Mario Draghi wirbt in diesen Tagen vor allem in Deutschland intensiv um sein Projekt, durch den massiven Ankauf von Staatsanleihen (Quantitative Easing, kurz auch QE genannt) die Konjunktur zu stimulieren und das Abgleiten in die Deflation zu verhindern. Am Freitag hat er dem Handelsblatt eines seiner seltenen Interviews gewährt. Er weiß, dass es vor allem auf die öffentliche Meinung unseres Landes ankommt, da der deutsche Steuerzahler de facto das größte Risiko zu übernehmen hat und es eine Katastrophe wäre, wenn Jens Weidmann und Sabine Lautenschläger, die beiden deutschen Mitglieder des EZB-Rats, aus Protest gegen eine aus ihrer Sicht unsolide Geldpolitik zurücktreten würden. Um meine Einschätzung vorwegzunehmen: Ich weiß nicht, ob QE schon die Wende bringen kann, und ob es nicht bessere Alternativen gibt, es ist aber ein Schritt in die richtige Richtung, und er ist nicht übermäßig riskant.
Zunächst ist zu fragen, wer die Profiteure von QE sind. Das sind zunächst diejenigen, denen die wahrscheinlichen Kursgewinnen zugutekommen, also die Besitzer und Verkäufer dieser europäischen Anleihen, vor allem Banken, Versicherungen, Pensionskassen, Stiftungsvermögen, wohlhabende Haushalte und Investment- und Hedgefonds, die sich auf festverzinsliche Wertpapiere spezialisieren. Da die langen Zinsen sinken – bei den kurzen gibt es schon lange keinen Spielraum mehr –, werden zudem alle die auf der Gewinnerseite sein, die langfristige Schulden aufnehmen müssen oder möchten. Dazu gehören nicht nur die Regierungen, sondern auch die Häuslebauer und Unternehmen Eurolands. Sie können sich noch billiger verschulden als ohnehin schon – oder sich rascher entschulden, je nachdem. Ihre finanzielle Situation verbessert sich jedenfalls.
Mit welchen realwirtschaftlichen Effekten wäre zu rechnen? Das Vermögen der Anleihebesitzer nimmt (durch realisierte und unrealisierte) Kursgewinne zu. Soweit es sich um private Haushalte handelt, haben sie in der Regel allerdings eine hohe Sparquote, was den positiven Effekt auf die Konjunktur dämpft. Die Ausgaben für Güter und Dienstleistungen, auf die es aus konjunktureller Sicht letztlich ankommt, reagieren auf sogenannte Vermögenseffekte deutlich verhaltener als auf einen Anstieg der Einkommen. Wer wirklich etwas für die Konjunktur tun will, muss dafür sorgen, dass vor allem ärmere Leute, mit niedrigen oder negativen Sparquoten, mehr Geld in die Taschen bekommen oder steigende Einkommen in Aussicht gestellt bekommen. Durch QE lässt sich da wenig machen – Haushalte mit niedrigen Einkommen verfügen nur selten über Anleiheportefeuilles.
Helicopter money – das Verteilen von gleichgroßen Geldbeträgen durch die EZB an alle, an das griechische Kleinkind, den irischen Opa oder den deutschen Millionär, ohne Gegenleistung – wäre daher eindeutig die bessere Strategie. Sie wirkt direkt, ohne Umwege über Banken oder Kurseffekte. Die wirtschaftliche und politische Lage in der Währungsunion ist aber noch nicht so kritisch, dass so etwas für die Geldpolitiker eine erwägenswerte Alternative ist. Wo kämen wir denn da hin? Wäre nicht die Grenze zur Staatsfinanzierung überschritten? Helicopter money ist letztlich ein Steuergeschenk, finanziert durch die Notenbank. Andererseits lässt sich argumentieren, dass QE im Kern ebenfalls eine Finanzierung öffentlicher Haushalte durch die Notenpresse ist.
Für Banken und Versicherungen bedeuten höhere Gewinne, dass es ihnen leichter fällt, ihr Eigenkapital zu stärken. Sie wären in der Lage, angesichts der verbesserten Gewinnsituation höhere Dividenden auszuschütten. Gleichzeitig kommt die Reparatur ihrer Bilanzen schneller voran, so dass sie mehr Spielraum für neue Kredite haben. QE stabilisiert auf jeden Fall den Finanzsektor, der ja nach wie vor auf sehr wackligen Beinen steht. Das Risiko einer neuen Bankenkrise nähme ab.
Vermutlich werden zudem die Aktienkurse steigen, nicht nur weil die Anleihen durch QE teurer werden und sich Aktien auf diese Weise relativ verbilligen, oder weil die Fremdkapitalkosten der Unternehmen sinken und die Gewinne dadurch zunehmen, sondern auch weil mehr Liquidität im System ist. Höhere Aktienkurse bedeuten, dass die Unternehmen günstiger an ihr Eigenkapital kommen und vielleicht endlich mal wieder mehr investieren und Leute einstellen. Aktienbesitzer fühlen sich außerdem reicher als bisher und dürften mit mehr Zuversicht in die Zukunft schauen und bereit sein, etwas mehr Geld auszugeben, eigenes und geliehenes.
Durch das weitere Sinken der Anleiherenditen ist es weniger attraktiv, in Form von Anleihen zu sparen. Die Rendite der zehnjährigen Bundesanleihe hat inzwischen 0,5 Prozent erreicht. So viel bewirkt offenbar schon die Erwartung, dass QE in der einen oder anderen Form kommen wird. Aktien sind daher die bessere Wahl. Die Unternehmen freut’s. Sie dürften mehr investieren und Arbeitsplätze schaffen, allerdings auch hier nur der Tendenz nach. Ihre finanzielle Lage ist bereits jetzt absolut und im Vergleich zu der der Arbeitnehmer ganz gut, ohne dass sie dadurch bislang in einen Investitionsrausch gefallen wären. Dass sie sich mit Expansionsstrategien zurückhalten, hat vor allem damit zu tun, dass sie zurzeit nicht mit einem dauerhaften Anstieg ihrer Umsätze rechnen – daran ändern höhere Aktienkurse und noch niedrigere Zinsen wenig.
Was die öffentlichen Finanzen in den Ländern des Euroraums angeht, können die Finanzministerien rascher ihre Schulden und ihren Schuldendienst vermindern als sie bisher erwarten konnten. Sie wären einerseits in der Lage, bei gleichen Gesamtausgaben mehr für staatlichen Konsum und staatliche Investitionen auszugeben, und andererseits ihre Bonität am Kapitalmarkt zu verbessern. Es dürfte erneut zu einem Run auf die letzten noch einigermaßen hochverzinslichen Staatsanleihen im Euroraum kommen (Italien, Spanien, Portugal); selbst griechische Anleihen werden profitieren, da sich auch an deren Markt der Trade-off zwischen Rendite und Risiko verbessert. Das alles bedeutet, dass Risiken, wie in den Jahren vor der Finanzkrise, nicht angemessen in den Renditedifferenzen reflektiert werden, das europäische Finanzsystem also in dieser Hinsicht anfälliger wird.
Durch die Expansion der EZB-Bilanz erhöht sich zudem das Volumen von Zentralbankgeld: tendenziell wird sich der Euro dadurch weiter abwerten. In dieselbe Richtung wirkt das Bestreben der Europäer, auf höher verzinsliche ausländische Wertpapieranlagen auszuweichen. Insgesamt wäre ein schwächerer Euro aber ein situationsgerechtes Ergebnis. Angesichts der gewaltigen ungenutzten Kapazitätsreserven passt es, wenn dadurch mehr exportiert und weniger importiert wird. Höhere Einfuhrpreise stimulieren tendenziell die Binnennachfrage. Die Europäer vermindern zwar, in Dollar gerechnet, ihr Einkommen, sie haben aber bessere Chancen auf mehr Umsatz und Jobs. Da sich das Preisniveau zurzeit in Richtung Deflation bewegt, würden weniger stark sinkende (oder sogar steigende) Außenhandelspreise im Kampf gegen die Deflation nutzen. Noch sieht es danach aus, als ob im Ausland eine Abwertung des Euro nicht als Kampfansage aufgefasst wird. Da Euroland konjunkturell weltweit mit am schlechtesten dasteht (wenn auch besser als Rohstoffexporteure wie Russland oder Venezuela), ist das vermutlich nicht nur Wunschdenken. Der Euro wird aber vermutlich nicht dauerhaft schwächer sein; dagegen sprechen der gewaltige Überschuss in der Leistungsbilanz und die vergleichsweise soliden Staatsfinanzen (jedenfalls im Durchschnitt).
Für Anleger bedeutet der Einsatz von QE, dass sie die Gewichte in ihren Portefeuilles ändern sollten: mehr Aktien (nicht zuletzt Bank- und Versicherungsaktien, Exportwerte, aber weniger Importwerte), Staatsanleihen von Ländern in der Peripherie Eurolands und Fremdwährungsaktiva. Auch der Goldpreis dürfte zulegen, da das Deflationsrisiko abnimmt. Immobilien werden wieder attraktiver und tendenziell teurer – ich schätze, dass zehnjährige Festzinshypotheken in Deutschland demnächst für 1,1 Prozent zu haben sein werden, fünfzehnjährige für vielleicht 1,25 Prozent.
In den Medien wird manchmal argumentiert, dass QE die Qualität der europäischen Notenbankbilanz verschlechtert: zu viele Anleihen von überschuldeten Staaten! Das lässt viele unserer Mitbürger des Nachts nicht schlafen, ist aber Unsinn. Es ist ja keineswegs ausgemacht, dass die Bonität staatlicher Schuldner schlechter ist als die der Banken, deren Verbindlichkeiten die EZB jetzt vorwiegend auf ihren Büchern hat. Außerdem zwingt niemand die EZB, die Kurswerte ihrer „schlechten“ Aktiva zu vermindern. Für eine Zentralbank ist das kein relevanter Aspekt – sie treibt Geldpolitik und ist keineswegs auf Gewinnmaximierung aus. Sie kann auch nicht pleitegehen. Wenn die EZB eines Tages beschließen sollte, ihre Bilanz wieder zu verkürzen, hat sie eine Vielzahl von Optionen. Mit anderen Worten, sie muss die griechischen Anleihen nicht verkaufen. Im Übrigen, wenn diese bei Fälligkeit nicht zurückgezahlt werden sollten, macht die EZB zwar einen Verlust, durch den die Gewinnausschüttung an die Mitgliedsländer vermindert wird – insofern würde der deutsche Steuerzahler leiden –, aber die Funktionsfähigkeit der EZB wäre nicht im Geringsten beeinträchtigt.
Aus ökonomischer Sicht kann QE also kommen. In den USA und Großbritannien ist uns erfolgreich vorgemacht worden, wie es funktionieren kann, jedenfalls fürs Erste.