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Die EZB gibt weiter Gas

 

Am Donnerstag gab es die neuen Prognosen der EZB-Ökonomen. Die Wachstumsrate für 2018 wurde im Vergleich zum letzten Dezember um einen Zehntelprozentpunkt auf 2,4 Prozent angehoben. In den beiden Folgejahren soll es dann bei den Werten der früheren Prognose bleiben, nämlich bei 1,9 und 1,7 Prozent. Insgesamt ist die konjunkturelle Lage sehr erfreulich. Trotz des kräftigen Anstiegs der Produktion dürfte es laut EZB weder in diesem noch im nächsten Jahr Kapazitätsengpässe geben, was sich daran ablesen lässt, dass sich die Inflation erst im Jahr 2020 beschleunigen wird, von jeweils 1,4 Prozent in den Jahren 2018 und 2019 auf dann 1,7 Prozent. Das wäre immer noch etwas unterhalb der EZB-Zielmarke von knapp unter zwei Prozent, würde aber eine „Normalisierung“ der Geldpolitik erlauben, wenn, ja wenn sich die Kerninflation bis dahin nachhaltig von dem 1-Prozent-Niveau entfernt hat, auf dem sie sich seit nunmehr fünf Jahren bewegt. Ich übersetze hier Mario Draghis Begriff „underlying inflation“ mangels eines genau passenden deutschen Wortes mit „Kerninflation“, also die Inflationsrate ohne die volatilen Komponenten Energie, Nahrungsmittel, Alkohol und Tabak.

Grafik: Inflation im Euroraum 1999-Feb2018

Von einer Wende in der europäischen Geldpolitik kann auch nach der Pressekonferenz von Mario Draghi am Donnerstag keine Rede sein. Sie wird extrem expansiv bleiben, denn – so der EZB-Präsident – die Kerninflation sei weiterhin sehr gedämpft und es gebe noch keine überzeugenden Anzeichen für einen dauerhaften Aufwärtstrend. Damit die Preise endlich schneller steigen, sei ein starker monetärer Stimulus unverzichtbar. Das aktuelle Anleihekaufprogramm (APP) von monatlich 30 Mrd. Euro werde, falls erforderlich, auch über den September dieses Jahres hinaus fortgeführt, und die Leitzinsen würden noch lange nach dem Auslaufen des APP auf ihrem jetzigen Niveau bleiben.

Für die Marktteilnehmer war schnell klar, dass das gute Nachrichten für die Bondmärkte waren. Im Zehnjahresbereich sanken die Zinsen auf Staatsanleihen um durchschnittlich etwa vier Basispunkte. Warum? Unverändert niedrige Leitzinsen begrenzen den Spielraum für die Renditen bei den längeren Laufzeiten. Wenn, so wie jetzt, von der Inflationsseite keine Gefahren drohen, ist der Abstand zwischen Geldmarktsätzen von -0,33 Prozent (dreimonatiger EURIBOR) und der Rendite zehnjähriger Bundesanleihen von 0,64 Prozent bereits sehr groß. Nur wenn sich die Inflationserwartungen verschlechtern sollten, kann sich dieser Abstand vergrößern. Wegen des festen Euro und der schlechten Verhandlungsposition der Arbeitnehmer als Folge der nach wie vor erheblichen Unterbeschäftigung ist damit aber für‘s Erste nicht zu rechnen.

Wie die folgende Grafik zeigt, hat es in den vergangenen Jahren zwar Fortschritte im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit gegeben, die Quote liegt aber immer noch bei 8,6 Prozent; die weiter gefasste Unterbeschäftigungsquote betrug zuletzt 17,1 Prozent – das sind fast 30 Millionen Menschen. Wie soll da Lohninflation entstehen?

Grafik: Unterbeschäftigung im Euroraum

Draghi verteidigt die niedrigen Leitzinsen im Übrigen auch damit, dass sie den Schuldenabbau der Staaten, Unternehmen und Haushalte wesentlich erleichtern. Nach wie vor hält er offenbar weite Segmente der europäischen Wirtschaft für überschuldet und damit anfällig für einen starken Anstieg des Schuldendienstes durch höhere Zinsen. Indem die jetzige geldpolitische Strategie so lange wie möglich beibehalten wird, kann die Schuldenlast und mit ihr das Risiko einer neuen Finanzkrise weiter vermindert werden. Interessanterweise legte Draghi in diesem Zusammenhang Wert auf die Feststellung, dass „in other major jurisdictions“ zurzeit wieder eine massive Deregulierung des Finanzsektors vorangetrieben wird. Er denkt da wohl an China und die USA. In den 10 bis 12 Jahren vor 2007 hatten Deregulierung und expansive Geldpolitik den Boden für die globale Finanzkrise und die tiefe Rezession in den Industrieländern bereitet. So etwas Ähnliches könnte sich außerhalb Europas gerade wieder abspielen und dann die gesamte Welt in Mitleidenschaft ziehen. Wir sollten Draghis Vorahnungen ernst nehmen.

In diesem Blog wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass das Wachstum des Produktionspotenzials deutlich höher sei als von offiziösen Prognoseinstitutionen unterstellt: nicht 1,25 Prozent, sondern eher 2,25 Prozent pro Jahr. Draghi scheint sich diese Position inzwischen zu eigen gemacht zu haben. Wie er im Verlauf der Pressekonferenz erläuterte, wisse er zwar nicht, wie groß die Outputlücke tatsächlich sei, starkes BIP-Wachstum, eine überraschend kräftige Zunahme der Beschäftigung (von inzwischen etwa 1,5 Prozent pro Jahr), die Strukturreformen der jüngeren Vergangenheit sowie das Anspringen der Produktivität könnten die Kapazitätsgrenzen nach oben verschoben haben. Sollte es so sein, würde die vergleichsweise starke Expansion des realen BIP bisher nicht viel an der Unterauslastung geändert haben. Für mich heißt das (weiterhin), dass sich die Outputlücke gar nicht sonderlich verkleinert hat und die Gelddruckerei daher noch keine Gefahr für die Stabilität des Preisniveaus ist.

Grafik: Zentralbankbilanzen in Relation zum BIP

Nicht jeder sieht das so. Die dunkle Seite der EZB-Politik besteht für jemanden wie Jürgen Stark, früher Chefvolkswirt und Mitglied im Direktorium der EZB, darin, dass die „Leitzinsen ihre Steuerungs- und Frühwarnfunktionen verloren haben, […] Risiken falsch bewertet werden, was zu einer Fehlallokation von Ressourcen und der Zombifizierung von Banken und anderen Unternehmen führt, was wiederum den Schuldenabbau verzögert hat. […] die Bondmärkte sind vollkommen aus dem Lot, und in hochverschuldeten Ländern wurde die Konsolidierung der Staatshaushalte ausgesetzt. Der Nutzen der EZB-Politik ist fraglich, während die Kosten auf der Hand liegen. Die Geldpolitik ist einfach unverantwortlich, ebenso wie das Fehlen eines Ausstiegsplans.“ (siehe Jürgen Stark „The Irresponsible ECB“ am 19. Februar bei Project Syndicate; meine Übersetzung)

Da ist was dran. Aber schwerer wiegen die konkreten Erfolge, dass die Wirtschaft Eurolands durch die anhaltend lockere Geldpolitik endlich Fahrt aufgenommen hat, es sichtbare Fortschritte bei der Beschäftigung gibt, die staatlichen Defizite überall stark zurückgegangen sind, die Schulden in Relation zum BIP Schritt für Schritt sinken, und dass der künftige Wohlstand durch das beschleunigte Wachstum des Produktionspotenzials höher ausfallen wird als bisher erwartet. Aus der vorhergehenden Grafik geht im Übrigen hervor, dass andere wichtige Notenbanken seit Jahren eine ähnlich expansive Politik verfolgt haben wie die EZB. Jürgen Stark mag der Ansicht sein, die EZB handele unverantwortlich, sie befindet sich dabei aber in guter Gesellschaft.

Für mich besteht das größte Risiko der aktuellen Geldpolitik darin, dass der Marktwert von Aktien, Immobilien und auch von Bonds seit Jahren viel stärker zugenommen hat als das nominale BIP, dass also schon wieder Blasen („asset bubbles“) entstanden sind. Ich kann nur hoffen, dass die Finanzmarktaufsicht diesmal darauf geachtet hat, dass diese Exzesse nicht vorwiegend durch Schulden finanziert wurden. Nur dann wäre ein künftiger Crash an diesen Märkten realwirtschaftlich einigermaßen neutral. Ich weiß es nicht.

Grafik: Reale Wechselkurse Euro Dollar Franken

Zum Schluss noch eine Anmerkung zum Wechselkurs. Die EZB wird sich nie zu den Geschehnissen und Bewertungen am Devisenmarkt äußern, aber ich bin mir angesichts der engen Verflechtung Eurolands mit der Weltwirtschaft sicher, dass sie eine zu starke (reale) Aufwertung des Euro gerne verhindern würde, da dies einen Rückgang der Ausfuhr- und Einfuhrpreise sowie des sogenannten Außenbeitrags mit sich brächte. Beides hätte der Tendenz nach deflationäre Effekte und würde die Wende in der Geldpolitik auf den Sankt-Nimmerleinstag verschieben. Mit anderen Worten, sie hat ein starkes Interesse daran, dass von den Leitzinsen nicht das Signal ausgeht, dass der Euro aufwerten könnte. Euroland lebt zurzeit ein bisschen in der besten aller Welten, und die EZB wird versuchen, diesen Zustand zu bewahren, die Zinsen also erst mal da zu lassen, wo sie sind. Zinserhöhungen wären zum jetzigen Zeitpunkt unverantwortlich.