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Was will uns Hans-Werner Sinn sagen?

 

Vor einiger Zeit warnte Hans-Werner Sinn bekanntlich noch, dass die verstärkte Inanspruchnahme der Europäischen Zentralbank durch die Geschäftsbanken in den Staaten der europäischen Peripherie dazu führt, dass in Deutschland weniger Kredite vergeben können. Offensichtlich hat er seine Meinung radikal geändert, denn jetzt warnt er vor einer inflationären Explosion der deutschen Kreditvergabe durch ebendiese Inanspruchnahme. So zumindest verstehe ich folgende Aussagen in einem Gastbeitrag für das Handelsblatt.

Dort schreibt Sinn also:

Bis Ende Juli kamen die Targetkredite fast ausschließlich Griechenland, Irland, Portugal und Spanien zugute: 330 Milliarden Euro waren bis dahin aufgelaufen. Italien galt dagegen als stabil. Das ist nun anders. Allein im August zog die italienische Zentralbank Banca d’Italia einen Targetkredit von 40 Milliarden Euro aus dem EZB-System, und im September folgten wahrscheinlich noch einmal rund 50 Milliarden Euro.  

Das hat natürlich Folgen für die Bundesbank:

Bereits im September 2011 rutschte der Nettobestand an Refinanzierungskrediten der Bundesbank nach Abzug der Einlagefazilitäten in den negativen Bereich. (…) Das ist natürlich nicht das Ende der Welt, nicht einmal der EZB. Jedoch hat ein neues Regime begonnen, in dem die Bundesbank sich nun immer mehr bei den privaten Banken verschuldet, um das Fluchtgeld, das aus den Krisenländern kommt, aufzusaugen.

Seine Methode, sich dem Sachverhalt immer wieder über die Target-Kredite und damit quasi durch die Hintertür zu nähern, statt den Haupteingang zu nehmen, zwingt Sinn zu dieser etwas umständlichen Argumentationsweise. Im Prinzip will er sagen: Die italienischen Banken hängen zunehmend am Tropf der EZB und die deutschen Banken sind kaum noch auf die Zentralbank angewiesen sind, weil sie am Interbankenmarkt mit Geld überschwemmt werden, dass im Süden nicht mehr verliehen wird.

Das ist korrekt, wie die folgende Grafik zeigt. Die rote Linie zeigt die Einlagefazilität, die blaue die Hauptrefinanzierungsgeschäfte und die schwarze die Refinanzierungskredite insgesamt. Wir sehen, dass die Inanspruchnahme der Zentralbank durch das deutsche Bankensystem kontinuierlich zurückgeht. Die Banken brauchen die Zentralbank immer weniger.

Grafik: Liquiditätsposition der Banken in Deutschland

Die Frage ist, was die Folgen sind. Sinn schreibt:

Damit betritt die Euro-Zone ein gefährliches Territorium, denn Einlagefazilitäten zählen als Zentralbankgeld und haben ein Inflationspotenzial, weil die deutschen Banken sie jederzeit zurückrufen können. Wenn sie das tun, könnte mehr in Europa explodieren als nur der von Italien gezogene Targetkredit.

Er meint also, dass es hierzulande zu einem Kreditboom kommt und die Bundesbank diesem hilflos ausgeliefert ist, weil die Banken gewissermaßen Zentralbankgeld gebunkert haben, auf das sie zurückgreifen können, wenn die Notenbank den Geldhahn zudreht. Dazu ist folgendes zu sagen:

1. Die Menge des Zentralbankgeldes ist eine, aber sicher nicht die wichtigste Determinante der Kreditvergabe, wie jeder weiß, der einmal mit Bankern zu tun hatte. Wichtig ist vor allem langfristige Liquidität und die gibt es selten direkt von der Zentralbank, sondern am Markt. Wichtig ist auch die Ausstattung mit Eigenkapital. Und wichtig ist schließlich die Kreditnachfrage, die mit dem Zins zu tun hat. Es gibt also genug Ansatzpunkte, um die Kreditvergabe zu steuern. Wenn es nur auf das Zentralbankgeld ankäme, würde der Süden nicht eine Kreditklemme fürchten, obwohl doch bei der EZB ungebremste Liquidität für alle Banken zu haben ist.

2. Selbst wenn man der Meinung ist, dass es auf das Zentralbankgeld ankommt, bedeutet das nicht, dass die Notenbank einer Kreditexplosion hilflos zusehen muss. Sie kann zum Beispiel den Zinssatz auf die Einlagefazilität erhöhen, so dass die Banken ihr Geld lieber bei der Zentralbank lassen, als es für die Kreditvergabe zu benutzen.

3. Die Bundesbank ist Teil des Eurosystems, das seine Geldpolitik am Währungsraum insgesamt ausrichtet – und nicht an Deutschland. Man kann aber in der Tat darüber diskutieren, ob diese Praxis in den einzelnen Ländern nicht prozyklisch wirkt. Dem könnte man zum Beispiel durch variable und konjunkturspezifische Eigenkapitalanforderungen in den einzelnen Ländern entgegenwirken. Das ist aber ein alter Hut und zum Teil schon beschlossen.

4. Derzeit bekommen, wie oben ausgeführt, ohnehin alle Banken in Europa soviel Liquidität wie sie nur wollen – und wenn die deutschen Banken einen Teil davon bei der Zentralbank hinterlegen, dann ist das eher ein Zeichen, dass sie weniger Kredite vergeben wollen und nicht mehr.

Es ist also schwer zu sehen, wo hier ein neues Regime begonnen haben soll.  Hans-Werner Sinn hat einen validen und wichtigen Punkt gemacht – die Euro-Krise ist nicht nur eine Staatsschuldenkrise, sondern auch eine Leistungsbilanzkrise. Aber weil er, so sehe ich es zumindest, eine politische Agenda verfolgt, dreht er seine Thesen immer weiter, bis sie überdreht sind. Wie sagen die Handwerker: Nach fest kommt locker.