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Muslime, baut vaterländische Moscheen!

Gestern war ein lesenswerter Text von Dieter Bartetzko in der FAZ, in dem auf die auch von mir schon gelegentlich erwähnte Parallele zwischen Synagogenarchitektur (im 19. Jhdt.) und der Moscheebaudebatte heutzutage hingewiesen wurde.

Die Juden bauten in Deutschland teils orientalisierende, teils „vaterländische“ Synagogen. Die „maurischen“ Elemente standen für die Wiederentdeckung des Andersseins der Juden, die sich als Emanzipierte trauten, Distanz zu den deutschen Sakral-Baustilen zu markieren. Manche Synagoge sah dann aus wie eine Moschee (etwa die Kölner Hauptsynagoge, hier zu besichtigen).

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Rekonstrukton der Kölner Hauptsynagoge im orientalischen Stil

Auf diesen Stil antwortete der assimilierte Stil mit romanischen oder gotischen Elementen. Diese Synagogen waren teils von Kirchen nicht mehr zu unterscheiden. Berühmtestes Beispiel: Die Dresdener Synagoge von Gottfried Semper, von den Nazis 1938 zerstört. Sie war aussen wie eine romanische Kirche gestaltet, verbarg in ihrem Innern aber einen orientalisierenden Raum.

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Alte Synagoge in Dresden, Achitekt: Gottfried Semper

Hierzu nun schreibt Bartetzko:

„Den Orientalismus der Synagogen lösten seit etwa 1872 “vaterländische” Tendenzen ab, vorgezeichnet in Dresdens Hauptsynagoge von 1840, die Gottfried Semper entworfen hatte. Innen maurisch, glich sie außen den Kaiserdomen von Speyer, Mainz und Worms. Als im zweiten Kaiserreich Romanik und Gotik Inbegriff nationaler Identität wurden, entstanden in Bingen, Schweidnitz, in Lüneburg, Breslau, München oder Düsseldorf neoromanische und neogotische Synagogen, oft zweitürmig, die sich kaum noch von Kirchen unterschieden.
Der Appell dieser Synagogen war eindeutig: Integration. Das gilt sogar für den altorientalischen Monumentalismus der um 1900 entstandenen, heute wieder berühmten Großsynagogen in Essen, Berlin oder Frankfurt-Westend. (…) Wie sehr Synagogen integraler Teil der deutschen Kultur geworden waren, zeigte sich nach 1918. Während in Wilmersdorf 1923 Deutschlands erste von einer islamischen Gemeinde errichtete Moschee als Kopie der heimatlichen Moscheen errichtet wurde, bauten jüdische Gemeinden teils im konservativen Heimatschutz-, teils im umstrittenen avantgardistischen Bauhausstil und teilten so die ästhetischen und ideologischen Konflikte der Weimarer Republik.
Diese fast vollständige ästhetische Integration überdauerte selbst den Judenvernichtungsterror der Nationalsozialisten: Als nach 1945 wieder Synagogen in Deutschland gebaut wurden, entstanden sie, zuweilen mit dezent orientalisierenden Details versehen, im Stil der deutschen Wiederaufbaumoderne. Dass die Traumata des Massenmords nachwirkten, drückt sich außer in der zurückhaltenden Gestaltung auch in den zurückgezogenen, oft zusätzlich von Mauern geschützten Standorten der Synagogen aus.
Diese Isolation, die in den neuen Synagogen überwunden scheint, drückt sich aber in den älteren Moscheebauten in Deutschland immer noch aus. Verantwortlich für ihre Lage in Randgebieten und Hinterhöfen ist die Geldknappheit der auf Spenden angewiesenen islamischen Gemeinden, aber auch beiderseitige Ausgrenzung. Dieses Nischendasein, gepaart mit traditionellem Konservatismus und dem Nichtwissen um hiesige Berührungsängste, dürfte mitbewirkt haben, dass die Mehrzahl der Moscheen der ersten und zweiten Generation reine Orientkopien sind. Der Streit um Minarette geht von den neuen Moscheen aus, die zwar den Hinterhof, aber nicht das architektonische Außenseitertum verlassen haben. So kommt es, dass die nichtislamische Öffentlichkeit selbst in Paul Böhms unbestreitbar modernem Entwurf für die Zentralmoschee in Köln-Ehrenfeld nicht eine expressive Neudeutung der Blauen Moschee sieht, sondern einfach ein drohendes Monument, das den Orientalismus in Riesendimensionen treibt. Dem entspricht auf islamischer Seite, dass die Mehrheit der Gläubigen, obwohl der Islam außer der Ausrichtung nach Mekka keine Regeln für den Moscheebau kennt, Abweichungen vom Gewohnten strikt ablehnt.“

Ich bin, wie ich bereits an der Penzberger Moschee erklärt habe, durchaus ein Freund des „integrativen“ Baustils. Aber ich finde es sehr problematisch, den Muslimen die jüdisch-deutsche Erfahrung normativ vorzuhalten.

Denn: Was war die Antwort der deutschen Gesellschaft auf die Botschaft der „Integration“? Brennende Synagogen und Völkermord. Es hat den Juden nichts gebracht, sich in die deutsche Gesellschaft einzufügen und ihre ästhetischen Vorlieben zu teilen.
Es gibt eigene, heutige Gründe für einen neuen islamischen Baustil, wie er in Penzberg versucht wurde.
Die deutsche Gesellschaft kann es sich aber nicht so einfach machen, die Vorbehalte gegen Moscheen allein (und in jedem Fall)  auf die „Selbstausgrenzung“ der Muslime zu schieben (die es natürlich auch gibt). Dass man etwa in der modernen Böhm’schen Moschee für Köln ein „drohendes Monument“ sieht, liegt sehr wohl im Auge des Betrachters.
Im übrigen sind es ja gar nicht so viele, die sich in Köln bedroht fühlen.
Man könnte darin ja auch eine lange Erinnerung an die Vorgeschichte sehen, in der orientalisierende Synagogen ebenso verbrannt wurden wie die hoch angepassten vaterländischen Exemplare. Vielleicht gibt es in Köln ein Gefühl für den Verlust, den man sich seinerzeit selbst beigebracht hat durch die Vertilgung des gebauten Orients?

 

Minarette: Wie du mir, so ich dir?

Guter Artikel zur Schweizer Minarett-Entscheidung auf dem immer wieder lesenswerten „Transatlantic Forum“ von Michael Kreutz:

Obwohl auf dem Boden der gesamten Schweiz gerade einmal vier Minarette ihr Dasein fristen (weswegen die meisten Einwohner Minarette wohl nur aus dem Fernsehen kennen), ist das Alpenland, dessen gefühlte Grösse etwa der Liechtensteins entspricht, schon jetzt schwer überfremdet. Oder jedenfalls beinahe. Vier Minarette sind immerhin vier Minarette.

Freiheit verteidigt man daher am besten durch praktizierte Sippenhaftung: Weil in Dubai keine Kirchen gebaut werden dürfen, darf es in der Schweiz keine weiteren Minarette mehr geben. Symmetrie nennt man das. Symmetrie ist die neue Waffe im Kampf gegen die Islamisierung, wenngleich diese bislang eher darin bestand, dass ein Teil der Muslime sich selbst ausgrenzt (bis jetzt jedenfalls wurde noch keine Nicht-Muslimin unter die Burka gezwungen)…

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Ganz ähnlich übrigens argumentiert Yassin Musharbash auf SPON.

 

Minarettverbot – Krise des Liberalismus?

Themenvorschlag: siehe Überschrift. Ist vorerst nur so eine Intuition, dass sich in dem Vorschlag, die Verfassung der Schweiz durch ein Verbot zu ergänzen, Türmchen an Moscheen zu bauen, die Krise des Liberalismus in Europa zeigt.

Denn: Wir kritisieren den Islam doch (seit Jahren, auch hier) im Namen des liberalen Rechtsstaats. Wir sind ja skeptisch, was die Integrierbarkeit dieser Religion in unsere Werte- und Rechtsordnung angeht, weil wir im Islam Defizite beim Verständnis der individuellen Freiheitsrechte erkennen, Defizite bei der Gleichbehandlung der Geschlechter, Defizite bei der Religionsfreiheit etc.

Allerdings bringt diese Kritik im Namen des Liberalismus immer mehr problematische Zuckungen des Antiliberalismus zum Vorschein. Überall soll verboten, erzogen und reglementiert werden.

Und es wird massiv herumfantasiert über die Einschränkung der Rechte einer Minderheit.

Den Koran verbieten. Gebete auf Arabisch verbieten. Schächten verbieten. Minarette ab einer bestimmten Höhe verbieten. Ach was, alle Minarette verbieten. Zwangsehen verbieten. Ach was, auch arrangierte Ehen verbieten. Kopftücher verbieten. Befreiung vom Schwimmunterricht und von der Sexualkunde verbieten. Burka verbieten. Moscheebauten verbieten. Und so weiter. Noch Vorschläge?

Kann es sein, dass der westliche Liberalismus sich selbst aufgibt, weil er seiner Kraft und Attraktivität nicht mehr vertraut? Das wäre doch ein ziemliches Paradox, dass diejenigen, die sich in eine Notwehrsituation gegenüber dem Islam hineinfantasieren und im Namen des Liberalismus gegen ihn zu kämpfen glauben, eben jenen Liberalismus leichtfertig aufgeben?

In ganz Europa gibt es schon diese Parteien, deren sog.  Liberalismus sich auf zwei Punkte konzentriert: Staatsfeindlichkeit (Steuern runter!) und Islamfeindlichkeit (Koran verbieten etc.). Nur Deutschland hat so etwas (noch) nicht. Und ich sage: zum Glück.

Also: Wie wäre ein liberaler Umgang mit der Herausforderung Islam möglich, der ohne Selbstaushöhlung auskäme?

 

Mein Lieblings-Minarett

Gestern habe ich in dem Thread über die Schweizer Volksbefragung zum Minarettverbot geschrieben, ich sei kein „Minarettbefürworter“. Damit war gemeint: Wer für das Recht auf Moscheebau mit Minarett eintritt, muss nicht zugleich für jedes Minarett in jedem städtebaulichen Kontext sein. Es ist legitim, gegen konkrete Bauvorhaben zu argumentieren und auch zu mobilisieren, wenn man dafür andere Gründe hat als den Generalverdacht gegen „den Islam“. Moscheebauvorhaben müssen sich in den städtebaulichen Kontext einfügen.

Nun bin ich aber Befürworter eines ganz bestimmten Minaretts und der dazugehörigen Moschee. Es steht im bayrischen Voralpenraum, in Penzberg.

So sieht es aus:

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Und siehe da: Die oberbayrischen Alteingesessenen sind mittlerweile regelrecht stolz auf „ihre Moschee“. Das Minarett besteht vollständig aus stilisierten Schriftzügen. Das Moscheegebäude hat auch keine osmanische Kuppel. (Mehr hier.)

Es wurde gestaltet von dem jungen bosnischstämmigen Architekten Alen Jasarovic, der mit seinem Moschee-Design auch ein Zeichen für eine genuin europäisch-muslimische Baukultur geben will, die sich nicht sklavisch an einem traditionellen osmanischen oder maurischen Stil orientiert.

Das Gebäude ist sehr licht und hell. Es öffnet sich auch bausprachlich der Umgebung.

Die Gemeinde hat das Bauprojekt sehr stark mit der Bevölkerung debattiert. Es gab zwar einige Vorbehalte, aber kaum Proteste. Man kennt sich von der Arbeit und aus der Nachbarschaft.

Merkwürdig: In Penzberg ist eine größere Offenheit für die islamische Gemeinde spürbar, als etwa in Köln. Die Penzberger Muslime haben selber einen grossen Anteil daran, weil sie  Offenheit für ihre Umgebung zeigen – schon in der Architektur.

Ich zitiere den Architekten Alen Jasarevic:

„Wir sind der festen Überzeugung, dass sich ein mitteleuropäischer Moscheetyp entwickeln wird, mit dem sich die muslimischen Einwanderer, vor allem der dritten und vierten Generation, wie auch die nichtmuslimischen Bürger leichter identifizieren können als mit Übernahmen traditioneller Moscheetypen aus der islamischen Welt.

Neben der Kirche und dem Rathaus wird sich die Moschee wie auch die Synagoge als selbstverständlicher Bestandteil unserer Städte etablieren. Wir stehen noch ganz am Anfang dieser Entwicklung. Über Generationen gefestigte Bilder von Moscheen und Vorurteile müssen auf beiden Seiten aufgebrochen werden.
Noch gilt die osmanische Interpretation mit Zentralkuppel und spitzem Minarett als einzig legitimer Typ für einen Moscheebau. Sogar die Moscheegegner berufen sich auf ihren Protestplakaten auf dieses Bild. Dabei ist dieser Typ nur ein Element im weiten Spektrum der islamischen Architekturvielfalt.
Die erste Moschee war das Wohnhaus des Propheten Mohammed: ein einfaches, teilweise überdachtes Hofgeviert. Der Muezzin rief vom Dach des Hauses zum Gebet. Das Minarett und die Kuppel entwickelten sich erst in der Folgezeit unter den ersten Kalifen.
Die folgenden Jahrhunderte brachten ganz unterschiedliche Moscheetypen hervor. So erinnert uns ein chinesisches Minarett eher an eine Pagode oder eine schwarzafrikanische Lehm-Moschee an einen Ameisenhaufen.
Dennoch erfüllen alle Moscheen die gleiche Aufgabe, sie sind Gebetsplätze und Orte der Niederwerfung (arabisch für Moschee) und damit gleichwertig. Eine mitteleuropäische Moschee mit eigenen Gestaltungsmerkmalen ist daher genauso legitim wie etwa die Hallenmoschee im Maghreb. Umgekehrt wäre eine traditionelle chinesische Moschee in der Türkei genauso deplatziert wie eine traditionelle osmanische Moschee in Deutschland.

Moscheen waren immer Orte der Kommunikation und nicht primär Orte der Repräsentation. Gerade in einer offenen und pluralistischen Gesellschaft ist die kommunikative Aufgabe von grundsätzlicher Bedeutung. Fruchtbare Gespräche gelingen gerade in einer ungezwungenen und vorurteilsfreien Atmosphäre. Gebäude, die auf Traditionen beharren, können dagegen zu Barrieren werden.
Als mich die islamische Gemeinde Penzberg das erste Mal zu einem Gespräch in ihre Räumlichkeiten einlud, wunderte ich mich über den provisorischen Charakter der Gebetsstätte. Er überträgt sich mit der Zeit auf die Arbeit der Gemeinde und ihres Vorstandes. Alles ist ein Provisorium.
Doch in Penzberg war alles im Fluss. Der junge, charismatische Imam entwickelte in unserem Gespräch eine mitreißende Vision von der Zukunft der Muslime in Deutschland. Endlich! Eine Gemeinde, die sich und ihre Religion als selbstverständlichen Teil der deutschen Gesellschaft sieht.
Während des Schlussspurtes waren auch wir Architekten täglich auf der Baustelle, um die Arbeiten zu koordinieren und zu überwachen. In dieser Zeit fiel mir ein älterer Herr auf, der regelmäßig die Baustelle besuchte. Eines Tages nahm er mich zur Seite und fragte nach dem Minarett, wann es denn komme und ob es in die Umgebung passe.

Es stellte sich heraus, dass er genau gegenüber der Moschee wohnte und zusammen mit seiner Frau besorgt war. Ich versicherte ihm, dass ich nach wie vor zu meinem Wort stünde und dass die Gemeinde der Stadt mit dem Minarett ein bemerkenswertes Kunstwerk schenken würde.
Der Nachbar bedankte sich nach der Eröffnung beim Vorstand und erzählte, dass er nun mit seiner Frau abends seinen Kaffee am Fenster mit zurückgezogenen Gardinen trinkt und die schöne Aussicht genießt.
Ich frage mich häufig, welchen Anteil am Erfolg der islamischen Gemeinde die Architektur tatsächlich hat. Das Haus ist natürlich nur ein Passepartout, ein Rahmen für die Gemeinde, und ohne die Aktivität und Offenheit ihrer Mitglieder wäre auch die schönste Moschee kein Erfolg.
Allerdings trägt die Architektur entscheidend dazu bei. Ein ungewöhnliches, kunstvoll, offen und transparent gestaltetes Gebäude verhilft der Gemeinde zu Identität und Selbstbewusstsein.
Rückblickend lässt sich sagen, dass der Vorstand klug und vorausschauend gehandelt hat. Die Befürchtungen der Bevölkerung wurden von allen ernst genommen und in vielen gemeinsamen Gesprächen entkräftet. Insgesamt wurde ein Projekt realisiert, das Leuchtturm-Qualität besitzt und hoffentlich auch andere Städte und Gemeinden inspiriert.“

 

Wo man Minarette verbietet

Braucht ein Land mit 4 (!) Minaretten ein Gesetz gegen den weiteren Bau solcher Türme?  Ist es überhaupt statthaft, ein Sonder-Gesetz gegen bestimmte religiös motivierte Bauformen zu erlassen? Gibt es in der Schweiz etwa kein Baurecht, in dem alles Nötige ohnehin geregelt ist?

Das sind alles ebenso naheliegende wie sinnlose Fragen. Denn der siegreichen Initiative zum Minarettverbot geht es ja gar nicht um dieses spezielle Bauwerk. Und dass ein Europäischer Gerichtshof die Sache wahrscheinlich stoppen wird, ist den Initiatoren um die SVP natürlich sehr recht: Wieder einmal wäre bewiesen, dass Europa schlecht für die Schweizer ist, weil es ihre Souveränität einschränkt.

Sie haben die Volksabstimmung ja gerade so formuliert, dass sie quer zu den obigen Fragen das Unbehagen am Islam und an den Fremden im Lande abfragt: Ein Minarett, so die Suggestion, ist ja eben nicht einfach Teil einer üblichen Sakralarchitektur, sondern Symbol einer mit den schweizerischen Werten nicht vereinbaren Ideologie namens Islam. Letztlich heißt das: Islam ist keine Religion, sondern eine politische Idee, die zurückgewiesen werden muss und mit allen Mitteln bekämpft werden darf. Für den Islam gilt die Verfassung nicht, gilt das Religionsprivileg nicht, gilt die Religionsfreiheit nicht.

Das ist die radikale Kampfansage, die in dem Volksbegehren steckt.

Es gibt sicher Leute, die diese Botschaft verstehen werden. Dann beginnt eine andere Debatte.

 

Zum Ende der Papstreise ins Heilige Land

Man kann sich die Erleichterung des Papstes vorstellen, wenn heute nach einem Treffen mit orthodoxen Christen sein Besuch im Heiligen Land zuende geht. Noch nie ist der Pilger-Besuch eines Pontifex so skrupulös beobachtet worden. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass das Schicksal dieses Pontifikats an dieser Reise hing: Noch ein falsches Wort, noch ein Skandal – und Benedikt wäre als Versager auf dem heiligen Stuhl in die Geschichte eingegangen.

So ist es nicht gekommen. Die Papstreise ist – gemessen an den Befürchtungen – gut verlaufen. Der Papst hat in einigen Fragen sogar – was etwa die Wünschbarkeit eines palästinensischen Staates angeht – erfreulich klare Worte gefunden.

Aber eine große Reise war es dann doch nicht. Und das hat mit einem merkwürdigen Ungleichgewicht des Mitgefühls zu zu tun, das der Papst bei seinen Stationen an den Tag legte.

Dass diese Pilgerreise so heikel werden würde, hatte der Papst sich selbst eingebrockt – zuletzt durch sein Missmanagement der Affäre um den Holocaustleugner Bischof Williamson. Es war klar, dass manche in Israel darum eine besondere Geste erwarten würden. Und es war zugleich klar, dass er sie nicht würde bieten können. Ein Papst, der sich – etwa in der Gedenkstätte Jad Vaschem abermals entschuldigt, dass er und seine Beamten leider, leider übersehen haben, dass ein Bischof der Piusbrüder offenbar der Meinung ist, die Gaskammern hätte es nicht gegeben – wie peinlich und unangemessen wäre das gewesen!

Doch hätte Benedikt sich in Jad Vaschem zur Haltung der Katholischen Kirche im Nationalsozialismus unter Pius XII äussern sollen? Im Ernst wurde dies nicht erwartet, auch wenn manche Stimmen in Israel so etwas lauthals gefordert hatten. Eine Pilgerreise ist nicht geeignet zur Fortsetzung eines immer noch nicht angeschlossenen Historikerstreits um Schuld und Verstrickung der Kirche.

Aber hätte Benedikt, wenn er schon diese Erwartungen nicht erfüllen konnte, nicht etwas anderes tun können, um die Israelis für sich einzunehmen? Eine menschliche Geste, ein paar bewegte, persönliche Worte wären genug gewesen. Sie kamen ihm nicht über die Lippen. Er wirkte wie eingemauert in die Angst, etwas falsch zu machen. Jedenfalls beim israelischen Teil seiner Reise.

Das ist das Erstaunliche: Dieser Papst kam besser bei seinen palästinensischen Gastgebern an als bei den Israelis.

Anders gesagt: Benedikt kommt überraschender Weise mit den Muslimen besser zurecht als mit den Juden, mit denen er doch theologisch eine größere Nähe („unsere älteren Brüder“) zu haben reklamiert. Das ist nach dem Skandal seiner Regensburger Rede erstaunlich, die vor Jahren zu großer Empörung in der muslimischen Welt geführt hatte.

Aber vielleicht ist das bei diesem Papst eine Konstante – dass er mit den ferneren Glaubensrichtungen eigentlich besser kann als mit den nächsten Verwandten im Geiste: Es fällt ihm ja auch leichter, freundliche Gesten gegenüber der christlichen Orthodoxie zu machen als in Richtung der Protestanten.

Und so schien Benedikt mehr in seinem Element, als er Messen in Amman, Nazareth und Bethlehem feierte, als auf israelischem Boden. Er fand ergreifende Worte für das Leid der Palästinenser unter der Besatzung. Er ging voller Engagement in die politischen Tageskämpfe, als er das Recht der Palästinenser auf ein eigenes „Heimatland“ forderte (auch wenn er dabei das Wort „Staat“ vermied“).

In Jad Vaschem hingegen erging er sich in eher dürren und abstrakten Erklärungen gegen den Antisemitismus, ohne die unheilige Rolle der Kirche über Jahrhunderte dabei auch nur zu streifen. Es hätte gar nicht das große „nostra culpa“ sein müssen: Ein persönliches Wort des Mannes, der als Joseph Ratzinger ja auch ein Zeitzeuge der Barbarei war, hätte genügt.

Die israelische Öffentlichkeit war zu Recht enttäuscht über diesen Mangel. Und dies besonders angesichts der Tatsache, dass es Benedikt auf der palästinensischen Seite offenbar nicht an lebendiger Empathie gebrach.

Am Ende hat er noch einmal versucht, seinen allzu kühlen Ton in Jad Vaschem zu korrigieren. Am letzten Tag sagte er, in Erinnerung an den Besuch in dem Museum: „Diese sehr bewegenden Momente haben mich an meinen Besuch im Todeslager Auschwitz vor drei Jahren erinnert, wo so viele Juden, Mütter, Väter, Ehemänner und Frauen, Brüder, Schwestern und Freunde brutal vernichtet wurden – von einem gottlosen Regime, das eine Ideologie von Antisemitismus und Hass verbreitete.“ Er hat es also spät auch selber verspürt, das da etwas gefehlt hatte.

Trotzdem war diese Reise ein Erfolg: Der Papst hat sich immer wieder leidenschaftlich dafür ausgesprochen, dass die Religionen – alle großen monotheistischen Religionen, die im Nahen Osten ihre gemeinsamen Wurzeln haben – eine Ressource zur Überwindung der haßvollen Kulturkämpfe unseere Tage sein können. Und er fand auch starke Worte gegen jene, die im Namen Gottes den Hass säen – und so noch vor dem Leben „ihre Seele verlieren“. Das war ins Gewissen jener gesprochen, die Selbstmordanschläge im Namen Gottes rechtfertigen oder verharmlosen.

Hätte Benedikt seine Anti-Bin-Laden-Botschaft, dass die Religionen der Liebe und dem Respekt der Menschen untereinander dienen sollen, auch mit etwas mehr menschlicher Bewegtheit angesichts der Shoah vorgetragen, es hätte eine ganz große Reise werden können.

 

Neue Anschuldigungen gegen die Baha’i im Iran

Die erfreuliche Freilassung Roxana Saberis sollte nicht darüber hinweg täuschen, das das Unrecht in den iranischen Gefängnissen weitergeht: 

Für die sieben führenden Bahá’í im Iran ist der Donnerstag der Jahrestag ihrer Inhaftierung in das berüchtigte Teheraner Evin-Gefängnis. Zu diesem Zeitpunkt sehen sich die Inhaftierten einer neuen, äußerst beunruhigenden Anschuldigung ausgesetzt: „Verbreitung von Verderbtheit“.

Zu der augenblicklichen Situation der Bahá’í erläutert der Sprecher der Bahá’í-Gemeinde Deutschland, Prof. Ingo Hofmann: „Die Familien der sieben Inhaftierten wurden jetzt mit einer neuen, äußerst bedrohlichen Anklage konfrontiert, der Verbreitung von Verderbtheit auf Erden (in persisch: Mosfede fel-Arz), die nach Artikel 228-10 der derzeit noch im Parlament verhandelten neuen Strafrechtsnovelle mit der Todesstrafe geahndet werden kann. Während die bisherigen Anklagepunkte offensichtlich nicht nachgewiesen werden konnten, ist der neue Vorwurf beliebig dehnbar und ein offensichtlicher Beweis des ausschließlich religiösen Hintergrunds dieser Verfolgung durch die iranische Staatsmacht.“
 
Politiker von CDU und SPD zeigen sich angesichts der nun ein Jahr dauernden Haft der zwei Frauen und fünf Männer empört. So erklärt Michael Gahler (CDU), Vizepräsident des Auswärtigen Ausschusses im Europäischen Parlament, hierzu: „Dass die iranische Regierung sich einem Verfahren nach internationalen Standards verweigert und die sieben Bahá’í und ihre Familienangehörigen seit Monaten im Unklaren lässt über ihr weiteres Schicksal, ist nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für die interessierte iranische und internationale Öffentlichkeit eine unglaubliche Zumutung.“
 
Der Vorsitzende der deutsch-iranischen Parlamentariergruppe des Deutschen Bundestages, der Kölner Bundestagsabgeordnete Dr. Rolf Mützenich (SPD) meint: „Nachdem die iranische Gerichtsbarkeit im Fall der Journalistin Roxana Saberi eine kluge Entscheidung getroffen hat, wäre ein vergleichbares Vorgehen im Fall der angeklagten Bahá´í ein weiteres wichtiges Signal. Dies könnte die Beziehungen zu Iran deutlich verbessern.“

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Wir sind Präses

Eine Grüne ist das neue Gesicht des deutschen Protestantismus

Katholische und evangelische Kirche liegen hierzulande ziemlich gleichauf, was die Mitgliederzahl angeht: je etwa 25 Millionen Gläubige. Aber was das öffentliche Interesse angeht, könnte man meinen, gab es in den vergangenen Jahren eine klare Neigung zu Papstkirche.
Kann es sein, dass sich das Blatt nun wendet? Die Protestanten haben am vergangenen Wochenende auf ihrer Synode in Würzburg eine kleine Kulturrevolution angezettelt. Die ostdeutsche Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt hat den ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten Günther Beckstein mit 72 zu 50 Stimmen auf den zweiten Platz verwiesen und wird damit Präses, also Chefin des einflussreichen evangelischen Kirchenparlaments. Jung, grün, weiblich und aus dem Osten: Für sechs Jahre soll die 42-jährige Thüringerin nun das Gesicht und die Stimme der 25 Millionen evangelischen Laien sein.

Göring-Eckardt Foto: Bundestag

Es werden entscheidende Jahre. Denn schon im Herbst muss ein neuer EKD-Vorsitzender in die riesengroßen Fußstapfen von Bischof Huber treten. Oder erstmals eine Vorsitzende? Katrin Göring-Eckardt wird als EKD-Ratsmitglied dabei entscheidend mitzureden haben. Und so kann es durchaus sein, dass bald noch eine weitere Frau an die Spitze des deutschen Protestantismus aufsteigt: Margot Käßmann, die Bischöfin von Hannover, auch gerade erst fünfzig Jahre alt. Zwei berufstätige Mütter stünden dann für das Evangelische – toughe, meinungsstarke und attraktive Frauen, die beide gegen Widerstände ihren Weg gemacht haben.
Der scheidende Bischof Huber hat seiner  Kirche mit zahlreichen Interventionen – zum Klima, zur Armut, zum Dialog mit dem Islam, zur Unverantwortlichkeit der Manager – wieder ein öffentliches Gewicht gegeben. Aber gegen den Sog der anfänglichen Papst-Euphorie kam auch er nicht an. Selbst noch in seinen späteren Skandalen war Benedikt meist interessanter als die klügste EKD-Einmischung. »Vatikanisierung« der EKD haben seine Neider Huber vorgeworfen. Das war ungerecht, wenn es auch tatsächlich einen klammheimlichen Neid der Protestanten auf die katholische Konkurrenz im Kampf um die fromme Hegemonie in Deutschland gab.
Mit einem Team Göring-Eckardt/Käßmann könnte etwas kippen: Die Evangelischen kämen wieder in die Vorhand bei der Frage, was »Kirche der Freiheit« heute bedeutet – ein Teil dieser Gesellschaft zu sein und doch einem Heilsversprechen treu zu bleiben, das nicht von dieser Welt ist.
Beide Frauen können sehr lebhaft von dem alltäglichen Kampf erzählen, den das bedeuten kann, von Erfolgen ebenso wie von Bedrängnis und Scheitern – als christliche Dissidentin im Osten die eine; als Frau, die mit Kindern, Karriere und Krankheit jonglieren musste und eine Scheidung nicht vermeiden konnte, die andere.
Mit der Grünen an der Spitze der EKD endet ein Vierteljahrhundert, in dem die führenden Evangelischen stets Sozialdemokraten waren. Auch wenn früher einmal große Kirchenpolitiker wie der mehrfache SPD-Minister Jürgen Schmude diese Zeit geprägt haben: Es ist gut für die Glaubwürdigkeit der Kirche, dass das Abo der Sozialdemokratie auf dieses Amt nun abgelaufen ist. Die Sozialdemokraten haben im Übrigen durch ihren erbitterten Berliner Kulturkampf gegen den Religionsunterricht selbst einiges zur neuen Distanz beigetragen. Und die Kirche muss nach ihrer Niederlage an den Wahlurnen ihr politisches Engagement überdenken. Folgen daraus nun Rückzug und Entpolitisierung? Nein. Die Synodalen von Würzburg haben mit ihrer Wahl zum Ausdruck gebracht, dass sie nicht weniger gesellschaftliche Einmischung der Kirche wollen – aber doch eine weniger berechenbare als zuvor.
Wenn diese Einmischung gelegentlich etwas lebensfroher daherkäme, wäre schon viel gewonnen. Katrin Göring-Eckardt hat aus der DDR eine vitale Bindung an die Kirche mitgebracht, an die Kirche als Raum der Freiheit: »Ich hätte das nicht überstanden, wenn es damals die Kirche nicht gegeben hätte.« Durch die Wende ist sie seinerzeit aus der Theologie in die Politik getrieben worden. Sie brach ihr Studium in Leipzig ab, um sich politisch einzumischen. Nun ist sie als Politikerin berufen, das Kirchenvolk wieder stärker in der Gesellschaft in Erscheinung treten zu lassen.
Der deutsche Protestantismus neigt dazu, sich in Sorge, Mahnung und moralischer Selbstüberforderung zu verzetteln. Ob es nicht auch anders geht, wird die Probe für die Neue: »Wir müssen öfter zeigen«, sagt Göring-Eckardt, »dass es uns erleichtert und nicht etwa beschwert, Christen zu sein.«
Dass die evangelische Kirche im Jahr 20 nach der Wende eine Bürgerrechtlerin aus Thüringen an ihre Spitze wählt, die einen »fröhlichen, einladenden Protestantismus« vertritt, ist kein schlechter Anfang.

 

Das Christentum und die große Stadt – vom Sinn des Pfingstwunders

Eine kleine vorgezogene Predigt zu Pfingsten:

Das Pfingstwunder konnte nur in einer großen Stadt geschehen – wo viele Fremde sich begegnen und aneinander vorbei reden. Ohne die “gottesfürchtigen Männer aus allerlei Volk, das unter dem Himmel ist”, von denen die Apostelgeschichte berichtet, wäre ein solches Wunder ja gar nicht nötig geworden.
Pfingsten ist der Ursprung der Kirche. Man hat bei der Deutung der Pfingsüberlieferung immer großen Wert darauf gelegt, dass durch das Pfingstwunder die “babylonische Sprachverwirrung” aufgehoben werde. Zweifellos ist das eine Pointe der Geschichte.  Einer der Zeugen wird zitiert: ”Wir hören sie mit unsern Zungen die großen Taten Gottes reden.” Und dann heißt es weiter: “Sie entsetzten sich aber alle und wurden irre und sprachen einer zu dem andern: Was will das werden?”

Und darin liegt für mich eine wichtige, oft übersehene Seite der Pfingstgeschichte: Das Christentum ist von allem Anfang an Stadtmission – eine frohe Botschaft in einer und für eine multikulturelle Gesellschaft. Die Apostel sprechen zu den “Juden und Judengenossen, Kretern und Arabern”.
Und von Anfang an hat ihr Sprechen auch Widerstände – ja sogar Entsetzen ausgelöst. Denn in dem Universalismus der christlichen Botschaft liegt etwas Umstürzlerisches. Die Menschheit in ihrer Vielgestaltigkeit anzunehmen und doch ihre Zersplittertheit nicht einfach hinzunehmen, wie es die Apostel nach Pfingsten taten, das war etwas Revolutionäres.
Kein Wunder, dass die harthörigen Städter sich über die in Zungen redenden Prediger lustig machen und ihnen nicht abkaufen wollen, dass ihre Botschaft für jedermann gilt und von allen verstanden werden kann: “Die andern aber hatten’s ihren Spott und sprachen: Sie sind voll süßen Weins.”
Das Christentum ist eine städtische Religion. Seine Gemeinde entsteht an Pfingsten aus der Situation einer bedrängten und verlachten Minderheit, die nichts für sich aufzubieten hat als ihre Botschaft und den “Heiligen Geist”.
Viele Zeitgenossen heute sind zu höflich, um es so offen zu sagen: Aber Christen müssen sich auch heute wieder einer Welt erklären, die die christliche Botschaft für “verrückt” hält. Das “Entsetzen” und der Widerstand gegen diese Botschaft sind immer noch da. Man hat die Apostel für Spinner und für Betrunkene erklärt.

Das wird oft zur Seite gedrückt durch den anderen Aspekt des Pfingstwunders – den großartigen Moment, in dem alle plötzlich die Botschaft in ihrer eigenen Sprache verstehen. Ja wohl, in ihrer eigenen Sprache: An Pfingsten wird keine neue christliche Einheitskultur mit einer Einheitssprache begründet. Die Unterschiede bleiben bestehen, und doch ist Verständigung möglich. Eine schöne Utopie für unsere zersplitterte und doch mehr und mehr aufeinander angewiesene globalisierte Welt.

Eine Welt, in der “Juden, Kreter und Araber” sich verstehen lernen und miteinander auskommen müssen.

 

Ägypten: Schweinekeulung als antichristlicher Kulturkampf?

Ägypten hat unter dem Eindruck der Schweinegrippe damit begonnen, alle Schweine des Landes zu töten. Professor Günter Meyer von der Universität Mainz vermutet hinter der Aktion einen Versuch, der christlichen Minderheit die Lebensgrundlage zu nehmen. Doch auch Muslime halten Schweine in Ägypten.

Aus einer Pressemitteilung der Uni Mainz:

„Bei dem gewaltsamen Widerstand der Müllsammler in Kairo gegen die behördlich angeordnete Schlachtung ihrer Schweine wurden am Sonntag 14 Personen verhaften und zahlreiche Menschen verletzt. Diese Auseinandersetzungen markieren den vorläufigen Höhepunkt der staatlichen Bemühungen, das Ärgernis der Schweinehaltung durch meist christliche Familien in dem überwiegend muslimischen Land zu beseitigen.
 
Professor Meyer, der Leiter des Zentrums für Forschung zur Arabischen Welt an der Universität Mainz, untersucht seit den 1980er Jahren die wirtschaftliche und soziale Entwicklung in den sechs Müllsiedlungen am Rande der ägyptischen Metropole. Nach seiner Ansicht „hat die Schweinegrippe nur den willkommenen Anlass für die Entscheidung der ägyptischen Regierung geliefert, den gesamten Schweinebestand des Landes töten zu lassen. Dabei wird die Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz von mehr als 150.000 Menschen in Kauf genommen.“
 
Die Weltgesundheitsorganisation hat nachdrücklich unterstrichen, dass von den in Ägypten gehaltenen Schweinen keine Grippegefahr ausgeht. Es ist deshalb offensichtlich, dass die tatsächlichen Gründe für die Massenschlachtung ganz anderer Art sind:
 
Den ägyptischen Behörden waren die überwiegend christlichen Müllsammler schon lange ein Dorn im Auge. Diese erzielen den größten Teil ihre Einkünfte durch die Haltung von Schweinen, die vor allem mit Speiseresten und Küchenabfällen aus wohlhabenden Haushalten gefüttert werden. Für konservative Muslime ist jedoch die Schweinehaltung nicht akzeptabel, da der Koran den Genuss von Schweinefleisch verbietet. „Dass dort Schweine gehalten werden, ist eine Schande für das ganze Land“, bekam der Mainzer Geograph immer wieder zu hören, wenn er außerhalb der Müllsiedlungen seine Untersuchungen erwähnte.
 
Dennoch wurde bisher die Schweinehaltung toleriert, da sonst das gesamte System der Abfallentsorgung in den Stadtteilen der gehobenen Mittel- und Oberschicht zusammengebrochen wäre. Deren relativ wertvolle Haushaltsabfälle sicherten allein in Kairo das wirtschaftliche Überleben von rund 2000 Müllsammlerfamilien.
 
In den letzten Jahren haben sich jedoch mehrere private Großunternehmen der Abfallwirtschaft etabliert, die bisher vor allem den Müll aus den ärmeren Stadtteilen einsammeln. Die dortigen Abfälle enthalten jedoch zu wenig wertvolles Material, das eine profitable Wiederverwertung in modernen Recyclinganlagen lohnt. Diese Unternehmen werden jetzt die großen Gewinner sein, wenn sie auch die Abfallentsorgung in den wohlhabenden Stadtteilen übernehmen können, weil sich dies für die kleinen traditionellen Müllsammlerbetriebe nach dem Wegfall ihrer wichtigsten Einnahmequelle aus der Schweinehaltung nicht mehr lohnt.
 
Vor dem Hintergrund der Vogelgrippe hatte der ägyptische Präsident schon 2008 die Tierhaltung – insbesondere von Geflügel und Schweinen – aus hygienischen Gründen in dicht besiedelten Gebieten verboten. Diese Anordnung ließ sich im vergangenen Jahr nicht durchsetzen. Jetzt dagegen liefert die Schweinegrippe ein scheinbar überzeugendes Argument für die schon lange angestrebte Ausschaltung der Schweinehaltung.
 
Ein weiterer Grund, weshalb sich gerade konservative muslimische Parlamentarier vehement für diese gesetzliche Regelung einsetzen, ist darin zu sehen, dass die Schweinehaltung keineswegs nur von Christen, sondern auch von Muslimen betrieben wird – was in der Regel als schwerer religiöser Frevel angesehen wird. Bei Befragungen jedes zehnten Müllsammlerbetriebes im Großraum Kairo konnte Meyer feststellen, dass rund 20 Prozent der Müllsammlerfamilien Muslime waren, die ebenso wie ihre christlichen Nachbarn Schweine hielten. Auf die erstaunte Frage des Wissenschaftlers, wie dies mit dem Koran in Einklang zu bringen sei, war die Antwort jedes Mal die gleiche: „Der Prophet hat nur den Genuss von Schweinefleisch verboten, nicht die Haltung von Schweinen!“
 
Die Schweinehaltung nimmt als wichtigster Wirtschaftsfaktor eine Schlüsselrolle in dem aktuellen System der Abfallwirtschaft in Kairo ein, dessen Anfänge um 1880 Jahren zu suchen sind. Damals ließen sich völlig verarmte Zuwanderer aus den Oasen in der Westlichen Wüste in Kairo nieder. Die Wahis, d.h. „die Leute aus den Oasen“ sicherten ihr wirtschaftliches Überleben, indem sie die Abfälle aus den Haushalten der reichen Oberschicht einsammelten und dafür eine Gebühr erhielten. Außerdem verkauften sie das brennbare Material vor allem an öffentliche Badehäuser zum Erhitzen des Badewassers. In den 1920er Jahren gingen jedoch immer mehr Badehäuser dazu über, Heizöl statt Abfällen als Brennmaterial einzusetzen. Damit verloren die Wahis eine ihrer wichtigsten Einnahmequelle.
 
In dieser Phase strömten zahlreiche koptische Migranten aus christlichen Dörfern in Mittelägypten nach Kairo. Sie erkannten die Möglichkeit, die Küchenabfälle der Reichen als Schweinefutter zu nutzen. Nur zu gern traten die Wahis – gegen Entgelt – die mühselige Schmutzarbeit des aktiven Sammelns und Aufbereitens der Abfälle an die mittellosen koptischen Neuankömmlinge ab, die ihr wirtschaftliches Überleben durch die Schweinehaltung sicherten. Die Wahis kassieren jedoch nach wie vor die Gebühren für die Müllabfuhr von den jeweiligen Haushalten – für eine Leistung, die nicht von ihnen, sondern von den Zabbalin, den „Schweinehaltern“, erbracht wird.
 
Zur Sicherung ihrer lukrativen Pfründe schlossen sich die Wahis in einem öffentlich registrierten Müllkontraktoren-Verband zusammen. Als Mitglieder sind nur Personen zugelassen, die in fünf Dörfern der Dachla-Oase geboren sind, und deren Nachkommen. Dem Verband gelang es noch bis vor wenigen Jahren – zum Teil mit gewaltsamen Methoden – alle Konkurrenten abzuwehren, die sich ebenfalls in diesem einträglichen Abfallsektor etablieren wollten. Nur bei der Gruppe der Hausbesitzer gelang ihnen das nicht.“

(p.s. Professor Meyer ergänzt:)

In der Praxis funktioniert das System der Müllabfuhr in Kairo folgendermaßen: Wird ein Apartmentgebäude für relativ einkommensstarke Bewohner errichtet, so verkauft der Hausbesitzer das Recht auf Müllabfuhr an einen Müllkontraktor. Dieser kassiert in Zukunft die Gebühr für die Müllabfuhr von allen Haushalten des betreffenden Wohngebäudes. Außerdem erhält er einen einmaligen Betrag von dem Müllsammler, der damit das Recht hat, fortan den Abfall täglich aus den Haushalten abzuholen und zu verwerten.
Wie Meyer bei seinen Untersuchungen zeigen konnte, beziehen die Müllsammlerfamilien im Durchschnitt zwei Drittel ihrer Einkünfte aus dem Verkauf ihrer Schweine. Die übrigen Einnahmen stammen aus dem Verkauf des Schweinemistes und der Altmaterialien. Nachdem die aktuelle Wirtschaftskrise bereits zu einem Preisverfall bei den Altmaterialien geführt hat, bedeutet die staatlich verordnete Aufgabe der Schweinehaltung für die Zabbalin die Vernichtung ihrer wirtschaftlichen Existenz. Erschwerend kommt hinzu, dass die angekündigten Entschädigungszahlungen für die geschlachteten Schweine nur etwa halb so hoch sind, wie die bisherigen Marktpreise.
Angesichts des drohenden Verlustes ihrer Lebensgrundlage ist es nur zu verständlich, dass sich die Müllsammler in ihrer Verzweiflung gewaltsam gegen die Tötung ihrer Tiere wehren und in der größten Müllsiedlung Manshiet Nasser die Sicherheitskräfte mit Steinen und Flaschen angegriffen haben. Allein in diesem Viertel werden rund 65.000 Schweine gehalten, die bisher ein wirtschaftliches Überleben für mehr als 50.000 Menschen sicherten.
Betroffen sind auch Tausende von Kleinbetrieben, die sich auf das Recyceln der Abfälle spezialisiert haben. Es bedeutet auch das Ende dieser Kleinbetriebe, wenn nach dem Ausscheiden der traditionellen Müllsammler die Großunternehmen mit ihren modernen Recycling-Anlagen die Abfallentsorgung übernehmen. Als Folge der Vernichtung der ägyptischen Schweinebestände werden mehr als 150.000 Menschen ihre wirtschaftliche Existenz verlieren.”