Auf seiner letzten Pressekonferenz am 27. April hatte Mario Draghi keinen Zweifel daran gelassen, dass es für lange Zeit nichts werden würde mit Zinserhöhungen: „Wir gehen weiterhin davon aus, dass (die Leitzinsen) für eine längere Zeit und weit über den Zeithorizont unseres Nettoerwerbs von Vermögenswerten hinaus auf dem aktuellen oder einem niedrigeren Niveau bleiben werden“, sagte er. Der Zentralbankrat möchte sichergehen, dass sich die Inflation nachhaltig bei ihrem Zielwert von knapp zwei Prozent einpendelt. Der Inflationsdruck sei im Augenblick noch nicht stark genug, sagte Draghi, und es gebe keine Alternative zu der sehr expansiven Geldpolitik.
Das ist eindeutig. Es könnte aber auch einfach nur ein Pfeifen im Wald sein.
Denn Yves Mersch, Mitglied des EZB-Direktoriums, klang am 8. Mai schon ganz anders: „Wir könnten die Effekte unserer geldpolitischen Maßnahmen in einem neuen Umfeld ausgewogener Risiken überprüfen; sie wurden ergriffen, als das Deflationsrisiko noch groß war. (…) Unsere Kommunikation mit den Marktteilnehmern muss auf veränderte wirtschaftliche Gegebenheiten reagieren, damit sie konsistent und glaubhaft bleibt.“ Ich habe mal frei übersetzt und damit dem Leser erspart, zwischen den Zeilen lesen zu müssen.
Die Verhältnisse haben sich zuletzt rasch zum Besseren verändert. Es ist immer wahrscheinlicher geworden, dass sich der Inflationsdruck, der sich auf den vorgelagerten Stufen entwickelt hat, von nun an nachhaltig in einem rascheren Anstieg der Verbraucherpreise niederschlagen wird, egal was beim Ölpreis oder beim Wechselkurs passiert.
Der Spiegel will erfahren haben, dass die EZB die Öffentlichkeit vom Herbst an darüber informieren wird, wie sie sich den Ausstieg aus dem Ankaufsprogramm vorstellt. Ab Januar 2018 soll sein Volumen Monat für Monat um 10 bis 20 Milliarden Euro reduziert werden. Zurzeit werden bekanntlich netto 60 Milliarden Euro pro Monat vom Markt genommen. Schon in diesem Sommer wird die EZB damit beginnen, ein positives Konjunkturbild zu zeichnen: Die Abwärtsrisiken seien gering und die Inflationsrate werde sich dem EZB-Ziel von knapp zwei Prozent annähern, so dürfte dann der Tenor sein.
Was folgt daraus? Laut Spiegel werde die EZB die Leitzinsen Ende 2018 „bei Bedarf“ erstmals wieder anheben. Ich glaube allerdings nicht, dass das ernst gemeint sein kann – erst in eineinhalb Jahren und damit volle drei Jahre, nachdem die US-Notenbank auf Restriktion umgeschaltet hat? Zu dem Zeitpunkt wäre die Fed Funds Rate, der amerikanische Leitzins, vermutlich 300 Basispunkte höher als der europäische „Hauptrefinanzierungssatz“. Dazu passt ein Wechselkurs von vielleicht 90 US-Cents pro Euro. In den USA würde das als der Beginn eines Währungskriegs wahrgenommen werden.
Aus zwei weiteren Gründen dürfte die EZB daran interessiert sein, die Zinsen schon früher anzuheben. Erstens würde das die Sanierung des nach wie vor fragilen europäischen Bankensektors beschleunigen – dessen Gewinne hängen entscheidend von der Zinsspanne ab, und die wiederum von der Höhe der Leitzinsen. Je niedriger die sind, desto geringer der Abstand zwischen Soll- und Habenzinsen. Zweitens kommt irgendwann, vielleicht schon bald, die nächste Rezession. Da wäre es gut, wenn die EZB in der Lage wäre, die Zinsen zu senken und damit die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu stimulieren. Bei Nullzinsen geht das nicht.
An den europäischen Rentenmärkten hat sich meine Einschätzung noch nicht so richtig durchgesetzt. Seit dem vergangenen Sommer sind etwa die Renditen der zehnjährigen Bundesanleihen gerade einmal von -0,19 Prozent auf +0,44 Prozent gestiegen und liegen damit sowohl unterhalb der erwarteten Inflationsrate von 1,16 Prozent als auch der aktuellen Inflationsrate von 1,9 Prozent, sind real also immer noch weit im roten Bereich. Um einmal ein Gefühl für die Größenordnungen zu vermitteln: Normal wäre Stand heute eine nominale Rendite von etwa 3,5 Prozent, dem Produkt aus dem deutschen Produktivitätstrend von einem Prozent, der Zielinflationsrate von 2 Prozent und einer Terminprämie von 0,5 Prozent; real wären daher rund 1,5 Prozent so etwas wie eine Gleichgewichtsrendite. Bis zu diesen Werten ist der Weg noch lang.
Vor einigen Monaten hatte ich argumentiert, dass die EZB bereits in diesem Herbst die Zinsen erhöhen würde: Die Konjunktur würde rascher Fahrt aufnehmen als erwartet, der Druck in der Inflationspipeline würde wegen der verbesserten Kapazitätsauslastung zunehmen und allzu lange könne es sich die EZB nicht leisten, die US-Zinspolitik zu ignorieren und damit den Euro zu schwächen. Ich denke, dass all das noch gilt, aber da Mario Draghi sich darauf festgelegt hat, erst nach dem Ende des Ankaufsprogramms über höhere Zinsen nachzudenken, ist es jetzt am wahrscheinlichsten, dass die Wende erst Anfang 2018 eingeläutet wird.
Sobald das Konsens wird, dürften die Bondrenditen in die Höhe schießen. Wir haben das in den USA gesehen, als Anfang Mai 2013 Gerüchte über einen Kurswechsel der Fed (tapering) bei zehnjährigen Treasuries innerhalb von vier Monaten zu einem Renditeanstieg von 1,63 Prozent auf 3,0 Prozent führte. Mitte 2016 kam es noch einmal zu einer kleinen Panik am US-Rentenmarkt (von 1,37 Prozent auf 2,60 Prozent im Dezember), ebenfalls als Reaktion auf die Erwartung einer restriktiveren Fed-Politik. Die EZB ist also gewarnt: Je länger sie sich mit dem Kurswechsel Zeit lässt, desto heftiger und volkswirtschaftlich kostspieliger werden die Kursverluste an den europäischen Märkten ausfallen. Insofern waren die Äußerungen von Yves Mersch ein strategisch kluger Schachzug.
Für Anleger ist es also nicht ratsam, die Laufzeit (duration) ihrer Portefeuilles zu verlängern. Gewinnmitnahmen bei länger laufenden Bonds bieten sich an, ebenso wie kürzer laufende Papiere bei Neuanschaffungen. Wenn die EZB erst einmal begonnen hat, die Zinsen anzuheben, wird sie einige Jahre dabei bleiben. Solange wird die Schwäche des Rentenmarkts anhalten.
Wer sich verschulden will, sollte das Umgekehrte tun – die Laufzeiten verlängern und die Zinsen festschreiben. So jung wie heute werden wir nie mehr sein, und so niedrige Hypothekenzinsen wie heute wird es möglicherweise auf Jahrzehnte hinaus nicht mehr geben.