Lesezeichen
 

Warum die deutsch-türkisch-islamische Synthese möglich ist

Ein absolut verblüffender, mitreißender, bemerkenswerter Artikel von Hakan Turan. Er ist ja hier kein Unbekannter. der Stuttgarter Studienrat und Privatgelehrte (theoretische Physik, Mathematik, Theologie). Hier schreibt er zur aktuellen Debatte und ihren Auswirkungen auf die muslimisch-deutsche Identitätsbildung im Land. Ein leidenschaftliches Plädoyer, sich von einer aggressiven Stimmung  nicht in eine Opfer-Identität drängen zu lassen, offen für Selbstkritik zu bleiben und sich die Liebe zu Deutschland nicht ausreden zu lassen. Toll.

Auszüge (der ganze Text ist lesenswert):

„Von vielen muslimischen Bürgern – auch von jenen, die als integriert und säkular gelten – ist in solchen Zeiten zu hören, dass sie sich schon seit langem nicht mehr so türkisch, muslimisch oder einfach nur fremd in Deutschland gefühlt haben. Auch wenn dies emotional nachvollziehbar ist – ist das im Grunde nicht eine Fluchtreaktion? Eine Reaktion, die alles, wofür zahllose Deutsche wie Türken seit Jahrzehnten gemeinsam gearbeitet haben, auf einen Schlag für gescheitert erklärt?

(…) An mir selbst erkenne ich z. B. Folgendes: Bis vor wenigen Jahren hatte ich mich im Kontext Islam fast ausschließlich mit eher theoretischen Themen befasst, sprich mit Fragen der Metaphysik, der Erkenntnistheorie und den Möglichkeiten einer Integration von Islam und Moderne. Die gesellschaftliche Realität da draußen samt ihren Problemen im Zusammenleben und der gegenseitigen Wahrnehmung ihrer Bürger kannte ich zwar gut – aber irgendwas hinderte mich lange daran dazu schriftlich Stellung zu beziehen. Da war offensichtlich eine internalisierte Zensur am Werk.

Im türkischen Umfeld – so ist zumindest mein Eindruck – wird die öffentliche ideelle Auseinandersetzung mit der deutsch-türkischen Lebenswirklichkeit in Deutschland oftmals gemieden. Dahinter steckt meist die Angst massiv angefeindet zu werden, oder zu viel von einer eventuell türkisch-zentrierten Weltanschauung aufgeben zu müssen. Aber dieses Konzept des Meidens und Ignorierens kann für die Zukunft der jungen Generation keine Option mehr sein.

(…)

Auch wenn ich weiß, dass es auch andere Erfahrungen gibt, die nicht minder ernst genommen werden dürfen als meine: In meinem Umfeld mache ich fast nur positive Erfahrungen mit Deutschen aus allen Altersstufen und Gesellschaftsschichten, selbst in Zeiten schärfster Islam- und Integrationskritik. Und das seit vielen Jahren. Nie hat jemand von mir verlangt, dass ich meine Wurzeln und persönlichen Überzeugungen verleugne. Ich wiederum akzeptiere die Deutschen so, wie sie sind, versuche ihre Sichtweisen nachzuvollziehen und bringe der deutschen Kultur, die ich zu großen Teilen auch als meine Kultur ansehe, den gebührenden Respekt entgegen. Und ich freue mich jedes Mal, wenn türkischstämmige Freunde von ähnlichen positiven Erfahrungen berichten. Ausgerechnet in den Tagen der Sarrazin-Debatte meinte eine junge Muslimin mit Kopftuch zu mir, dass sie Zeit ihres Lebens fast nur positive Erfahrungen mit Deutschen gemacht hätte.

(…)

Es geht vielen Deutschen meist nur um bestimmte inhaltliche Aspekte der öffentlichen Stimmungsmacher, die sie für berechtigt halten – Aspekte, die selbst ich und die meisten Türken in meinem Umfeld zu manchen Teilen für berechtigt halten. Da stellt sich die Frage: Warum engagieren wir uns nicht für die Beseitigung dieser Probleme? Warum bekämpfen wir nicht selbst Missstände in der türkisch-islamischen Community, sondern warten darauf, bis sich Hetzer darauf stürzen und diese für ihre erbärmliche Propaganda instrumentalisieren? Wir wissen selbst sehr wohl, welche Traditionen und Islamkonzepte unvernünftig oder verwerflich sind. Lasst uns also den Islamkritikern mit Analysen und Lösungen zuvorkommen!

Ja, die Mehrheit der Deutschen ist nicht islamfeindlich, sondern aus nachvollziehbaren Gründen islamskeptisch. Folglich sollten auch wir nicht die Rolle des Opferkindes einnehmen, sondern die des geduldigen Zuhörers und des entschiedenen Vermittlers. Ich bin bereit für meine vermittelnde, aber in beide Richtungen bestimmte Haltung zu lernen, zu streiten, und auch eigene Meinungen aufzugeben, wenn sie sich als falsch erweisen.

(…)

Wir müssen jedoch akzeptieren, dass unsere in Entwicklung befindlichen Lebenskonzepte nicht erst von allen Seiten applaudiert und beglaubigt werden müssen, damit sie gut und legitim sind. Selbstbewusstsein definiert sich zu großen Teilen aus dem Vermögen sich selbst die Bestätigung dafür zu geben, dass das, was man nach reiflicher Abwägung tut, in Ordnung ist. Dass man als Mensch vor Gott und seinem Gewissen gerechtfertigt ist. Und dass man nicht als verunreinigter Schuldiger auf die Absolution durch das Tribunal von deutschen oder türkischen Kultur-, und Identitätswächtern warten muss.

Wir allein sind das Tribunal! Jeder über sich selbst!“

(Dank an Claudia Dantschke für den Tip)

 

Was Geert Wilders wirklich in Berlin gesagt hat

Es reicht nicht, Wilders als Nazi oder Scharlatan abzutun. Man muss versuchen, die Radikalität seiner Thesen zu verstehen. Mein Text aus der ZEIT von morgen, Donnerstag, den 7. Oktober, zum Auftritt von Geert Wilders in Berlin:
Der Erfolg des Rechtspopulismus in Europa hat viele Gründe. Einer davon ist die Kombination von Entrüstung und Ahnungslosigkeit aufseiten seiner Gegner. Die paar Dutzend, die gegen Geert Wilders Berliner Auftritt am vergangenen Samstag mobilmachten, trugen stilisierte Hitler-Bilder. Antifa-Folklore statt Analyse.
Wilders ist aber kein Nazi. Drinnen, im Saal des Hotel Berlin, leuchtete der Wahlspruch der neuen Partei (»Die Freiheit«), deren Geburtshelfer er sein möchte, auch in hebräischen Buchstaben( »Wir lieben die Freiheit!«). Bewusst wird die Grenze zur alten Rechten gezogen. Wilders Israelfreundschaft erfüllt zwei Funktionen. Erstens sagt sie: Ich bin zwar sehr blond, aber keine Bestie. Zweitens hat Israel in seiner antimuslimischen Geschichtstheorie eine wichtige Rolle als Frontstaat des Westens gegen die Welle des Islams, die Europa zu überrollen droht.
Geert Wilders Rechtspopulismus ist für Konservative eine größere Herausforderung als für die Linke. Karl-Theodor zu Guttenberg scheint das erkannt zu haben. Doch auch der CSU-Politiker macht es sich leicht, wenn er Wilders abtut als einen »jener Scharlatane, die dieser Tage herumturnen«.
Man muss sich die Mühe machen, jener Berliner Rede genau zuzuhören, der 700 Zuhörer im Hotel Berlin zujubelten. Denn wer dem zugleich abgedrehten und konsequenten Gedankengang von Wilders folgt, der versteht, welcher neue Radikalismus der Mitte sich zusammenbraut.
Gleich zu Beginn baut der freundliche Demagoge die Grundlage seines Arguments auf: Deutschland brauche »eine politische Bewegung, die die deutsche Identität verteidigt und sich der Islamisierung Deutschlands entgegenstellt«. Angela Merkel hingegen erkläre die Islamisierung Deutschlands für unvermeidlich«. Sie habe, so Wilders, die Bürger aufgerufen, sich auf »Veränderungen durch Einwanderung einzustellen«.
Damit ist mit wenigen Sätzen die Kampfzone skizziert: »Deutsche Identität« steht gegen »Islamisierung«, und Einwanderung ist gleich »Islamisierung«. Die deutsche Regierung nimmt Einwanderung hin, ergo: Merkel ist eine nützliche Idiotin der Islamisierung.
Dann begründet Wilders, warum der Islam eine politische Ideologie sei, die nur Ahnungslose für eine Religion halten könnten. Er beruft sich auf Islamkritiker ebenso wie auf radikale Islamisten. Zwischen Islam und Islamismus zu unterscheiden, wie es die Bundesregierung mit ihrer Islamkonferenz macht, ist danach sinnlos: Der Islam sei der dritte Totalitarismus nach Kommunismus und Nationalsozialismus. Die heutigen Führer des Westens seien unfähig, die Gefahr zu erkennen. Das Establishment – Politik, Medien, Kirchen, Universitäten – setze die Freiheit aufs Spiel, indem es den Islam anderen Re­ligionen gleichstelle. Das ist »Appeasement« des Islams, und also ist auch das gesamte Establishment ein Instrument der »Islamisierung«. Widerstand dagegen wird zur Pflicht.
Der Islam ist beileibe nicht nur durch Terrorismus gefährlich (obwohl dieser nach Wilders keine Pervertierung, sondern sein Wesen ist). Seine Ausbreitung, sagt er, geschehe historisch entweder durch militärische Eroberung – oder »durch die Waffe der Hidschra, der Einwanderung (…). Mohammed eroberte Medina durch Einwanderung. Hidschra ist auch das, dem wir uns heute gegenübersehen. Die Islamisierung Europas schreitet kontinuierlich voran.« Man muss sich die Radikalität dieses Gedankens und seiner logischen Konse­quenzen klarmachen: Muslimische Einwanderer sind Eroberer, Migration ist eine Waffe im Kampf des Islams um Herrschaft.
Wenn man diese Weltsicht teilt, müssen viele Maßnahmen legitim erscheinen, gegen die sich mancher vielleicht noch sträubt. Wilders möchte die Deutschen von ihren Schuldkomplexen befreien, damit sie ungehemmt »dem Kampf für ihre eigene Identität« nachgehen können. Er zeichnet eine apokalyptische Situation, die jedes Mittel gerechtfertigt erscheinen lässt. Ein Verbot des Korans, wie von Wilders gefordert, kann dann eigentlich nur ein Anfang sein. Moscheen und Kopftücher in unseren Städten zu akzeptieren ist Defätismus, eine Versündigung an der Freiheit. Wer Wilders Gedanken nachvollzieht, kann konsequenterweise Muslime nicht einmal dulden wollen.
Ein Scharlatan? Wilders sieht sich als Prophet des Endkampfs »für unsere Identität«. Er ist groß im Angstmachen, aber auch als Erlöser – von Schuldgefühlen und bürgerlichen Bedenken. Die Entfremdung des Volkes von der Politik ist sein Geschäft. Es läuft recht gut. Auch mitten in Berlin.

 

Wieviel Islam verträgt Deutschland?

Und wieviel Fakten die BILD?

Das ist ja hier nicht das BILD-Blog. Aber die Kollegen mit den großen Buchstaben haben heute diese geniale Zeile gemacht: Wieviel Islam verträgt Deutschland? Und weil sie dazu einen „Fakten-Check“ versprechen, muss ich hier doch noch einmal auf BILD eingehen.

Da findet sich zum Beispiel dieses „Faktum“:

Jede 10. muslimische Schülerin bleibt dem Schwimmunterricht fern.

Quelle ist angeblich der Bericht des BAMF über Muslimisches Leben in Deutschland. Nun habe ich den kürzlich auch nochmal durchgeschaut und kenne die einschlägige Stelle.

Da findet sich diese Tabelle:

Aus der Tabelle geht hervor, dass ganze 1,9 Prozent der muslimischen Mädchen den gemischtgeschlechtlichen Schwimmunterricht aus „religiösen Gründen“ meiden.

Die Autoren der Studie schreiben:

„Im Vergleich zum Sportunterricht nehmen proportional deutlich weniger Schüler sowohl muslimischen als auch sonstigen Glaubens am gemischtgeschlechtlichen Schwimmunterricht teil (Tabelle 27).
Ursache ist hauptsächlich, dass kein gemischtgeschlechtlicher Schwimmunterricht angeboten wird. Religiöse sowie sonstige Gründe für das Fernbleiben werden wie beim Sportunterricht kaum genannt. Mädchen nehmen tendenziell ebenso häufig am gemischtgeschlechtlichen Schwimmunterricht teil wie Jungen.“

In anderen Worten: Jede fünfzigste muslimische Schülerin bleibt dem Schwimmunterricht aus religiösen Gründen fern. Es gibt keine signifikante Abweichung zu religiösen Vorbehalten im Vergleich zu anderen Religionsgemeinschaften.

Oder noch klarer: Das Problem existiert nicht. Non-issue. Eine urban legend des Einwanderungslandes.

Wir haben weiß Gott genug Probleme (Arbeitslosigkeit, Bildungsversagen, Machotum). Müssen wir auch noch welche erfinden?

 

Wie BILD Deutschlands Islamisierung vorantreibt

Ein Fundstück aus der BILD von heute, die Wulffs Rede auf Türkisch bringt, passender Weise neben den fünf größten Sex-Irrtümern der Taliban platziert. Hier geht es zum Text.

Nur Hugo Müller-Vogg hält im Leitartikel noch gegen die Islamisierung durch Obermufti „Cumhurbaskan“ Wulff, die sogar vor der BILD-Zeitung nicht halt macht:

„Irritierend ist jedoch Wulffs Bild von Deutschland als christlich-jüdisch-islamischem Land.

Unser Verständnis von Freiheit und Menschenwürde gründet auf unserer christlich-jüdischen Tradition und der Aufklärung.

Sie verpflichten zu Toleranz gegenüber anderen Religionen.

Deshalb sollen Muslime ihren Glauben bei uns leben dürfen. Dass aber ihre Wertvorstellungen zum Fundament dieser Gesellschaft gehören sollen, dürfte viele Deutsche mehr irritieren als begeistern.“

Ich weiß nicht, irgendetwas an der neuerdings so populären Rede von der „christlich-jüdischen“ Tradition klingt schwerstens verlogen.

Man könnte fast denken, es habe 2000 Jahre lang das schönste christlich-jüdische Werte-Einverständnis geherrscht. Christen und Juden hatten anscheinend nichts Dringenderes zu tun als zusammen in herrlichster Harmonie die Toleranz und die Aufklärung zu entwickeln.

Bis irgendetwas dazwischenkam. (Nein, nein, nein: nicht diese Sache da, für die sie dieses Riesendenkmal in Berlin gebaut haben…)

Irgendetwas Unvorhergesehenes hat das wunderbare christlich-jüdische Einvernehmen gestört.

Die Musels! Plötzlich und unerwartet kamen Millionen von Musels ins christlich-jüdische Abendland und wollten frech dazugehören. So geht es ja nun nicht. Die schöne christlich-jüdische Symbiose kaputtmachen!

Im Ernst: Echt bizarr, dass nun ausgerechnet die Juden dafür herhalten sollen, dass die Moslems hier nicht hereinpassen.

 

Roland Koch gegen Sarrazin

Interview zum Thema „Konservativ“ heute in der FAZ. Roland Koch:

„Wenn Leuten wie Sarrazin die Diskussion überlassen wird, dann werden Konservative verlieren. Sarrazins Standpunkt ist ja am Ende nicht akzeptabel für aufgeklärte Konservative. Eine kluge Analyse mit unerträglichen Folgerungen ist keine konservative Politik. Obendrein ist diese Analyse noch nicht einmal klug, eher ein Beispiel für die intellektuelle Ladehemmung, die in Deutschland meistens dafür sorgt, dass verquaster Unsinn herauskommt, wenn einer mal konservative Standpunkte offensiv vertreten möchte. Hätte Sarrazin die letzten drei Kapitel nicht geschrieben, dann hätte er eine interessante wissenschaftliche Analyse eines Tatbestands vorgelegt. Aber so ist es dumpfer Biologismus. Davor graust mir. Das ist aus meiner Sicht gegen das Verständnis von Menschenwürde, das gerade Konservative haben. … Aus der Sicht eines Konservativen zerstört jemand, der so vorgeht wie er, die Diskussion. Er ist ein klassisches Beispiel für jene, die am Ende dafür sorgen werden, dass eine konservative Debatte nicht mehr stattfindet.“

Hört, hört.

 

Die Zumutung der Einwanderung

Paul Scheffer ist ein Pionier des Nachdenkens über Einwanderung und Integration. Sein Essay über „Das multikulturelle Drama“ in unseren Städten ist vor genau zehn Jahren erschienen. (Eine deutsche Version, allerdings gekürzt, hier.) Vieles von dem, was Scheffer 2000 beschrieben und analysiert hat, ist uns in der vergangenen Dekade zum täglichen Thema geworden: Segregation, Selbstabschottung, Extremismus im Namen des Islam, der Aufstieg des Rechtspopulismus.

Heute morgen habe ich Paul Scheffer in Triest getroffen. Bei einer Tagung der Bundeszentrale für politische Bildung hielt er einen Vortrag über die Einwanderungsgesellschaft und ihre Konflikte – und was dies für eine Herausforderung für alle europäischen Gesellschaften bedeutet. Beim Frühstück hatten wir Gelegenheit, über die Lage in den Niederlanden zu reden, in der die etablierten Parteien auf einen Zustand der Unregierbarkeit zusteuern. (Ich war der Moderator der anschließenden Diskussion.)

Paul Scheffer wäre eigentlich der Denker der Stunde, finde ich, weil er als erster ein Modell entwickelt hat für die Prozesse, die in allen Einwanderungsgesellschaften unvermeidbar ablaufen. Diese Konflikte – und dazu dient ja auch ein Blog wie dieses hier (in den guten Momenten) – müssen wir annehmen und als etwas (möglicherweise) Produktives anzusehen lernen, statt sie vermeiden zu wollen, weil sie oft genug hässlich sind.

Scheffer sagt, in allen von ihm studierten Einwanderungsprozessen findet sich das Muster segregation – avoidance – conflict – accomodation. Also etwa: Segregation, Vermeidung, Konflikt, Verständigung. Unzweifelhaft stecken wir mitten in der Konfliktphase. (Was allerdings leider nicht bedeutet, dass die Segregation aufgehört hat. Sie geht parallel weiter und lässt künftige Konflikte ahnen.)

Die Segregationsphase zeichnet sich dadurch aus, dass sowohl die Immigranten, als auch die aufnehmende Umwelt unter sich bleiben wollen. Die Bildung von ethnischen Kolonien hat Vorteile für Neuankömmlinge ebenso wie für die Aufnahmegesellschaft: Sie reduziert die Kosten und den Stress. Die Einwanderer finden billigen Wohnraum und Netzwerke, die sie tragen, die Einheimischen bleiben von sozialem und kulturellem Wandel verschont – und von Konkurrenz. Man meidet sich wechselseitig, unterstützt oft durch gezielte Separationspolitik (Wohnungsbau, Schulwesen).

In dieser Phase klammern sich beide Seiten an „den Mythos der Rückkehr“.

Wenn dieser nun zusammenbricht, sagt Scheffer, (und die Einwanderer sich eingestehen, dass sie welche sind und damit das Einwanderungsland zwingen zuzugeben, dass es eines ist), ist nicht plötzlich alles gut, weil man sich nun ehrlich gemacht hat. Im Gegenteil: Vermeidung ist jetzt unmöglich geworden, man sitzt im gleichen Boot und sieht einer gemeinsamen Zukunft ins Auge, die man vorher beidseitig geleugnet hat. Jetzt kommt es zum Konflikt, weil man sich genauer anschaut und sich fragt: Was, mit denen sollen wir ein WIR bilden? Jetzt wird das Andere des anderen zum Problem.

Und jetzt muss neu verhandelt werden, was daran akzeptabel ist und was nicht. Das bedeutet accomodation: Nicht Hinnahme des Anderen per se als gut und wunderbar und bereichernd, sondern lange und zähe Verhandlung über ein neues Wir. Wechselseitige Vorwürfe und Unterstellungen gehören notwendig dazu. Extremes Mißtrauen auch: Die Iren in Amerika haben 120 Jahre gebraucht, bis sie einen Präsidenten stellen durften, und JFK musste an jeden Tag seines Wahlkampfes klarmachen, dass seine Loyalität nicht Rom galt, sondern der Verfassung der USA. (Erinnert an etwas, nicht wahr?)

Scheffer ist einer der ersten Kritiker des Begriffs der Multikulturalität, weil er diesen Begriff schlicht für eine Falle und im Effekt für rassistisch hält: Er sperrt eine ganze Gruppe in ein Konzept von „Kultur“ ein, er errichtet die Schranken, die er eigentlich überwinden will. Der Begriff der Multikulturalität stammt aus der Phase der Vermeidung, die wir nolens volens überwunden haben – die Phase, in der man sich wechselseitig keine Fragen stellte.

Ohne ein gemeinsames Wir, das auch gemeinsame Werte und Regeln beinhaltet, kann eine ausdifferenzierte Gesellschaft nicht überleben, ja sie kann noch nicht einmal ordentlich miteinander streiten. Paul hat auch ein anschauliches Beispiel für gelungene Integration in ein neues Wir. In einer Diskussion mit Haci Karacer von der Milli Görüs über die niederländische Rolle in Srebrenica kam es zu dem Punkt, dass Karacer Scheffer sagte: „Wir haben in Srebrenica versagt!“ Dass der konservative Amsterdamer  Muslim von den holländischen Soldaten in diesem Plural sprach, war ein Zeichen dafür, dass er sich mit dem Land identifizierte – und das bedeutet eben auch mit den Schattenseiten und dem Versagen.

Bei dem neuen Wir geht es um geteilte Verantwortung für eine gemeinsame Zukunft, nicht bloß um das Wissen um die Geschichte, das politische System, die holländischen Werte etc.

Für ein solches Wir braucht man aber bestimmte Fähigkeiten. Darum reden wir jetzt seit Jahren darüber, dass die Landessprache so existenziell wichtig ist.  Und darum ist es mir auch nach wie vor unverständlich, wieso türkische Lobbygruppen allen Ernstes gegen die Sprachtests für Neueinwanderer protestieren können, als wäre das eine fiese Schikane. Wer so agiert, schürt den Verdacht, er habe an der Teilhabe in dieser Gesellschaft, die nur durch Sprache möglich wird, kein Interesse – und so ist ja leider auch bei vielen der Eingeheirateten.

Auf solchen Voraussetzungen zu insistieren ist die Pflicht aller, die an diesem Wir interessiert sind. Es kann, so argumentierte Scheffer, nicht durch Kompromisse entstehen – durch ein Treffen in der Mitte – dieses Wir. Kein „middle ground“, bei dem sich alle ein bisschen aufeinander zu bewegen. In einer Stadt wie Amsterdam (oder Berlin, oder Stuttgart) mit über 100 Herkunftskulturen gibt es keinen „middle ground“, den man per Kompromiss finden könnte.

Für die Einwanderer heißt das auch, dass es keinen automatischen Anspruch auf „Respekt“ für ihre Eigenheiten gibt. Wer die Vorurteile der Einheimischen anprangert, wird automatisch mit seinen eigenen konfrontiert werden. Eine Religionsgemeinschaft, die Religionsfreiheit in Anspruch nimmt, wird sofort mit der Frage konfrontiert, wie sie es denn selbst mit den Grundfreiheiten hält. Das Gesetz der Reziprozität ist unerbittlich. Es trifft allerdings auch die Mehrheitsgesellschaft. Wenn sie die grundlegenden Freiheiten einer Minderheit beschneidet (Minarettverbot), wird sie es schwer haben, ihrerseits glaubwürdig die Treue zu den Grundwerten zu verlangen. Das Minarettverbot ist kein Beispiel dafür, wie eine Gesellschaft ein ein neues Wir aushandelt. Das Burkaverbot ist ein anderer Fall, weil es hier um ein allgemeines Gesetz geht, das den gleichberechtigten Verkehr in der Öffentlichkeit gerade ermöglichen will. (Jedenfalls auf dem Papier.)

Paul Scheffer hat in seinem Vortrag noch viel mehr Punkte gestreift, die ich hier nicht erwähnen kann.

Er macht sich Sorgen um die wachsende Segregation in den Städten und  Schulen seines Landes. In Deutschland sieht es nicht besser aus.

Und er sorgt sich um die größer werdende Schere zwischen dem Kosmopolitismus einer Elite und dem „tribalism of the locals“ – womit sowohl die Einwanderer als die Unterschichten gemeint sind, die mit ihnen zusammen leben müssen. Ein immer wiederkehrender Gedanke in seinen Schriften: Die Gefühle von Verlust und Angst, die durch den Wandel ausgelöst werden – auch bei den Alteingesessenen, dürfen nicht einfach abgetan und diskreditiert werden. Ein falsch verstandener Kosmopolitismus kann den Populismus der einfachen Antworten auf die Fragen der Einwanderungsgesellschaft befördern, gerade weil er die Schmerzen nicht ernst nimmt. Die Spaltung der Gesellschaft in eine Caffelatte-Fraktion derjenigen, die alles als Bereicherung begrüßen, was die Filterkaffetrinker als Zumutung empfinden, wäre fatal. Sie ist schon weit vorangeschritten, wie die Sarrazin-Debatte hierzulande zeigt.

Das ist eine Gefahr unserer Debatte über Sarrazin (die ich hier im Eifer wahrlich auch nicht immer vermieden habe): dass man bei der Kritik an seinen Argumenten und an dem Ton mancher seiner Fans die rationalen Ängste und Befürchtungen überspringt, die in der Debatte berücksichtigt und bearbeitet werden müssen.

Die politische Mitte trägt nicht mehr, wenn sie das nicht vermag. Das ist ein Phänomen überall in der westlichen Welt – in den Niederlanden derzeit besonders dramatisch. Scheffer glaubt, dass das politische System in seinem Land überhaupt nicht auf die Herausforderung eingestellt ist, die Balance zwischen „heritage and openness“ (Erbe und Offenheit) und „tolerance and belonging“ (Toleranz und Bindung“) neu auszutarieren. Aber das ist kein Den Haager Problem. Morgen ist Geert Wilders in Berlin.

 

Warum Henryk Broder Persilscheine ausstellt

Ich lese die „Achse des Guten“ nicht mehr oft, obwohl sie hier weiter in der Linkleiste vertreten ist. Der Dogmatismus, das ewige Eiferertum (das der ironischen Selbstetikettierung widerspricht) und die teilweise hässlichen Töne, vor allem in der Integrationsdebatte, haben mir die Sache lange schon vergällt. (Sorry, Hannes, Du bist die rare Ausnahme).

So habe ich auch nicht rechtzeitig mitbekommen, dass Henryk Broder meinen Post über Martin Peretz nun schon zum zweiten Mal eines eigenen Posts gewürdigt hat. Auch das könnte man übergehen, wenn nicht eine merkwürdige Faktenverdreherei dabei zu beobachten wäre. Dass Broder nicht in bester Form ist, zeigt sich allerdings schon an dem müden Namenwitzchen auf meine Kosten („Lau und Lauer“ – you can do better than this…).  Geschenkt.

Ärgerlich ist etwas anderes. Martin Peretz hat sich dafür entschuldigt, dass er sich von der hassvollen Debatte über die „Ground-Zero-Moschee“ so weit hat anstecken lassen, dass er Muslimen verfassungsmässige Freiheiten absprach, weil diese ohnehin dazu neigen würden, diese zu mißbrauchen.

Peretz ist also, wie ich geschrieben habe, über sich selbst erschrocken und hat das öffentlich gemacht. Das nenne ich Mut. Und die Sache ist eben darum bemerkenswert, weil er in der New Republic einen ultraloyalen Kurs gegenüber Israel fährt. Falkenhafter als Peretz geht’s einfach nicht. Allerdings auch schon früher oft in einem verachtungsvollen Ton, wenn es um Muslime und Araber geht. Darum hat zum Beispiel Paul Berman lange nicht für die New Republic schreiben wollen. Er sagte mir 2003 in New York, er finde Peretz‘ Ton unerträglich. Der schreibe über Araber nämlich oft, „als seien das keine Menschen wie wir“.

Das ist in der amerikanischen Linken – auch und gerade unter den Israelfreunden – seit langem ein Thema, und in dem von Broder  zitierten (aber offenbar nicht ganz gelesenen) Wikipedia-Artikel sind denn auch mehrere Dokumentationen der ziemlich fiesen Peretz’schen Äußerungen verlinkt.

Mich in die Nähe von Stephen Walt zu rücken, weil ich Peretz‘ Erschrecken über sich selbst in der aktuellen Debatte bemerkenswert finde, ist dann schon, lieber Henryk Broder, ein ziemlich durchsichtiges Manöver: Ich soll damit in eine antiisraelische, ach was, antisemitische Ecke befördert werden. Das Stichwort der „Protokolle von Zion“ fehlt natürlich nicht. Und es wird unterstellt, ich wolle, dass „Juden sich bei Deutschen“ entschuldigen. Dazu sage ich mal nix. Zu blöd. Nachdem letztens Merkel gar mit der Reichsschriftumskammer in Verbindung gebracht wurde…

Warum nun überhaupt diese Würde eines doppelten Posts: Kann es sein, dass da ein ganz kleines Erschrecken unseres – früher jedenfalls – besten Polemikers und Satirikers über seinen eigenen Werdegang in den letzten Jahren als „Islamkritiker“ zugrundeliegt? Jedenfalls würde ich es verstehen, wenn Henryk Broder sich manchmal über die Fans aus der selbstgerechten (angemaßten) Mitte der Gesellschaft erschreckte, die ihn als Moslembasher bejubeln, der er eigentlich gar nicht ist. Er ist eigentlich zu klug um nicht zu fühlen, dass einige von denen sich die Moslems nicht zuletzt deshalb vornehmen, weil das nun mal heute die legitime Wut-Zielgruppe ist, an der sich der deutsche Bürger abarbeiten darf. Mit den Juden geht das aus verständlichen historischen Gründen nicht mehr so einfach hierzulande. Und natürlich: Was ist schöner, als wenn den Deutschen ein Jude erlaubt, auf die Moslems herabzuschauen. Bingo, das ist der totale Persilschein.

Seit Jahren gibt Henryk Broder, der früher einmal zu Recht berühmt dafür war, dem deutschen Mainstream seine Verlogenheiten vorzuhalten, nur noch dem Affen Zucker. Es ist sicher schön, zur Abwechslung endlich einmal mit der gefühlten Mehrheit gegen eine Minderheit zu stehen. Aber Broder müsste das irgendwann verdächtig werden – so wie Martin Peretz, der sich öffentlich vor der Enthemmung des amerikanischen Diskurses gruselt.

Deutsche, kapituliert nicht vor dem Islam – Broders Botschaft trifft heute auf einen Wunsch nach nationaler Enthemmung, den er früher gnadenlos kritisiert und entlarvt hätte – so wie die früheren Appelle, die Deutschen sollten nicht vor jenen kapitulieren, die sie immer noch unters Joch der Schuld zwängen wollen.

Es ist mir absolut unerfindlich, warum Henryk Broder heute dabei mitmacht.

Immerhin, so lese ich seine beiden Kommentare zu Martin Peretz: Etwas arbeitet in ihm. Anders gesagt: Etwas brodert in ihm.

(Das musste dann doch sein. Tit for tat.)

 

Populismus aus Angst vor dem Volk

Ich kann die Angst riechen, hier im Berliner Regierungsviertel. Ihr beißender Geruch strömt aus Zeilen wie diesen, die Sigmar Gabriel vor wenigen Tagen Spiegel Online diktiert hat:

„Wer auf Dauer alle Integrationsangebote ablehnt, der kann ebenso wenig in Deutschland bleiben wie vom Ausland bezahlte Hassprediger in Moscheen.“

Er hatte offenbar das Gefühl, nach Wochen der Kritik an Sarrazin auch mal zu beweisen, dass er kein Weichei ist, dass er auch mal was „gegen Ausländer“ sagen kann. Dumme Sprücheklopferei als Antwort auf eine Debatte, die dem Vorsitzenden zu entgleiten droht? Denn bekanntermassen sind viele in der SPD der Meinung, dass Sarrazin „doch irgendwie Recht hat“, wenn er bloß die Hobbygenetik weggelassen hätte und es vielleicht ein bisschen netter gesagt hätte. Sowas kommt unter anderem davon, wenn man jahrelang die Debatte über Integration und Islam verpennt, liebe SPD.

Jetzt aber nachholen zu wollen, indem man einerseits Sarrazin als „Herrenreiter“  und geistigen Erben der Eugenik überführt, wie letzte Woche in der ZEIT geschehen, andererseits aber Sprüche klopft, die suggerieren, der Mann habe eben doch irgendwo Recht – das ist wirklich fatal.

„Integrationsverweigerer“ und „vom Ausland bezahlte Hassprediger“ in einen Satz zu mischen, heißt das Geschäft derjenigen zu betreiben, vor denen man Angst hat.

Da stellt sich doch dem Publikum die Frage: Ach, wenn es denn so viele Integrationsverweigerer im Lande gibt (in dem auch die SPD zuletzt elf Jahre regiert hat), warum erfahren wir das jetzt – und was hat denn die SPD in der Regierung dagegen getan? Und warum gibt es überhaupt „vom Ausland bezahlte Hassprediger“ bei uns, wie Gabriel suggeriert? Hat der SPD-Innenminister Schily etwa nichts dagegen getan? (Doch, hat er, aber Gabriel ist offenbar zu faul, das jetzt zu erklären…)

Kurz gesagt: Der Angstgeruch, der hier durchs Regierungsviertel schweift, macht mir Angst. Nicht nur die SPD strömt ihn aus, von allen Seiten hört man Sprüche, die signalisieren sollen, dass man den Sarrazin doof findet, sich aber  nicht zu schade wäre, auch mal was gegen die da, die Ausländer, die Muslime zu machen.

Das macht einen Witz aus der besonnenen Politik der letzten Jahre, in der Gefühl und Härte, Fördern und Fordern  keine Gegensätze mehr waren.

Gefragt ist jetzt Führerschaft im Verteidigen dieser Errungenschaft, keine Sprüche, um dem vermuteten dumpfen Volkswillen zu schmeicheln. Gefragt sind politische Führer, die den Leuten mehr zutrauen.

 

Antimuslimismus?

Habe ich’s nicht gesagt? Der Begriff der „Islamophobie“ taugt nichts, obwohl es eine arge und steigende Islamfeindlichkeit gibt. Nicht nur hierzulande, sondern in weiten Teilen der westlichen Welt (Willkommen im Club, Schweden!)

Armin Pfahl-Traugber macht in der taz eine ähnliche Unterschiedung wie ich damals in meinem Text:

Mit einer Ablehnung des Islam muss sich nicht automatisch eine Ablehnung von Muslimen verbinden. Dies zeigen sogar die Daten der GMF-Studie selbst: Während zwar eine Mehrheit von 65,9 Prozent im Jahre 2003 der Aussage widersprachen: „Die muslimische Kultur passt durchaus in unsere westliche Welt“, wiesen 65,6 Prozent zugleich die Aussage: „Bei Personen muslimischen Glaubens bin ich misstrauischer“, weit von sich.

Auch andere empirische Studien zeigen, dass es zwar eine deutliche Zunahme von Kritik und Ressentiments gegen den Islam gibt. Das geht aber nicht automatisch mit einer wachsenden Feindseligkeit gegen Muslime einher. Sowohl empirische wie theoretische Argumente sprechen daher dagegen, pauschal von „Islamophobie“ zu reden.

Besser sollte man vielleicht von „Antimuslimismus“ oder „Muslimenfeindschaft“ sprechen. Diese beiden synonymen Begriffe zielen auf die Feindseligkeit gegenüber Muslimen als Muslime ab. Es handelt sich hier nicht um einen bloßen Streit um Worte, die Bezeichnungen stehen vielmehr für unterschiedliche Inhalte. Wenn von „Antimuslimismus“ die Rede ist, dann ist jedenfalls klar, dass es dabei nicht um die Kritik an der muslimischen Religion geht, wie immer rational und begründet diese auch sein mag.

Allerdings muss ich nahc den letzten Wochen sagen: Ich hoffe sehr, dass das noch stimmt, dass es also eine Kritik an der Religion des Islam, ihren Traditionen und Werten gibt, die sich nicht automatisch in eine Muslimfeindlichkeit umsetzt. Zweifel und weitere Beobachtung dringend geboten.

 

Warum Deutschland eine (andere) liberale Partei braucht

Soeben ist das Sonderheft der Zeitschrift Merkur erschienen. Ich habe dort über den real existierenden Liberalismus der FDP nachgedacht. Auszug:

Ohne Zweifel: Es gibt in Zeiten wie diesen Bedarf für eine vernünftige staatsskeptische Partei. Sie müsste einen zweiten Blick auf jene staatlichen Interventionen werfen, die Konsequenzen für kommende Generationen haben können, wie etwa die zahlreichen Milliarden-Rettungspakete. Aber nicht nur das ganz große Staatshandeln, auch das staatliche Hereinregieren im Kleinen verdient skrupulöse Aufmerksamkeit. Wir haben uns an das Mikromanagement der Lebensführung durch Instrumente des Nanny-State schon sehr gewöhnt − vom Rauch-, Kopftuch- und (demnächst vielleicht) Burkaverbot über Ehegattensplitting, Vätermonate bis zum Glühbirnenbann. Es käme darauf an, auf beiden Ebenen nicht von vornherein ideologisch dagegenzuhalten.

Es geht gewissermaßen um Staatsskepsis für Erwachsene, für Menschen, die den etatistisch-planerischen Überschwang der Siebziger ebenso hinter sich gelassen haben wie den gegenläufigen Optimismus der Thatcher und Reagan (auf sozialdemokratischer Seite: Clinton, Blair und Schröder), mit einem geordneten Rückzug des Staates würde schon von selber alles besser.
Von Ronald Reagan ist das Apercu überliefert, die neun schrecklichsten Worte der englischen Sprache lauteten: »I’m from the government, and I’m here to help.« Das würden wir wohl kaum mehr so sagen, spätestens seit dem Moment nach der Lehman-Brothers-Pleite, als staatliches Handeln eine große Depression verhindern musste. Nun muss die liberale Staatsskepsis sich auf die Höhe dieses geschichtlichen Ereignisses begeben, will sie nicht als Endmoräne des Reaganismus gelten.

Nicht erst der mit Mühe und Not verhinderte Crash des Herbstes 2008, sondern zuvor schon der 11. September 2001 hatte den Staat neu ins Blickfeld der Bürger gerückt. Anders als bei früheren Terrorwellen, die einzelnen Vertretern der Elite gegolten hatten, trat hier ja ein nichtstaatliches Netzwerk gegen die Bürger der freienWelt an und nahmsie direkt insVisier. Dieser neue Terror − in New York, London,Madrid und Bombay − war eine Herausforderung der Staatlichkeit als solcher. Die Bürger erwarteten Schutz vom Staat und erkannten scheiternde Staatlichkeit in Teilen der Welt als Mitursache der neuen asymmetrischen Konflikte.
Die deutschen Liberalen hatten dazu keinen Gedanken beizusteuern. Man erschöpfte sich in der Kritik der Schilyschen Sicherheitsgesetze, doch ohne zu reflektieren, dass dem angegriffenen und herausgeforderten Staat im Auge der Bürger eine neue Legitimation zugewachsen war. Es war, was auch immer man von den Sicherheitsgesetzen halten mag, nicht mehr zunächst der Staat, vor dessen Übergriff man den Bürger schützen musste. Diesen Staat musste man nun stärken gegen einen äußeren nichtstaatlichen Feind, und darum gestanden die Bürger dem Staat auch so viele erweiterte Rechte zu. Das Thema ist nicht damit erledigt, dass man hier die Exzesse zurückführt. Eigentlich ist das ein großes, klassisches Thema für Liberale: die Neudefinition des Staates in einer Welt, in der nicht bloß andere Staaten oder supranationale Institutionen, sondern nichtstaatliche Akteure − von den Taliban bis zu den Hedgefonds-Managern − ihm das Leben schwer machen.
Der FDP bietet sich in der Gesellschaftspolitik ein dankbares Thema an: die gefährdete Mitte, von der ja auch der Parteivorsitzende Westerwelle so häufig spricht. Nur findet er nicht den Ton, in dem diese Mitte gerne angesprochen wird. Es ist wahr: Die Mitte schrumpft in Deutschland, wenn auch noch nicht dramatisch. Dabei geht es aber nicht einfach nur um die mittleren Einkommen, sondern um eine Lebensform− um jene schwer fasslichen Milieus von Facharbeitern, Akademikern, Beamten und freien Berufen, die in Deutschland ein erstaunlich homogenes Wertemuster ausgebildet haben, in dem gute Ausbildung, Verantwortungsgefühl und bürgerliche Umgangsformen immer noch hochgehalten werden.

Was hat man nicht über die Mitte gespottet! Es ist aber mittlerweile eine gut durchlüftete Bürgerlichkeit, die in diesen Milieus gepflegt wird, und parteipolitisch ist sie nicht gebunden. Sie ist durch die Sozialdemokratie eines Helmut Schmidt ansprechbar, durch die Merkel-CDU, aber auch durch pragmatische Grüne, die schon in Teilen der Republik die Bürgermeister stellen. Liberale Bürgerlichkeit ist in Deutschland keineswegs mehr an eine nominell liberale Partei gebunden. Im Gegenteil: Zwischen Teilen dieser freiheitlich gesinnten Gesellschaftsschichten und den Liberalen gibt es geradezu ein Abstoßungsverhältnis. Statt dies als Indiz für eine untergründige, unkurierbare Illiberalität des deutschen Wesens zu nehmen, sollte sich die FDP fragen, woran es liegen mag, dass viele Herzensliberale sich außer Stande sehen, sie zu wählen.

Die deutsche Gesellschaft von heute ist so weitgehend durchliberalisiert, dass zum Beispiel ein schwuler Außenminister auch in konservativen Kreisen kein Grund zur Aufregung ist, eher noch zum heimlichen Stolz auf die Liberalität des eigenen Landes. Die Deutschen sind so tief imprägniert mit liberaler Staatsskepsis, dass es manchmal schon zu hysterischen Abwehreaktionen kommt − so etwa bei der beabsichtigten Sperrung von Kinderpornoseiten, die sofort eine Kampagne gegen »Zensur« hervorrief.

Was bleibt da den Liberalen noch zu tun? Wie redet man in einer solchen Gesellschaft − und vor einem solchen breiten Zielpublikum − einnehmend von der Freiheit? Sie muss heute und hierzulande nicht mehr gegen das Spießertum, auch nicht in erster Linie gegen einen übergriffigen Staat und schließlich kaum noch gegen totalitäre Ideologien verteidigt werden. Diese Schlachten sind geschlagen, wenn auch Nachhutgefechte immer wieder nötig sein werden.

Wie aber soll man dann im heutigen Deutschland von der Freiheit reden, der inneren wie der äußeren? Die Freiheit zur persönlichen Entfaltung muss nicht mehr lauthals verteidigt werden. Selbstverwirklichung als hoher Wert ist bis tief in konservative Milieus hinein durchgesetzt (wie die öffentlich debattierte Affäre des Gesundheitsministers Seehofer eindringlich bewiesen
hat). Die Kosten der Freiheit hingegen werden überall sichtbar, zum Beispiel in zerstörten Ehen und in den Kämpfen, die Alleinerziehende zu bestehen haben. Auf der großen politischen Bühne ist nach dem Ende der totalitären Diktaturen kein Erbe in Sicht, der die Ordnung der Freiheit im Westen gefährden könnte. Der Islamismus bleibt ein Problem, hat aber nicht das Zeug zum Nachfolger für Faschismus und Kommunismus.

Während die private Freiheitsmaximierung also an gewisse Grenzen
stößt, ist der Kampf der freien Gesellschaften gegen äußere Feinde zugleich eine komplizierte Sache geworden, man denke nur an die erfolgreiche Kombination von ökonomischer Liberalisierung und rigorosem Autoritarismus in China. Und schließlich ist der Markt nach den Erfahrungen der letzten Jahre nicht mehr einfach als reine Quelle der Freiheit zu reklamieren. Er zeigt in Gestalt des Kasinokapitalismus auch Züge einer Gefahr für die Freiheit − als großer Gleichmacher, als Vernichter von Lebenschancen.

Wie also soll die FDP von der Freiheit sprechen, damit sie von der Mitte unter diesen Umständen gehört wird? Wie verteidigt man die Freiheit unter Bedingungen der Freiheit? Nicht mit hohlem Pathos und geborgten Gegnerschaften aus dem Weltbürgerkrieg.
Westerwelle kann es nicht lassen, überall »Sozialismus« zu riechen, und auch sein junger Adlatus Christian Lindner, ein möglicher Nachfolger, erkennt in Vorschlägen der Linkspartei gerne »Sowjets«. Eine heimliche Sehnsucht nach den übersichtlichen Achtzigern und der Blockkonfrontation scheint die Déjà-vu-Gefühle dieser beiden zu treiben.

Damit korrespondiert eine Art Gutmenschentum der Freiheit, das immer das Positive sehen will und die Schmerzen derjenigen herunterspielt, die in der Multioptionsgesellschaft nicht zurechtkommen. Ein Markt, der für viele Menschen kein Freiheitsquell mehr ist, kommt im FDP-Weltbild nicht vor.
(…)

Der Niedergang der FDP in der Regierung ist kein Grund zur Genugtuung. Zwar gibt es heute Liberale in allen Parteien, aber nur der Partei des real existierenden Liberalismus stellt sich die Frage, was es heißt, unter Bedingungen der Freiheit liberal zu sein, in aller Direktheit und Grundsätzlichkeit. Darum würde sie eigentlich gebraucht. Freiheit braucht Tugenden. Eine freiheitliche Ordnung ist ja mehr als jede andere darauf angewiesen, dass ihre Akteure sich, orientiert an Werten, selber steuern. Liberale sollten also auch etwas dazu zu sagen haben, welche Ausübung der Freiheit heute die Freiheitschancen künftiger Generationen gefährdet: durch Verschuldung, Ressourcenverschwendung und andere Formen der Optionenvernichtung.
Allgemeiner gesagt: Es werden Liberale gebraucht, die in der Lage sind, über die moralischen Voraussetzungen einer freiheitlichen Ordnung nachzudenken, die auch der beste Markt nicht bereitstellen kann, und die sich auch nicht scheuen darüber zu reden, wenn die ungeordnete Freiheit sich selbst gefährdet. Falls es solche Liberale in der FDP gibt, wäre jetzt kein schlechter Moment, aus dem Versteck zu kommen.