicht lautet: Akzeptanz der Gipfelbeschlüsse oder Finanzchaos.

Ironischerweise ist der wichtigste Einwand gegen das Referendum deshalb nicht ökonomischer, sondern demokratietheoretischer Natur. Wer ist die verfassungsgebende Gewalt – die pouvoir constituant –  in Griechenland? Das griechische Volk? So würde es die herrschende, im Nationalstaat verankerte Lehre wohl darstellen.

Aber was ist sie noch wert, angesichts der enormen Konsequenzen, die die Entscheidung für ganz Europa hat? Wenn die Griechen demnächst abstimmen, dann stimmen sie auch über unsere Währung ab. Dürfen die das? Und wenn der Deutsche Bundestag Finanzhilfen verweigert, dann entzieht er möglicherweise den Italienern die Lebensgrundlage. Dürfen wir das? Man kann es auch so sagen: Jede nationale Entscheidung verletzt das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die Einheit von Zeit, Handlung und Raum, die für das klassische Drama ebenso Voraussetzung ist wie  für die klassische Demokratie, sind nicht mehr gegeben.

Deshalb sollten wir die Völker besser ganz weg lassen. In einer Währungsunion mit ihren Interdependenzen stößt das nationalstaatliche Demokratiekonzept an seine Grenzen. Streng genommen kann die Antwort auf die Euro-Krise deshalb nur in einem gesamteuropäischen Referendum gegeben werden.