Gerade hat der Internationale Währungsfonds (IWF) seine Herbstprognosen veröffentlicht: Die Weltwirtschaft schleppt sich dahin und will einfach nicht in Fahrt kommen. Gemessen in sogenannten Kaufkraftparitäten expandiert sie mit einer Rate von rund 3,1 Prozent, das ist etwa ein Prozentpunkt langsamer als im Jahrzehnt vor der großen Rezession. Von Engpässen in der Produktion kann angesichts der schwachen Nachfrage weder global noch in einzelnen Ländern die Rede sein, im Gegenteil. Es ist für Unternehmen praktisch nicht möglich, die Preise zu erhöhen. Für Aktien ist das Umfeld von daher ungünstig. Dass sie dennoch im Allgemeinen hoch bewertet sind, hat vor allem damit zu tun, dass Bonds, die wichtigste Anlagealternative, infolge der äußerst lockeren Geldpolitik ebenfalls sehr teuer sind. Von den Gewinnaussichten her ist das gegenwärtige Kursniveau von DAX, S&P 500, Nikkei oder Shanghai Composite jedenfalls nicht zu rechtfertigen.
In Deutschland haben die Zahlen für Auftragseingänge und Industrieproduktion erneut enttäuscht. Im August hat die Dynamik trotz des schwachen Euro, der rekordniedrigen Zinsen und des Kaufkraftgewinns durch den Verfall der Ölpreise stark nachgelassen. Die Aufträge haben übers Jahr gesehen nur langsam zugenommen und liegen real, also preisbereinigt, noch immer um fast zehn Prozent unter dem Niveau, das sie bereits um die Jahreswende 2007/2008 erreicht hatten, während die Industrie zuletzt gerade einmal so viel produziert hat wie damals. Insgesamt häufen sich die Indikatoren, dass das reale Bruttoinlandsprodukt im dritten Quartal langsamer zugenommen hat als von den meisten Analysten erwartet, sodass es schwerfallen wird, 2015 die im Grunde mickrige Wachstumsrate von 1,5 Prozent zu erreichen, wie sie vom IWF und anderen Institutionen prognostiziert wird.
Zu solchen Zahlen passt nicht, dass die Marktteilnehmer für 2015 gegenüber dem Vorjahr für die 30 DAX-Unternehmen mit einem Anstieg der Gewinne um 28 Prozent rechnen. Aktienkurse, die auf dieser Erwartung basieren, sind eindeutig zu hoch. Weil die Einkommen der Arbeitnehmer neuerdings angesichts des robusten Arbeitsmarkts rascher steigen als die Vermögenseinkommen und die Outputpreise der Unternehmen kräftig sinken (-1,7 Prozent ggVj.), wird bestenfalls eine Stagnation der Gewinne herauskommen.
Andererseits ist die aktuelle Gewinnrendite deutscher Aktien von 6,3 Prozent (der Inversen des DAX-Kurs-Gewinnverhältnisses) im Vergleich zur Rendite „risikoloser“ langfristiger Staatsanleihen von 0,6 Prozent historisch gesehen überdurchschnittlich hoch; erst recht gilt das, wenn man sie mit der realen Bondrendite von -0,5 Prozent vergleicht (berechnet mit der für 10 Jahre erwarteten durchschnittlichen Inflationsrate auf der Basis inflationsgeschützter Bundesanleihen).
Mit anderen Worten, für sich genommen sind Aktien nicht billig, verglichen mit Anleihen sind sie es aber doch. Zudem liegt die Dividendenrendite zurzeit bei knapp drei Prozent.
Daraus eine klare Anlageempfehlung für Aktien abzuleiten, dürfte aber dennoch voreilig sein. In der Vergangenheit war der Rentenmarkt immer eine Art Referenzsystem für die Aktien. Wie die folgende Grafik zeigt, ist der deutsche Aktienindex bisher immer auf das Niveau zurückgefallen, das vom Performance-Index der Bundesanleihen (REXP) vorgegeben war. Wenn sich die Aktienkurse davon zu weit nach oben entfernt hatten, wurden sie wie von einer magischen Kraft wieder in Richtung Bondperformance zurückgezogen (1988, 1992, 1994, 2002, 2008). Wenn es sich um so etwas wie eine Gesetzmäßigkeit handelt, befände sich der DAX zur Zeit in der nächsten großen Korrektur: Er hat zwar von der Spitze im vergangenen April 19 Prozent eingebüßt, ein weiterer Rückfall, etwa in die Region 5.500 bis 6.000, würde aber nicht überraschen.
Nur wenn es zu einem dramatischen Anstieg der Rentenperformance kommen sollte, wäre ein solcher Absturz unwahrscheinlich. Nur: Wie kann das gehen? Bei einem Anstieg der Bondrenditen kommt es automatisch zu Kursverlusten und damit voraussichtlich zu einem Rückgang der Bondperformance – das würde die potenzielle Fallhöhe für die Aktien vergrößern. Wenn die EZB dagegen ihr Bondankaufprogramm demnächst aufstockt oder die mittelfristigen Inflationserwartungen ins Negative drehen, könnten die Anleiherenditen im Extremfall auf ein Niveau wie in der Schweiz zurückfallen (Zehnjährige liegen dort bei -0,2 Prozent), mit der Folge, dass die Bondperformance noch einmal einen Schub bekommt und auf diese Weise den Korrekturbedarf der deutschen Aktien vermindert – wenn auch nicht substanziell.
Für mich reicht die Beobachtung einer symbiotischen Beziehung zwischen deutschen Aktien und Renten nicht aus als Begründung dafür, dass wir wieder einmal vor einem Crash des DAX stehen. Ohne eine richtige Rezession und einen Einbruch der Gewinne halte ich das für ausgeschlossen. Genau ein solches Szenarium ist aber durchaus denkbar. Ausgangspunkt könnte China sein, dessen Wirtschaft inzwischen zum wichtigsten globalen Akteur aufgestiegen ist. Am Immobilienmarkt, bei den Investitionen des Staates und der Unternehmen sowie am Aktienmarkt ist es in China zu schuldenfinanzierten Überinvestitionen gekommen, zu Blasen, denen möglicherweise bereits die Luft ausgeht. Relativ zum Bruttoinlandsprodukt waren die Schulden des privaten Sektors im ersten Quartal des Jahres ebenso hoch wie Anno dazumal in Japan, vor dem Platzen der dortigen Blasen – mit dessen Kollateralschäden das Land bis heute kämpft (der wichtigste bestand darin, dass sich das Trendwachstum des realen BIP von vier Prozent vor der Krise auf ein Prozent danach vermindert hatte).
Wenn es tatsächlich zu einem massiven Rückgang der chinesischen Vermögenspreise kommen sollte, gefolgt von einer jahrzehntelangen Bilanzsanierung der Haushalte, Banken und sonstigen Unternehmen, hätte das katastrophale Folgen. Da China am Weltmarkt der größte Nachfrager nach Rohstoffen und verarbeiteten Produkten ist, würde eine Rezession sofort auf den Rest der Welt übergreifen und an den Aktienmärkten zu gewaltigen Verlusten führen.
Als ein anderes negatives Element für Aktien könnte sich das Platzen der sogenannten Carbon Bubble herausstellen. Zumindest in Westeuropa wird das bisher allerdings noch nicht ernst genommen. Durch den Einbruch der Energiepreise ist der Wert der Öl-, Gas- und Kohlevorräte im Boden bereits stark gesunken. Sollte sich der Rückgang als dauerhaft erweisen, käme es durch Abschreibungen zu großen Verlusten bei den Produzenten. Verstärkt würde der Effekt durch verbindliche internationale Abmachungen zur Begrenzung des globalen Temperaturanstiegs; um den Ausstoß von Kohlendioxid zu vermindern, müsste ein Großteil der Reserven für immer im Boden bleiben. Von der Größenordnung her dürften der erforderliche Abschreibungsbedarf und die dann folgenden Bilanzbereinigungen (deleveraging) die notleidenden Immobilienkredite der Jahre 2007 bis 2009 übertreffen. Die globale Rezession wäre tiefer als damals.
Es muss nicht so kommen, es kann aber. Insofern sind die meisten Aktien zurzeit stark dem Risiko ausgesetzt, dass es erneut zu einer tiefen Rezession kommt.