Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Anzeichen für eine neue Finanzkrise

 

Wenn ich mir die jüngsten Prognosen von EU-Kommission, OECD und Internationalem Währungsfonds anschaue, könnte es kaum besser laufen: Das Wachstum ist robust, die Inflation niedrig, die Löhne steigen etwas rascher als in den letzten Jahren und die Geldpolitik dürfte sehr expansiv bleiben. Das gilt global, für die USA und für Euroland. Andererseits weiß ich, dass es diesen Organisationen nie gelingt, eine Rezession vorherzusagen, geschweige denn eine Finanzkrise. Wenn alle zuversichtlich sind, dann geht es los – dann kommt es zu dem ominösen „Minsky Moment“, dem großen Ausverkauf von Aktien, Immobilien und Rohstoffen, manchmal jedenfalls. Oft hält die Euphorie länger an als das skeptische Beobachter wie ich für möglich halten, aber irgendwann kippt die Sache dann doch. Nur: wann?

An den Märkten jedenfalls herrscht große Nervosität, weil die Akteure den Eindruck haben, dass eine Korrektur unvermeidlich ist, und zwar schon bald. Der Aufschwung ist in die Jahre gekommen, die Preise vieler Aktiva haben die Bodenhaftung verloren und es gibt kaum noch plausible Anlagemöglichkeiten. Was könnte der Auslöser sein?

In den vergangenen Wochen wurden vor allem zwei Krisenszenarien durchgespielt: dass es durch die angekündigten Zinserhöhungen der US-Notenbank in Schwellenländern wie Argentinien, Brasilien oder der Türkei zu Schuldenkrisen kommt, oder dass die populistischen Parteien Italiens die Existenz des Euro gefährden könnten. Wie die erste Tabelle zeigt, haben sich die Wechselkurse, Aktienindices und Bondrenditen der Länder, die potenziell am meisten gefährdet sind, kräftig zum Negativen hin verändert, während die „sicheren“ Länder entsprechend profitierten.

Tabelle: Aktuelle Makrtbewegungen (Finanzmarktkennzahlen 180531)

Im Vergleich dazu spielten der drohende Handelskrieg und die Effekte des Brexit an den Märkten keine Rolle.

Es sieht so aus, als würde sich die US-Notenbank Fed nicht von den jüngsten Panikattacken beeindrucken lassen und mit ihren Zinserhöhungen fortfahren. Was das für den Rest der Welt bedeuten könnte, ist für sie eher irrelevant. Wichtig und entscheidend ist für sie, dass in den USA de facto Vollbeschäftigung herrscht, die Löhne dort jetzt auch real steigen und die Inflation, einschließlich der Kerninflation, offenbar dauerhaft bei zwei Prozent angelangt ist. Höchste Zeit also, die Zügel weiter anzuziehen, die Zinsen zu normalisieren, damit es bei der nächsten Rezession geldpolitischen Spielraum gibt. Die Fed Funds Rate, der amerikanische Leitzins, dürfte bis Ende 2019 von jetzt 1,7 Prozent auf mindestens drei Prozent zulegen und so die gesamte Dollar-Zinskurve nach oben verschieben.

Carmen Reinhart, Professorin an der Harvard University und Mitverfasserin eines Buches über die Geschichte von Finanzkrisen („This Time Is Different“), hat vor kurzem eine Art Schreckensszenarium entworfen: Wenn die amerikanische Geldpolitik restriktiver würde und die anderen OECD-Länder, sprich die EZB und die Bank von Japan, zögen nicht mit, würde der Dollar weiter aufwerten. Für die Schwellenländer wäre das ein doppelter Schock – sie müssten auf ihre Dollarschulden höhere Zinsen zahlen und der Dollar selbst würde aus ihrer nationalen Sicht teurer. Sie könnten Probleme mit ihrem Schuldendienst bekommen. „Vor der Finanzkrise von 2008 hatten die Schwellenländer wegen einer Reihe vorangegangener Krisen keine hohen Schulden und erholten sich superschnell. … Im vergangenen Jahrzehnt waren ultra-niedrige Zinsen ein starker Anreiz, Kredite aufzunehmen, so dass sie jetzt deutlich höher verschuldet sind als 2008“, wird Reinhart vom Finanzinformationsdienst Bloomberg zitiert (eigene Übersetzung). Sie glaubt beispielsweise nicht, dass Argentinien sein Leistungsbilanzdefizit von mehr als fünf Prozent des BIP am Markt finanzieren kann (siehe die folgende Tabelle).

Tabelle: Kennzahlen zur Verschuldung ausgewählter Länder

Das heißt was? Vermutlich wird es zu Umschuldungen, Problemen bei den kreditgebenden Banken und Rezessionen kommen. Die gesamte Weltwirtschaft könnte angesteckt werden, einschließlich China, das sich neuerdings für die ärmeren Länder zu einem bedeutenden Kapitalgeber gemausert hat. Für Deutschland, den Euroraum insgesamt und alle übrigen OECD-Länder käme es zu einem Einbruch ihrer Exporte und daher mindestens zu einer Abkühlung der Konjunktur, vielleicht sogar zu neuen Rezessionen.

Dieses Szenarium wurde kurz, dafür aber heftig durchgespielt, ist von den Marktteilnehmern aber inzwischen in die Zwischenablage geschoben worden. Das aktuelle Thema ist Italien und der Euro. Anfangs wurden die Ankündigungen der wahrscheinlichen künftigen Regierungsparteien Fünf Sterne und Lega, eine Volksabstimmung über den Euro abzuhalten, ernst genommen, was die Rendite der zehnjährigen italienischen Staatsanleihen von 1,8 Prozent Anfang Mai auf 3,16 Prozent am 29. Mai in die Höhe getrieben hatte, und damit, wie Amerikaner zufrieden feststellten, auf ein Niveau oberhalb der US-Renditen mit gleicher Laufzeit. No longer. Die Märkte hatten sich rasch wieder beruhigt, nachdem beide Verhandlungspartner klargestellt hatten, dass das mit dem Euro nicht so gemeint war. Jetzt wollen sie lediglich über das Vertragswerk verhandeln, in dem die angeblich zu restriktiven Auflagen für die Mitgliedsländer des Euro formuliert sind. Das klingt schon nicht mehr so bedrohlich. Die italienische 10-Jahresrendite ist inzwischen zurück auf 2,75 Prozent und damit wieder niedriger als die der Treasuries (2,85 Prozent).

In Italien haben wir es mit einer politischen Krise zu tun, nicht so sehr mit einer wirtschaftlichen. Vor allem wenn die EZB zu ihrer Aussage steht, dass die Leitzinsen auch lange nach dem Ende des Bondankaufsprogramms niedrig oder sogar unverändert bleiben werden, dürfte es keine Probleme mit dem italienischen Schuldendienst geben. Trotz der hohen Staatsschulden ist der Zinsaufwand seit der Jahrtausendwende von 5,8 Prozent des BIP stetig auf nur noch 3,6 Prozent gesunken (Deutschland ist laut EU-Kommission bei 1,0 Prozent angekommen). Das dürfte zu stemmen sein.

Italien hat außerdem kein Leistungsbilanzdefizit mehr, das es zu finanzieren gilt, sondern inzwischen einen Überschuss von 2,6 Prozent des BIP; das bedeutet, dass Auslandsschulden netto zurückgezahlt werden. Außerdem, um das mal klar zu sagen, macht es überhaupt keinen Sinn, in einer Währungsunion von „zu finanzierenden Auslandsschulden“ zu reden – niemand macht sich beispielsweise Sorgen darüber, dass das Land Brandenburg gegenüber dem Rest der Bundesrepublik ein dauerhaftes Defizit aufweist; Brandenburg wird daran nicht pleitegehen, genauso wenig wie einst das viel stärker als Italien verschuldete Griechenland pleitegegangen ist. Pointiert gesagt sind Schulden innerhalb einer Familie (einer Währungsunion) ziemlich irrelevant, nur die Schulden der Familie als Ganzes gegenüber der Außenwelt können gefährlich werden. Davon kann keine Rede sein.

Aber nicht alles ist gut im Staate Italien. Wie die Grafik zeigt, haben die Banken gewaltige Probleme mit ihren notleidenden Krediten – sie haben eine ähnliche Größenordnung wie ihr Eigenkapital. Immerhin wird dieses Thema offensiv angegangen.

Grafik: Notleidende Kredite der Banken im Euroraum

Ende 2015 lagen die notleidenden Kredite (non-performing loans = NPLs) der italienischen Banken noch bei 16,8 Prozent aller Kredite. Sie sind vor allem durch Verkäufe an amerikanische Hedgefunds bis Ende 2017 laut EZB auf „nur“ noch 11,1 Prozent gesunken, ein eindrucksvoller Fortschritt. Bisher war dafür eine wichtige Bedingung erfüllt, die in der Zukunft vielleicht nicht mehr gegeben ist, nämlich die Verwertung der Sicherheiten ohne die Einschaltung von Gerichten. Man wird sehen. Die eigentlichen Problemländer sind weiterhin Griechenland und Zypern. Sie stellen aber keine existenzbedrohende Gefahr für den Euro dar.

Insgesamt dürfte der Euro durch das wahrscheinliche weitere Auseinanderlaufen der amerikanischen und europäischen Zinsen unter Druck bleiben – was gut für die Konjunktur wäre und tendenziell zu mehr Inflation führt. Dann könnte der Zeitpunkt der ersten Zinserhöhung etwas näher rücken. Andererseits ist die Lage bei den Staatsschulden und der Leistungsbilanz in Europa um Längen besser als in den USA, was verhindern wird, dass der Euro ins Bodenlose fällt.

Und die globale Finanzkrise? Sie ist erst mal abgewendet, bleibt aber ein großes Risiko. Sie wird wahrscheinlich nicht durch europäische Ereignisse ausgelöst werden.