Jetzt gibt die EZB endlich zu, dass sie sich Sorgen macht über die fallenden und inzwischen sehr niedrigen Inflationsraten, und dass man im Rat sehr intensiv darüber diskutiert, wie sich ein Abgleiten in die Deflation vermeiden lässt. Der Vergleich mit Japan, der bislang als unzulässig abgetan wurde, ist nun doch erlaubt. Es geht in die gleiche Richtung wie dort. Eine Inflationsrate von nur 0,5 Prozent, wie im März, könnte täuschen – in Wirklichkeit sinkt das Preisniveau vielleicht schon. Aus verschiedenen Gründen überzeichnet die publizierte Inflationsrate die tatsächliche; nicht zuletzt deswegen ist das Inflationsziel der EZB nicht etwa Null, sondern knapp unter zwei Prozent.
Mario Draghi befürchtet zudem, dass es bald vorbei sein könnte mit der festen Verankerung der Inflationserwartungen bei zwei Prozent. Je länger die aktuelle Inflationsrate deutlich darunter bleibt, desto wahrscheinlicher wird es für ihn, dass auch die Erwartungen nach unten angepasst werden. Insoweit die Erwartungen die Lohnabschlüsse und die Ausgabenpläne von Unternehmen und Haushalten beeinflussen, könnte sich – wie in Japan – eine allgemeine Deflationsmentalität breitmachen, also ein Attentismus, der die Konjunktur auf Jahre hinaus bremsen würde.
Im folgenden Schaubild ist zu sehen, dass seit der Einführung des Euro die für die kommenden fünf Jahre erwartete Inflationsrate immer sehr stabil bei zwei Prozent lag, oder knapp darunter. Die befragten Analysten trauten der EZB also zu, dass sie ihre selbstgesetzte Vorgabe einhalten würde. Sie waren bisher – und bis heute – unerschütterlich auf der EZB-Linie, dass Deflation kein Thema sei.
Die EZB leitet ihre Glaubwürdigkeit mit einigem Stolz nicht zuletzt aus diesen Prognosen ab. Sie war bisher in der Lage, die Inflationserwartungen dahin zu steuern, wo sie sie haben wollte. Am Markt aber, da, wo es nicht um Meinungen, sondern um Gewinne und Verluste geht, sind die Erwartungen, gemessen am Renditeabstand zwischen nominalen Anleihen und inflationsindexierten Anleihen gleicher Laufzeit, der sogenannten Breakeven-Inflationsrate, mittlerweile jedoch deutlich nach unten revidiert worden. Hier wird damit gerechnet, dass sich die durchschnittliche Inflationsrate in den kommenden fünf Jahren nur bei knapp über ein Prozent einpendeln wird, also weit unterhalb des Zielwerts der EZB. Dabei sind die Abweichungen zwischen den Werten für die drei größten Rentenmärkten, Deutschland, Frankreich und Italien, erstaunlich gering, vielleicht ein weiteres kleines Indiz dafür, dass sich Euroland im Kernbereich einem optimalen Währungsraum annähert.
Es lässt sich nicht leugnen, dass die Arbeitslosigkeit enorm hoch und die Auslastung der Kapazitäten enorm niedrig ist, vor allem aber, dass sich die Outputlücke auf absehbare Zeit nicht wird schließen lassen. Draghi stellt sich offenbar vor, dass das noch bis Ende 2016 dauern könnte – erst dann soll auch die Inflationsrate wieder ihren Zielwert von knapp unter zwei Prozent erreichen. Langsam kommt Realismus auf!
Im EZB-Rat dreht sich die Diskussion inzwischen vor allem um die Frage, wie sich die Inflationsrate nachhaltig erhöhen lässt, wie die Inflationserwartungen bei knapp unter zwei Prozent gehalten oder dorthin gebracht werden können, wenn sie demnächst einbrechen sollten. Die konventionelle Zinspolitik ist de facto am Ende. Vorstellbar sind eine weitere Senkung des Hauptrefinanzierungssatzes auf 0,1 Prozent und ein negativer Zins von vielleicht 0,5 Prozent auf die Einlagen der Banken bei der EZB. Wenn das Preisniveau im Euroraum in Zukunft sinken sollte, ließe sich nicht mehr vermeiden, dass die Realzinsen steigen und damit das Gegenteil dessen geschieht, was angesichts der Arbeitslosigkeit und der niedrigen Kapazitätsauslastung nötig ist.
Den Banken fehlt es nicht an Liquidität – sie quillt ihnen gewissermaßen aus allen Poren. Sie sind daher dabei, ihre Verbindlichkeiten gegenüber der EZB abzubauen. Priorität hat für sie das sogenannte Deleveraging ihrer Bilanzen: Sie versuchen, schlechte Aktiva loszuwerden und ihr Eigenkapital aufzustocken. Netto wollen sie ihre Kreditbestände möglichst vermindern. Daher dürfte eine neue Runde von LTROs (längerfristigen Zentralbankkrediten) mit Vollzuteilung nicht viel bringen.
Vielversprechender ist die Idee, den Banken einen Teil ihrer Kredite abzukaufen. Mario Draghi hatte auf der gestrigen Pressekonferenz erwähnt, dass die Ausfallquote der verbrieften Kredite Eurolands im Verlauf der Finanzkrise nur etwa ein bis zwei Prozent des Nennwerts erreicht hatte, während nicht weniger als 16 bis 18 Prozent der amerikanischen „Asset Backed Securities“ (ABS) notleidend geworden waren. Mit anderen Worten, die EZB würde gerne mehr Pfandbriefe und dergleichen kaufen – wenn es die denn in ausreichendem Umfang in allen 18 Mitgliedsländern gäbe. Das wäre die europäische Version des „quantitative easing„. Bei Staatsanleihen gibt es Vorbehalte wegen der möglichen Nähe zur monetären Finanzierung der öffentlichen Haushalte, wie sie erst kürzlich von Jens Weidmann geäußert wurden; da will sich die EZB vorläufig nicht dran wagen.
Insgesamt zieht sich die Finanzkrise im Euroland so lange hin, weil die Banken bei der Finanzierung der Wirtschaft eine Schlüsselrolle spielen und es wegen der angeblichen systemischen Risiken nicht möglich ist, rasch die erforderlichen Abschreibungen zu erzwingen. In den USA, wo viel mehr über den Kapitalmarkt läuft, brauchte nicht so viel Rücksicht auf die Gläubiger genommen zu werden – sie wurden ihrem Schicksal überlassen und mussten die Zeche in Form von Vermögensverlusten zahlen. Private Haushalte und institutionelle Anleger können leichter Verluste absorbieren als die Banken und können, weil es so viele sind, den Staat nicht so leicht in Geiselhaft nehmen. Damit war die Angelegenheit rasch erledigt und ein Neustart möglich. Das reale BIP expandiert seit Mitte 2009 zügig, seit einem Jahr mit Raten von mehr als drei Prozent, während sich die europäische Wirtschaft gerade mal so dahinschleppt. In beiden vergangenen Jahren ist sie nur knapp an einer Rezession vorbeigeschrappt, und für 2014 wird es trotz „Aufschwung“ nach der letzten EZB Prognose nur zu einer Wachstumsrate von 1,2 Prozent kommen.
Die europäischen Banken müssen ihre Bilanzen schneller bereinigen als bisher. Sie sind das wichtigste Hindernis für einen nachhaltigen Wirtschaftsaufschwung und der wichtigste Grund, weshalb Deflation nach wie vor eine große Gefahr ist. Vielleicht ist das „Asset Quality Review“ (AQR) der EZB, das bis November läuft, der Katalysator für den Deleveraging-Prozess. Bevor die EZB im Herbst dieses Jahres eine wichtige Rolle bei der europäischen Bankenaufsicht übernimmt, werden dabei eine ganze Reihe europäischer Banken, die als system-relevant eingestuft werden, einer umfangreichen Prüfung unterzogen. Es ist im Interesse der Banken, dass sie sich bis dahin gesund schrumpfen und rekapitalisieren. Einige Banken werden wohl über die Klinge springen müssen, damit das Review glaubhaft wirkt und der Ruf der EZB als Aufsichtsbehörde nicht von vornherein beschädigt ist. Keine Bank möchte zu den Opfern gehören, vermute ich mal. Hoffentlich ist das nicht nur Wunschdenken.
Eins ist sicher: Die Märkte können sich darauf verlassen, dass die Zinsen in diesem Jahr niedrig bleiben werden, vermutlich sogar ein oder sogar zwei Jahre länger. Es geht nur darum, mit welchen Instrumenten monetäre Expansionspolitik betrieben wird, nicht, wann es zu einer Wende in der Geldpolitik kommen wird.