Seit drei Jahren verfehlt die EZB ihr Inflationsziel von knapp unter zwei Prozent. Zuletzt waren die Verbraucherpreise um 0,1 Prozent niedriger als vor einem Jahr. Angesichts des erneut fallenden Ölpreises, des schwächeren Wachstums in China, der anhaltenden Bilanzbereinigungsprozesse in mehreren europäischen Ländern, der hohen Arbeitslosigkeit und der großen Outputlücke sieht es nicht danach aus, dass sich die Inflation nachhaltig oder auf eine gefährliche Weise beschleunigen könnte. Auf den Stufen, die dem privaten Verbrauch vorgelagert sind, also bei den Einfuhren, im Großhandel und in der Industrie, herrscht Deflation, sodass es von den Kosten her kaum Druck gibt, die Konsumentenpreise zu erhöhen. Deflation ist das Risiko, nicht Inflation. Am vergangenen Donnerstag hat Mario Draghi daher angekündigt, die Geldpolitik weiter zu lockern.
Ist das überhaupt noch möglich? Groß ist der Spielraum nicht mehr, aber es gibt ihn. Wahrscheinlich wird zum einen der Zins, den die Banken auf ihre Einlagen beim Eurosystem „bekommen“, nach dänischem und Schweizer Modell von jetzt -0,2 Prozent auf vielleicht -0,5 Prozent gesenkt, zum anderen dürfte die EZB-Bilanz aggressiver und für eine längere Zeit als bisher geplant ausgeweitet werden. Der Finanzsektor soll mit Liquidität überschwemmt und die Geldanlage so unattraktiv gemacht werden, dass die Banken fast gezwungen sind, größere Risiken einzugehen, wenn sie Gewinne machen wollen. Sie verkaufen Wertpapiere an die EZB, erhalten dafür Guthaben auf ihren Zentralbankkonten und auf die müssen sie einen Strafzins zahlen – was ihnen natürlich nicht gefällt.
Im Vergleich zu den USA und Japan ist das quantitative easing, die großzügige Versorgung der Banken mit Zentralbankgeld, bisher äußerst vorsichtig und keineswegs großzügig vonstattengegangen: Gegenüber Anfang 2007, also der Zeit vor der Finanzkrise, hat die Fed ihre Bilanzsumme um das Fünffache vergrößert, die Bank von Japan um mehr als das Dreifache, die EZB dagegen um weniger als das Zweieinhalbfache. Niemand weiß, ob es diese Unterschiede sind, die dazu geführt haben, dass das nominale BIP der USA so viel rascher zunimmt als das BIP des Euroraums – dort um 24 Prozent im Zeitraum 2007 bis 2015, hier nur um rund 9 Prozent –, vielleicht lag es vielmehr daran, dass das amerikanische Deleveraging im privaten Sektor nach der geplatzten Immobilienblase aus strukturellen Gründen schneller vonstattenging als das europäische oder dass die Finanzpolitik insgesamt expansiver war. Die lockerere Geldpolitik hat der US-Wirtschaft jedenfalls nicht geschadet. Vor allem hat sie sich bislang nicht in nennenswert höheren Inflationsraten niedergeschlagen. Mit anderen Worten, es spricht aus Sicht der EZB viel dafür, bei den Wertpapierkäufen einen Gang hochzuschalten oder das Programm über den September 2016 hinaus zu verlängern. Beides wird wohl passieren.
Was können die Banken mit dem zusätzlichen Geld tun, das auf ihren Konten bei der EZB landet? Es ist wie eine heiße Kartoffel – weil es nur Kosten verursacht, wollen sie es loswerden. (Auch wenn ihnen das im Aggregat nicht gelingt.)
Die naheliegende Möglichkeit besteht darin, mehr Kredite zu vergeben. Damit das klappt, werden die Banken weniger pingelig sein müssen, was die Bonität ihrer Kunden angeht. Das Problem besteht darin, dass die guten Schuldner eigentlich kaum Kredite benötigen – die Investitionskonjunktur ist immer noch nicht richtig angesprungen und der Bedarf an Fremdmitteln entsprechend gering. Immerhin die Kredite an den privaten Sektor Eurolands nehmen neuerdings nicht mehr ab. Wenn demnächst noch mehr frisch gedrucktes Geld unterwegs ist, kann vielleicht noch ein bisschen mehr Schwung in das Kreditgeschäft kommen, und damit in die Konjunktur. Die hängt davon ab, wie viel eigenes und geliehenes Geld die Leute und die Unternehmen am Ende ausgeben. Nur wenn es sich dabei um nennenswerte Beträge handelt und nur wenn dann auch die Löhne stärker steigen, lassen sich die Preise erhöhen. Ohne eine robust expandierende Wirtschaft wird es keine Inflation geben.
Die andere Alternative heißt „Wertpapierkäufe“. Kaum haben die Banken ihre Gutschrift von der EZB erhalten, werden sie neue Bonds kaufen – und Aktien. Letztere rentieren, gemessen an der Dividende, im Durchschnitt des DAX mit 2,75 Prozent und damit um rund drei Prozentpunkte besser als die Einlagen bei der Notenbank. Das ist ein kleiner Puffer gegen künftige Kursverluste. Auf anderen europäischen Aktienmärkten ist es ähnlich. Die beträchtlichen Kurssteigerungen sind eine unmittelbare Folge des Anlagenotstands, der durch die Liquiditätsschwemme ausgelöst wurde. Viel Geld trifft auf ein beschränktes Angebot und alles was gut ist, ist inzwischen sehr teuer. Insgesamt hat der Aktienmarkt seinen Bezug zu den fundamentalen Faktoren verloren, den Gewinnen, der Wachstumsrate des Sozialprodukts und den Inflationserwartungen. Er hängt am Gängelband der EZB. Ziemlich gefährlich.
Bonds guter Qualität sind inzwischen ebenfalls sehr teuer und dürften noch teurer werden, wenn die EZB ernst macht mit der Expansion und/oder Verlängerung ihres Anleihe-Ankaufsprogramms. Für zehnjährige Bundesanleihen gibt es bereits heute nur noch eine Rendite von 0,47 Prozent. Der Internationale Währungsfonds hat in seinem neuen Global Financial Stability Report analysiert, wie die fairen Bewertungen der 24 wichtigsten Rentenmärkte der Welt auf der Basis der erwarteten Zuwachsraten des nominalen BIP aussehen müssten: Danach ist kein Markt so überbewertet wie der holländische, der deutsche ist ihm aber dicht auf den Fersen, ebenso wie die Märkte in Frankreich, Japan, in der Schweiz, in den USA und in Großbritannien. Am anderen Ende befinden sich die üblichen Verdächtigen: Russland (bei Weitem am billigsten), Brasilien, Türkei und Indien. Wir haben es mit dem normalen Trade-off zwischen Risiko und Ertrag zu tun, nur extremer als sonst – weil in den reichen Ländern so viel Geld gedruckt wird.
Wenn geliehenes Geld in großem Stil in die Wertpapiermärkte fließt, sind die nächsten Asset Bubbles nicht mehr fern. Definitionsgemäß werden sie eines Tages platzen. Wie immer wird der Auslöser die zunehmende Diskrepanz zwischen den realistischerweise erwartbaren Erträgen von Aktien und Anleihen einerseits und den Kosten der Wertpapierkredite andererseits sein. Die Leitzinsen angesichts großer kreditfinanzierter Blasen zu erhöhen, ist daher gefährlich. Die Notenbanken sind sich nämlich inzwischen darüber im Klaren, dass es äußerst schwierig ist, mit geldpolitischen Mitteln gegen die Folgeschäden geplatzter Blasen anzukämpfen. Da so viele Akteure überschuldet und vor allem bestrebt sind, ihre Schulden durch sparsames Wirtschaften zu verringern, wirkt eine Politik nicht so richtig, die darauf zielt, mit der Hilfe von niedrigen Zinsen und reichlich Liquidität neue Schulden zu generieren. Dass die amerikanische Notenbank trotz der guten Konjunktur immer noch zögert, die Zinswende einzuleiten, hat mit der Furcht zu tun, dass es zu einer neuen Finanz- und Schuldenkrise kommen könnte. Je länger sie allerdings abwartet, desto größer werden die Blasen und mit ihnen die Überschuldung.
Die EZB könnte demnächst ein ähnliches Problem bekommen. Das Kreditgeschäft, die Konjunktur und die Inflation mit niedrigen Zinsen und viel Zentralbankgeld anzuheizen ist das eine, die zunehmende Überbewertung von Bonds und Aktien das andere. Die Geldpolitik ist klar überfordert.