Wie Deutschland der syrischen Opposition hilft

Zwischen dem Ludwigkirchplatz in Berlin-Wilmersdorf und Damaskus liegen 3700 Kilometer Luftlinie. Doch wenn eines Tages ein neues Syrien aus den Trümmern der Assad-Diktatur entsteht, könnten wesentliche Impulse aus dem alten preußischen Amtsgebäude stammen, in dem ein regierungsnaher deutscher Thinktank residiert
Bei der »Stiftung Wissenschaft und Politik« (SWP) hat seit Januar eine Gruppe von bis zu 50 syrischen Oppositionellen aller Couleur geheime Treffen abgehalten, um Pläne für den Tag nach dem Abgang Assads zu schmieden. Das klandestine Projekt mit dem Namen »Day After« wird von der SWP in Partnerschaft mit dem »United States Institute of Peace« (USIP) organisiert, wie DIE ZEIT von Beteiligten erfuhr. Das deutsche Außenministerien und das State Department helfen mit Geld, Visa und Logistik. Direkte Regierungsbeteiligung gibt es wohlweislich nicht, damit die Teilnehmer nicht als Marionetten des Westens denunziert werden können.
Zwar nehmen auch Angehörige der »Freien Syrischen Armee« teil, doch der Weg hin zum Sturz Assads und die damit verbundene Debatte um Fluch und Segen militärischer Interventionen wird in Berlin bewußt ausgeklammert. Die Frage bei den Treffen lautet: Wie kann der Übergang zu einem demokratischen Syrien organisiert werden? Das unweigerliche Ende des Regimes wird schlicht vorausgesetzt. Es ist seit mehr als sechs Monaten die Arbeitshypothese bei den Berliner Treffen. Darin zeigt sich, dass die Bundesregierung schon viel länger mit dem Sturz des syrischen Regimes kalkuliert, als Berliner Diplomaten zugeben können. Und: Deutschland ist sehr viel stärker in die Vorbereitungen der syrischen Opposition einbezogen, als man bisher öffentlich zugeben wollte.
Dies allerdings mit gutem Grund: Unter beträchtlichem Aufwand wurden diskret Ex-Generäle, Wirtschafts- und Justizexperten, sowie Vertreter aller Ethnien und Konfessionen -– Muslimbrüder eingeschlossen, aber auch säkulare Nationalisten – nach Berlin eingeflogen. Die Sache musste unter dem Radar der Öffentlichkeit gehalten werden, um eine freie Debatte zu ermöglichen und Teilnehmer vor dem langen Arm des syrischen Geheimdienstes zu schützen. Außerdem: So lange Deutschland noch an Assad und seine Paten in Moskau und Peking appellierte, wäre es kontraproduktiv gewesen, konkrete Planungen für ein freies Syrien offenzulegen.
Nach der Eskalation der Kämpfe und dem Scheitern der Diplomatie durch das Veto Russlands und Chinas aber ist ein »Wendepunkt« (Westerwelle) erreicht und Deutschland stellt sich offener hinter die Opposition.
Der Syrienkenner Volker Perthes, Direktor der SWP, betont, die beteiligten Regimegegner hätten »sich selbst rekrutiert, denn es ist nicht unsere Aufgabe, hier eine neue syrische Regierung auszuwählen.« Ziel des Projekts sei vielmehr, Prioritäten beim Umbau der Assad-Diktatur in eine Demokratie zu identifizieren. »Vielleicht wichtiger noch«, fügt Perthes hinzu: »Wir haben der Opposition die Chance gegeben, unbeobachtet und ohne Druck eine Diskurscommunity zu schaffen«. Offenbar war das produktiv: Im August soll ein Dokument veröffentlicht werden, das den Konsens der Opposition darüber darstellt, wie die neue Verfassung aussehen muss, wie Armee, Justiz und Sicherheitsapparate refomiert werden können, wie die Konfessionen künftig friedlich zusammenleben und die Wirtschaft umgebaut werden muss.
Für Berlin als Tagungsort sprach von Beginn an, dass es kaum möglich gewesen wäre, die Teilnehmer aus dem islamistischen Spektrum in die USA zu bringen. Außerdem sind mit Perthes und der Projektleiterin Muriel Asseburg langjährige Kenner Syriens vor Ort verfügbar. Deutschland hat zudem wertvolle eigene Erfahrung mit der Überwindung von Diktaturen: Perthes erzählt, ein Besuch bei der Stasi-Unterlagenbehörde habe bei den Syrern heftige Debatten über den Umgang mit Geheimdienstakten und belasteten Mitarbeitern ausgelöst. Eines der wichtigsten Themen ist die Frage, welche Teile des Sicherheitsapparats und der Justiz man bewahren sollte. Der Irak gilt im Nachbarland Syrien, so Perthes, als abschreckendes Beispiel dafür, wie die Totalabwicklung des alten Regimes ins Chaos führen kann.
Die Bundesregierung zieht mit der Förderung der syrischen Opposition Konsequenzen aus der Fehlentscheidung, im Libyenkonflikt mit Rußland und China gestimmt zu haben. In diesem Zusammenhang sind auch die offiziellen Aktivitäten Deutschlands im Rahmen der »Freundesgruppe des syrischen Volkes« zu sehen. Darin sind 70 Staaten vertreten, die trotz der russisch-chinesischen Blockade für den Wandel in Syrien eintreten. Deutschland hat in der »Freundesgruppe« zusammmen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten die Verantwortung für die »Arbeitsgruppe Wirtschaftlicher Wiederaufbau und Entwicklung« übernommen. Die erste Sitzung fand Ende Mai in Abu Dhabi statt, die zweite Ende Juni in Berlin. In Berlin wurde jüngst ein Sekretariat eingerichtet, das die Sitzungen koordinieren und den Kontakt zur syrischen Opposition halten soll, geleitet vom ehemaligen Chef des afghanischen Büros der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), Gunnar Wälzholz. Das Auswärtigen Amt finanziert das Sekretariat mit 600 000 Euro für zunächst sechs Monate. Deutsche Diplomaten äußern sich erfreut, dass der Syrische Nationalrat, der größte Zusammschluss oppositioneller Kräfte, sich beim Treffen der Arbeitsgruppe klar zu Martkwirtschaft und Korrruptionsbekämpfung bekannt hat.
Beide von Deutschland geförderten Aktiviäten, die klandestinen und die öffentlichen, passen zusammen: Ob die Pläne der Oppositionellen für ein demokratisches Syrien umgesetzt werden können, hängt wesentlich daran, ob der wirtschaftliche Wiederraufbau allen Syreren Chancen bietet.
Ob die Berliner Transformationskonzepte aber am Ende überhaupt zum Zuge kommen, hängt nicht zuletzt davon ab, wieviel Hass bis zu Assads erwartbarem Abgang noch freigesetzt wird. Alle Beteiligten, heißt es, sind sich dessen bewußt.Dass Deutschland sich diesmal aufrichtig bemüht hat, werden sie aber in jedem Fall nicht vergessen.

 

Abbas: „Nie wieder bewaffneter Kampf!“

Am letzten Donnerstag konnte ich (zusammen mit meiner Kollegin Alice Bota) in Berlin den Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde, Mahmud Abbas, interviewen. Abbas drängte auf eine Fortsetzung der Sondierungsgespräche mit Israel. Heute sieht es so aus, als seien diese gescheitert.

Das war, offen gestanden, zu erwarten gewesen. Unser Interview konzentriert sich denn auch auf Abbas‘ Einschätzung der Wirkung des arabischen Frühlings auf die Palästinenser, die Chancen des politischen Islams, auf seine UN-Initiative, seine Bilanz des „bewaffenten Kampfes“ und die Frage von Heimatgefühlen und Rückkehrrecht. Abbas wirkt aufgeräumt an diesem Donnerstag, aber auch ein wenig melancholisch.

Aus der ZEIT von heute, Nr. 5, S. 8

DIE ZEIT: Herr Präsident, wir haben 2011 ein Umbruchjahr für die arabischen Länder erlebt. Verstehen Sie, dass Ihr israelischer Nachbar mit Angst auf die neue Lage blickt?
Mahmud Abbas: Ich verstehe die Angst der Israelis sehr gut, es ist eine sehr schwierige Situation für ihr Land. Aber was heute in den arabischen Ländern passiert, sollte Israel zur Eile drängen, mit uns Frieden zu schließen. Keiner weiß, was später kommt. Keiner weiß, was der Arabische Frühling bringen wird.
ZEIT: Für die Palästinenser hat der Arabische Frühling zunächst nur Hoffnung gebracht. Was ist daraus geworden?
Abbas: Was die palästinensische Sache angeht, hat das revolutionäre Jahr keine Veränderung gebracht. Aber bitte verstehen Sie, dass ich mich nicht in die inneren Angelegenheiten unserer Nachbarländer einmischen kann, weil dort viele palästinensische Flüchtlinge leben. Ich will deren Wohl nicht gefährden.
ZEIT: Sind die Palästinenser am Ende die großen Verlierer des Arabischen Frühlings?
Abbas: Wenn die Menschen auch bei uns einen Regimewechsel wollen, können sie den jederzeit haben, denn wir glauben an Demokratie. Ich würde mich mit Vergnügen dem Volkswillen beugen. Bei den Demonstrationen im Westjordanland und in Gaza gab es aber nur drei Slogans: »Nieder mit der Besatzung«, »Nein zur nationalen Teilung« und »Ja zur Versöhnung zwischen den palästinensischen Fraktionen Fatah und Hamas«.
ZEIT: Im Mai soll es Wahlen geben. Sie stehen nicht für eine weitere Amtszeit zur Verfügung?
Abbas: So habe ich es gesagt, und ich stehe dazu. Ich hoffe sehr, dass wir am 4. Mai unsere Wahlen abhalten können. Dann werde ich abtreten.
ZEIT: Voraussetzung dafür ist die Versöhnung zwischen Ihrer Fatah und Hamas in Gaza, und die kommt nicht voran.
Abbas: Die Versöhnung kommt sehr wohl voran. Es gibt zwischen dem Westjordanland und Gaza keine Auseinandersetzungen mehr. In Gaza sind noch militante Gruppen jenseits von Hamas aktiv, die manchmal Raketen auf Israel schießen. Hamas versucht, sie unter Kontrolle zu bringen. Wir alle wollen Wahlen als Abschluss der Versöhnung. Wer danach regiert, das ist allein Sache des palästinensischen Volkes.
ZEIT: In der arabischen Welt erleben wir Wahlsiege des politischen Islams. Droht das auch Palästina?
Abbas: Hamas ist wichtig, aber ich glaube nicht, dass die Palästinenser mehrheitlich für islamische Parteien stimmen werden. Wir sind sehr viel säkularer als unsere Nachbarn.
ZEIT: Das ist die Weltsicht Ihrer Generation, der säkularen Nationalisten, die jetzt bald abtreten wird.
Abbas: Die Gesprächsbereitschaft der Palästinenser hängt nicht an meiner Person. Der Friedensprozess ist nicht die private Politik von Mahmud Abbas. Er ist in der Fatah tief verwurzelt. Unsere gesamte Führung ist moderat und säkular.
ZEIT: In der Hamas sind die Moderaten auf dem Rückzug. Der eher pragmatische Chef Chaled Meschal, Ihr Partner bei den Versöhnungsgesprächen, will nicht wieder antreten. Sie befürchten nicht, dass auch in Palästina eine neue, radikalere Generation die Macht übernimmt?
Abbas: Ich hoffe, dass es nicht so kommt.
ZEIT: Im Herbst haben Sie bei den Vereinten Nationen die Aufnahme Palästinas als Vollmitglied beantragt. Warum dieser Schritt?
Abbas: Ein Jahr zuvor hatten wir versucht, die Verhandlungen wiederzubeleben. Das scheiterte trotz der Bemühungen des Quartetts, bestehend aus den USA, der EU, Russland und den Vereinten Nationen. Wir hatten angekündigt, uns in diesem Fall an die UN zu wenden. An wen auch sonst? Aber das bedeutet doch nicht, dass wir nicht mehr verhandeln wollen! Alle Kernprobleme eines Friedensschlusses – Grenzverlauf, Sicherheitsfragen, der Status Jerusalems und die Flüchtlingsfrage – müssen natürlich zwischen uns und den Israelis direkt besprochen werden. Nur so wird es Frieden geben. Aber wir mussten Bewegung in den Prozess bringen, denn der war seit dem Amtsantritt von Benjamin Netanjahu blockiert.
ZEIT: Die Israelis betrachten Ihren Gang zu den UN als einseitigen Schritt.
Abbas: Wieso? Israel verletzt durch seine Siedlungspolitik internationale Verpflichtungen, die es selbst unterschrieben hat. Israel stellt sich damit gegen die gesamte internationale Gemeinschaft. Wir aber suchen internationale Unterstützung für unsere Anerkennung.
ZEIT: Die israelischen Behörden haben Ihnen kürzlich ein Visum ausgestellt, mit dem Sie das Westjordanland verlassen können und das nur noch zwei Monate gültig ist. Ist das die Strafe für den Gang zu den UN?
Abbas: Ich sehe darin eine Demütigung. Ich hatte früher einen VIP-Pass. Jetzt bekomme ich einen vorläufigen Erlaubnisschein mit dem Vermerk, er sei »trotz Sicherheitsbedenken« ausgestellt worden. Man sagt, ich führe einen »terroristischen, diplomatischen und juristischen Krieg« gegen ­Israel. Was soll ich machen? Ich lebe unter der Besatzung. Ich hoffe, dass die Israelis ihre Einstellung ändern, denn ein Scheitern unserer Gespräche wäre ein Desaster für die ganze Region.
ZEIT: Ist ihr UN-Projekt gescheitert? Ihr Antrag hatte im Sicherheitsrat keinen Erfolg, und das Verhältnis zu Israel ist noch schwieriger ­geworden.
Abbas: Das ist noch nicht vom Tisch. Wir forcieren unser Anliegen derzeit nur deshalb nicht, weil wir neuen Gesprächen eine Chance geben wollen. Aber wir werden bei den UN weiter­machen, wenn es keine ernsthafte Gespräche mit Israel gibt.
ZEIT: Was sind Ihre Forderungen?
Abbas: Die Israelis müssen endlich Vorschläge bezüglich der Grenzen und der Sicherheit auf den Tisch legen, und sie müssen während der Verhandlungen den Siedlungsbau beenden. Das sind keine einseitigen Forderungen der Palästinenser. Das Nahostquartett verlangt das Gleiche. Wenn es dazu nicht kommt, werden sich am 29. Januar unter der Führung von Katar die Außenminister von 18 arabischen Staaten treffen, um die nächsten Schritte zu besprechen.
ZEIT: Hat die Zweistaatenlösung überhaupt noch eine Chance?
Abbas: Ich fürchte, sie wird seit Netanjahus Amts­antritt vor zwei Jahren zu­sehends unwahrschein­licher. Wir haben den historischen Fehler gemacht, dem Teilungsplan von 1947 nicht zuzustimmen. Darauf folgten Krieg und Vertreibung, und das paläs­tinensische Gebiet schrumpf­te weiter. Der Krieg 1967 brachte die Besatzung. Seither wachsen die Siedlungen und machen einen funktio­nierenden, zusammenhän­gen­den Staat zunehmend unmöglich. Es wird immer schwerer, zu unterscheiden, was unser Land ist und was ihres. Wenn es so weitergeht, werden sie eines Tages in meinem Büro in Ramallah einen Vorposten errichten.
ZEIT: Was spricht für Sie gegen die Einstaaten­lösung, also ein Israel, in dem die Palästinenser eines Tages die Mehrheit stellen würden?
Abbas: Wir wollen das nicht. Wir streben zwei Staaten an, Seite an Seite, in Stabilität und ­Sicherheit. Und wir beanspruchen nicht mehr als 22 Prozent des historischen Palästinas. In dem Moment, wo wir eine Einigung mit den Israelis verkünden, werden 57 islamische und arabische Staaten Israel anerkennen. So steht es in der arabischen Friedensinitiative. Israel kann dabei so viel gewinnen! Aber die Führung in Jerusalem sieht das nicht. Wir sind sogar bereit, die Nato auf unserem Territorium stationieren zu lassen! Ich bin mir bewusst, dass die Sicherheit in der Region für Israel eine hoch sensible Frage ist, und ich wollte mit dem Nato-Vorschlag ein Zeichen setzen. Ehud Olmert, der frühere israelische Premier, hat diesen Vorschlag akzeptiert. Netanjahu hat Nein dazu gesagt. Ich habe ihm ent­gegengehalten, dass die Nato seine Alliierte ist, nicht unsere.
ZEIT: Die Israelis sind skeptisch, weil aus Gaza immer noch Raketen auf Israel fliegen.
Abbas: Wenn wir die Versöhnung mit Hamas abschließen, wird es an dieser Front ruhig werden.
ZEIT: Können Sie das garantieren?
Abbas: Ich garantiere dafür. Ich habe in meiner Amtszeit bewiesen, dass ich Wort halte. In den letzten fünf Jahren hat es im Westjordanland keinen einzigen Vorfall gegeben, der Israels Sicherheit betrifft. Die israelischen Politiker verleugnen das. Aber die israelischen Generäle und Geheimdienstler werden Ihnen sagen: Hut ab vor Abu Masen, er macht einen exzellenten Job!
ZEIT: Vor drei Jahren hatten Sie mit Ehud ­Olmert alles bis ins Kleinste verhandelt. War es ein Fehler, dass kein Friedensvertrag abgeschlossen wurde?
Abbas: Ich stimme Ihnen zu: Wir hatten alle Kernprobleme besprochen. Wir gingen sogar weiter: Ein Vertrag hätte das Ende des Konflikts bedeutet. Wir waren einem Abschluss sehr nahe, doch dann musste Olmert aus innenpolitischen Gründen zurücktreten. Es folgten Wahlen, und Netanjahu kam ins Amt. So haben beide Seiten eine große Chance verpasst. Wir haben uns geschworen, nie wieder eine Gelegenheit verstreichen zu lassen.
ZEIT: Sie sagen, die Regierung Netanjahu zeige kein Interesse an Gesprächen. Warum dann überhaupt weiterverhandeln?
Abbas: Wir haben keine andere Wahl. Wir werden nie wieder zum bewaffneten Kampf zurückkehren! Niemals, niemals! Es wird nur fried­lichen Widerstand gegen die Besatzung geben.
ZEIT: Ist das Ihre Folgerung aus der blutigen »zweiten Intifada« mit etlichen Selbstmordattentaten zwischen 2000 und 2005?
Abbas: Das darf sich nie wiederholen. Wir wollen Frieden. Wir übernehmen deshalb Ver­antwortung für die Sicherheit Israels: Fünf Jahre ohne jeden Zwischenfall! Warum versteht die andere Seite nicht, was es bedeutet, dass wir ­Palästinenser de facto die israelischen Grenzen bewachen?
ZEIT: Sie schließen also eine neue Welle der Gewalt aus?
Abbas: Ich sehe sie derzeit nicht, aber wenn die Menschen verzweifelt sind, kann die Lage sehr schwierig werden.
ZEIT: Es scheint, als beendeten Sie Ihre politische Karriere mit einem pessimistischen Gefühl.
Abbas: Unglücklicherweise ist das wohl so. Ich habe fünfzig Jahre diesem Kampf um eine Heimat gewidmet. Nun bin ich ein alter Mann.
ZEIT: Wo ist für Sie Heimat?
Abbas: Heute ist Ramallah meine Heimat. Aber ich habe noch Erinnerungen an Safed, die Stadt im Norden Israels, aus der wir wegen des Krieges 1948 fliehen mussten. Danach war ich nur einmal wieder da. Das war 1995. Ich hatte zehn Minuten, es war sehr emotional. Schließlich war es meine Stadt, dort stand das Haus meiner Familie. Ich habe gelernt, die Geschichte zu akzeptieren, aber es ist schwierig. Ich war 13, als wir weggingen. Ich kann mich an alles erinnern, Häuser, Geräusche, Gerüche, an jeden Stein.
ZEIT: Werden die palästinensischen Flüchtlinge in den Lagern Ihre Sicht teilen und verzichten?
Abbas: Ich spreche nur für mich, nicht für die fünf Millionen Flüchtlinge. Aber ich weiß, dass viele von ihnen auf ihr Rückkehrrecht verzichten würden. In dem arabischen Friedensplan haben wir festgeschrieben, dass wir eine einvernehmliche Lösung des Flüchtlingsproblems wol­len. Kann ich den Israelis denn etwas aufzwingen? Natürlich nicht! Wir hatten mit Olmert ein Übereinkommen erzielt. Mancher fürchtet immer noch, die Palästinenser würden nach einem Friedensabkommen weitere Ansprüche stellen. Darum habe ich das Ende des Konflikts und damit das Ende jeglicher Forderungen in die Verhandlungen aufgenommen. Niemand hat dann noch das Recht, weitere Ansprüche zu stellen. Ich will nicht zurück nach Safed!

Die Fragen stellten Alice Bota und Jörg Lau

 

„Der Euro ist kein Ziel“

Mit meiner Kollegin Alice Bota habe ich die Außenminister Tschechiens und Schwedens zum Gespräch über Europas Krise gebeten.  Aus dem Europa-Schwerpunkt der ZEIT von morgen, 8. Dezember 2011, S. 3.  Ort des Geschehens: Bonn, am Rande der Afghanistan-Konferenz.

Nils Daniel Carl Bildt, geboren 1949 in Halmstad, stammt aus einem dänischen Adelsgeschlecht und einer schwedischen Politikerdynastie. Bildt war als Journalist tätig, ehe er mit 24 Jahren Sekretär der Konservativen Partei wurde. Von 1991 bis 1994 war er Ministerpräsident. 1995 wurde er Balkan-Vermittler, 2006 kehrte er in die schwedische Politik zurück.

Karl von Schwarzenberg, geboren 1937 in Prag, stammt aus einer der ­ältesten Adelsdynastien Europas. 1948 verließ seine Familie enteignet die Tschechoslowakei. 1990 kehrte der Fürst zurück – als rechte Hand von Václav Havel. Seitdem macht Schwarzenberg Politik – seit zwei Jahren mit seiner Partei TOP 09.

Zwei Außenminister, die es auf drei Staatsbürgerschaften bringen und eine Stunde lang in zwei Sprachen über die Zukunft Europas reden, mal auf Deutsch, dann wieder auf Englisch, zwischendurch Nachrichten aus Schweden und Tschechien – geht es noch europäischer? Mitten im Interview schreibt Schwarzenberg etwas auf einen gelben Zettel und schiebt ihn den Journalisten zu. Darauf steht: »Im dritten Monat ist es sinnlos, vor der Gefahr zu warnen, schwanger zu werden.« Auch so kann man auf das blicken, was wir derzeit erleben.

 

DIE ZEIT: Herr Bildt, Herr Schwarzenberg, erleben Sie die heutige europäische Krise als dramatischsten Moment in Ihrem politischen Leben?
Karl Schwarzenberg: Dramatischer war für mich November/Dezember 1989. Aber es gibt keinen Zweifel, dass dies eine sehr ernste Situation ist. Wobei wir zwei ja in der merkwürdigen Lage sind, zwar begeisterte Europäer, aber beide nicht Mitglieder der Euro-Zone zu sein.
Carl Bildt: Auch aus meiner Sicht war 1989 am dramatischsten. Damals musste Europa neu anfangen, und wir wussten nicht, ob es gut geht.
ZEIT: Können Sie also als Mitglieder zweier Nicht-Euro-Länder etwas mit Angela Merkels Satz anfangen: »Wenn der Euro scheitert, scheitert Europa«?
Schwarzenberg: Ich halte das für übertrieben. Der Euro ist zwar ein wichtiges Schlüsselprojekt, aber das europäische Projekt ist ein politisches, kein wirtschaftliches. Der Euro ist ein Instrument, kein Ziel. Auch wenn es den Euro nicht gäbe, würde Europa in veränderter Form überleben. Aber wir erleben zweifellos einen existenziellen Moment.
Bildt: Ich stimme Karl zu – wenn der Euro scheitert, dann wird es massive politische Folgen haben. Es wäre eine andere EU als heute. Aber es wäre immer noch eine. Allerdings bin ich mir sicher, dass in fünf Jahren der Euro eine stärkere Währung auf dem Weltmarkt sein wird als der Dollar.
ZEIT: Der jetzige EU-Gipfel gilt als Wegscheide für Rettung oder Zerfall der Euro-Zone.
Bildt: Ich halte die Erwartung an den Gipfel für übertrieben. Mir scheint akut fast wichtiger, was die Italiener an Reformen vorgestellt haben. Auf dem EU-Gipfel wiederum wird über das Langfristige beraten – welche Vertragsänderungen sind notwendig, damit das alles nicht wieder passiert?
Schwarzenberg: Ich bin bei den beabsichtigten Vertragsänderungen skeptisch. Wollen wir wirklich in einem Moment, da das Ansehen des europäischen Projekts an einem Tiefpunkt ist, neue Abstimmungen in den einzelnen Ländern wagen? Das finde ich sehr kühn.
ZEIT: Deshalb will Deutschland ja unbedingt die Vertragsänderungen: um sicherzugehen, dass der Weg der Reformen nicht verlassen wird.
Schwarzenberg: Es ist ein deutsches Dogma, wie es Morgenstern in seinem Spottgedicht ausgedrückt hat, »dass nicht sein kann, was nicht sein darf«. Probleme durch neue Vorschriften zu lösen, das ist festgefügt in deutschem Denken. Leider hält sich die Wirklichkeit nicht immer an die Vorschriften.
Bildt: Es wäre schon toll, wenn die Regeln, die wir bereits haben, beachtet würden. Wäre das der Fall gewesen, hätten wir uns die Krise erspart.
Schwarzenberg: So ist es! Weiter„„Der Euro ist kein Ziel““

 

Deutschland braucht eine andere Nahostpolitik

Mein Stück aus der ZEIT von heute, S.4:

Eigentlich ist es ein überraschend trockener Satz für ein Herzstück der deutschen Nachkriegspolitik. Vielleicht muss das so sein, weil dieses Thema so schnell überwältigt. Der ganze Horror, die Millionen Toten, der Hass – alles transformiert und aufgehoben in einer ziemlich bürokratischen Formel: Die Sicherheit des jüdischen Staates sei »Teil der deutschen Staatsräson«. Der Satz war einmal ein Wall gegen den israelkritischen Mainstream hierzulande. Angela Merkel sagt ihn immer wieder, und die Opposition nickt dazu, mittlerweile bis hinein in die Partei Die Linke. Die Koppelung von Deutschlands Staatsräson und Israels Sicherheit als Konsequenz des Holocaust ist mittlerweile selbst Mainstream geworden – eine der wenigen unstrittigen Maximen der deutschen Außenpolitik.

Doch was so evident klingt, ist in Wahrheit so offensichtlich nicht. Was die Pflicht zur Solidarität mit Israel heute gebietet, ist fraglich geworden. Noch in dieser Woche kann es im Sicherheitsrat zur Abstimmung über die Frage kommen, ob Palästina in die Vereinten Nationen aufgenommen werden soll. Zugleich kocht der Atomkonflikt mit Iran hoch, und selbst der besonnene israelische Präsident Schimon Peres sagt, ein Krieg mit Teheran sei »wahrscheinlicher geworden« als eine diplomatische Lösung.
Zwei Prioritäten prägen die deutsche Politik gegenüber Israel. Der jüdische Staat muss gegen das antisemitische Regime in Iran geschützt werden, das nach dem neuesten IAEO-Bericht ein klandestines Atomwaffenprogramm verfolgt. Und die Zweistaatenlösung bleibt die einzige Hoffnung auf einen gerechten und dauerhaften Frieden im Nahen Osten. Folgt aus dem Ersten nun, dass man die Jerusalemer Gedankenspiele über einen Krieg gegen Iran unterstützen sollte? Und aus dem Zweiten, dass Deutschland gegen die Aufnahme Palästinas in die Vereinten Nationen votieren muss?

Die deutsche Politik gegenüber Iran und Palästina muss sich auf einen neuen Stand bringen. Es gibt eine verborgene Parallele zwischen beiden Konflikten: Sie eskalieren, weil je eine Seite das Vertrauen in die diplomatische Lösung verloren hat. Israel schlägt ja gerade darum Lärm, weil es angesichts der neuen Berichte nicht glaubt, dass Sanktionen und Verhandlungen Irans atomare Bewaffnung verhindern. Die Palästinenser wiederum glauben nicht mehr, dass die hergebrachte Nahostdiplomatie ihnen die Staatlichkeit bringt, die man ihnen schon so lange versprochen hat.
Die israelische Sorge, dass das Teheraner Regime sich mit der Bombe als Hegemonialmacht unangreifbar machen will, ist berechtigt. In dieser Sorge liegt aber auch das Zugeständnis einer gewissen Rationalität. Denn einem Regime, dem an Selbsterhaltung und Machtentfaltung liegt, kann man durch Eindämmung, Isolation und Abschreckung seine Grenzen aufzeigen.

Iran steht schon jetzt nicht gut da. Seine Wirtschaft ächzt unter den Sanktionen. Die Führung ist gespalten, die Jugend entfremdet. Das Land ist mit der Türkei über Kreuz, mit den Saudis sowieso. Demnächst könnte es Assads Syrien verlieren und damit auch einigen Einfluss auf die radikalislamischen Milizen Hamas und Hisbollah. Die Welle des Freiheitswillens in der Region hat den tyrannischen Charakter des Regimes abermals offengelegt.
Iran ist isoliert und verwundbar. Konsequentere Sanktionen wären für das angeschlagene Regime gefährlicher als ein Militärschlag, der alle – auch die Opposition – in die Solidarität mit den Herrschenden zwingt. Gerade Deutschland hat noch viel Spielraum bei weiteren Sanktionen. Im letzten Jahr aber stieg das Handelvolumen mit Iran sogar um 11,6 Prozent auf über 2,6 Milliarden Euro. Deutsche Firmen sind im Energiesektor aktiv, der Lebensader des Regimes. Die Bundesregierung kann das einschränken, es würde Iran schmerzen. Sind wir bereit, die Kosten zu schultern? Sie wären gewiss geringer als die eines regionalen Krieges.

Man kann die Zweifel der Israelis am Ernst der bisherigen Irandiplomatie verstehen. Sie werden von ihren Kriegsplänen nicht lassen, solange diese fortdauern. Säbelrasseln kann der Diplomatie sogar helfen. Die iranische Bedrohung darf aber kein Anlass sein, Verhandlungen mit den Palästinensern zu meiden. Im Gegenteil, sie ist ein Grund mehr, den Konflikt zu beenden, mit dem der iranische Präsident so gern zündelt.

Die israelische Regierung erwartet Solidarität von Deutschland. Doch in Berlin machen sich Zweifel breit – bis hinauf in die siebte Etage des Kanzleramts, wo Angela Merkel residiert –, ob Solidarität mit dieser Regierung nicht immer öfter in Widerspruch gerät zur Solidarität mit Israel. In der letzten Woche ist – überdeckt von der Euro-Krise – etwas Bemerkenswertes geschehen: Angela Merkel hat durch ihren Sprecher Steffen Seibert einen sofortigen Stopp der israelischen Siedlungsaktivitäten gefordert. Der Siedlungsbau in Jerusalem und dem Westjordanland sei »völkerrechtswidrig« und »durch nichts zu rechtfertigen«. Noch keine deutsche Regierung hat gegenüber Israel derart drastische Worte gewählt. Die Öffentlichkeit sieht nur einen Bruchteil der Verbitterung. Merkel kann gar nicht zeigen, wie enttäuscht sie wirklich von den israelischen Freunden ist. Das ganze Jahr hat sie gedrängt, den Arabischen Frühling als Chance für den Friedensprozess zu begreifen. Im April bereits hat sie sich gegen die palästinensische UN-Initiative festgelegt, um Israel den Rücken zu stärken für neue Verhandlungen. Heraus kam: nichts.

Seiberts Äußerungen zeigen, dass die Regierung in der Klemme steckt. Die Palästinenser hatten kurz zuvor die Abstimmung zur Aufnahme in die Unesco gewonnen, die Kulturinstitution der Vereinten Nationen. Eine überwältigende Mehrheit hatte dafür gestimmt, trotz der Drohung der Obama-Regierung, die Beitragszahlungen an die Unesco einzustellen. Sehenden Auges stimmten 107 Nationen trotzdem für Palästinas Aufnahme. Deutschland stand mit den USA, Kanada und zehn kleineren Nationen zu Israel. Die Briten enthielten sich, Frankreich stimmte mit der Mehrheit. Die deutsche Treue zur israelischen Regierung wurde durch Netanjahu düpiert, der umgehend Strafmaßnahmen verkündete: die Einbehaltung palästinensischer Steuereinnahmen und 2000 neue Wohneinheiten in Siedlungen. Damit war es amtlich: Der Siedlungsbau richtet sich gegen die palästinensische Selbstbestimmung, sein Ziel ist die Frustration des Wunsches nach einem unabhängigen Staat Palästina. Die deutsche Regierung aber steht da als Geisel einer Politik, die sie für falsch und selbstzerstörerisch hält. Nun hat sie dies erstmals in aller Deutlichkeit zu Protokoll gegeben.

Angela Merkel hat immer wieder gesagt, ihr vertrauensvolles Verhältnis zu Israel ermögliche das offene Wort im Stillen. Weil sie in Israel gehört werde, sei sie für beide Seiten eine Partnerin, auf die es ankommt. Jetzt steht die Glaubwürdigkeit dieser Politik der Zurückhaltung infrage. Und es sind die israelischen Partner, die sie untergraben.
Es ist möglich, dass die jüngste Iran-Krise bald schon all dies wieder überdecken wird. In ihr steckt für Deutschland wie für Israel neben aller Gefahr nämlich auch die Verlockung, die unangenehmen Differenzen hintanzustellen und angesichts der Iran-Krise die Palästina-Diplomatie auf Stand-by zu schalten. So hat man es schließlich schon öfter gemacht. Seit dem Oslo-Abkommen von 1993 sind immer wieder Terror, Krisen und Kriege dazwischengekommen, die allen Seiten gute Gründe lieferten, jetzt gerade wieder einmal nichts zu tun.
Die Welt, in der man sich das leisten konnte, ist allerdings untergegangen. In diesen Tagen stirbt die gefährliche Illusion, dass die drei Konflikte, die die Zukunft der Region bestimmen, gegeneinander ausgespielt werden können.

Das Ringen um die Zweistaatenlösung zwischen Palästinensern und Israelis, die Konfrontation Irans mit der Weltgemeinschaft und der Kampf der Araber gegen ihre Autokraten – nun kommt alles auf einmal auf den Tisch: Palästina drängt auf Anerkennung in den UN. Der arabische Freiheitskampf fokussiert sich auf Israels Nachbarn Syrien. Israel wiederum debattiert über einen Präventivschlag gegen Irans Atomprogramm.

Die simultane Zuspitzung der drei Konflikte ist kein Zufall. Es gibt zahlreiche Rückkopplungseffekte: Die Palästinenser sind beflügelt durch den demokratischen Aufbruch und frustriert durch die obstruktive Haltung Israels im Friedensprozess. Israel wiederum ist durch den Verlust an Stabilität in der Nachbarschaft wie gelähmt, fürchtet seine völlige Isolation und treibt sie dabei doch selbst voran. Das iranische Regime sieht mit Schrecken, dass die arabischen Revolutionen seine Einflusssphäre in Syrien bedrohen.
Es ist ein Fehler, in dieser Lage die Energie Hunderter westlicher Diplomaten auf die Verhinderung der UN-Aufnahme Palästinas zu verschwenden. Am Ende wird wenigstens in der Generalversammlung eine überwältigende Mehrheit für Abbas stimmen. Die Unesco-Abstimmung war die Generalprobe dafür. Statt sich dagegenzustemmen, sollte man den historischen Moment nutzen. Die Palästinenser haben sich unter Abbas vom Steinewerfen und von Selbstmordattentaten verabschiedet und setzen auf Diplomatie. Haben sie nicht recht damit, aus dem festgefahrenen Muster der Friedensverhandlungen ausbrechen zu wollen? Ihre »Autonomiebehörde« droht zum Vollstrecker einer endlosen Besatzung zu verkommen.

Die konventionelle Nahostpolitik mit ihren »Quartett-Erklärungen«, Annäherungstreffen und Friedensplänen ist gescheitert, auch wenn die Beteiligten sich weigern, das anzuerkennen. Mit dem Antrag bei den UN hat Abbas das Schema hinter sich gelassen, in dem ein paternalistisches »Quartett« aus USA, EU, UN und Russland zwischen einer Besatzungsmacht und einer Autonomiebehörde zu vermitteln suchte. Ab jetzt spricht ein Fast-schon-Staat mit einem Nachbarstaat. Die UN-Aufwertung soll Verhandlungen nicht ersetzen, sondern eine neue Balance ermöglichen.

Abbas hat begonnen, die Lebenslügen der eigenen Seite abzuräumen. Im israelischen Fernsehen hat er kürzlich gesagt, die Ablehnung des Teilungsplans von 1947 sei ein Riesenfehler gewesen und ebenso die Gewaltorgie der »Zweiten Intifada«. Es sei klar, dass Israel keine riesigen Mengen palästinensischer Flüchtlinge aufnehmen könne. Jedes Verhandlungsergebnis mit Israel bedeute »das Ende des Konflikts«. Abbas hat das Interview auch in den palästinensischen Gebieten ausgestrahlen lassen – »zu erzieherischen Zwecken«. Die Palästinenser verlassen die Opferrolle. Sie übernehmen Verantwortung für ihre Geschichte.

Es ist falsch, Abbas durch Zurückweisung seiner UN-Initiative zu isolieren. Er muss im Gegenteil gestärkt werden gegen die Extremisten der Hamas, die in einem spektakulären Deal mit der Regierung Netanjahu 1027 Gefangene freipressen konnten. Mit Hamas reden, Abbas bestrafen? Hamas triumphiert im innerpalästinensischen Kampf. Seht ihr, Gewaltverzicht lohnt nicht, hält sie Abbas entgegen: Sie werden euch nie akzeptieren. Eure UN-Aktion wird ein Schuss in den Ofen und damit ein Beweis für unsere Philosophie der Gewalt. Hamas recht zu geben ist gewiss nicht gut für die Sicherheits Israels.

Was tun? Deutschland hat sich früh festgelegt. Nach Merkels Vorpreschen im April kann man jetzt nicht für die Aufnahme Palästinas stimmen. Ein solcher Politikwechsel wäre nicht zu erklären. Aber gilt das auch für eine Enthaltung?

Eine deutsche Enthaltung bei der UN-Abstimmung über Palästina, koordiniert mit den anderen Europäern, wäre kein Ausdruck der Unentschiedenheit, sondern könnte der erste Schritt zu einer glaubwürdigeren und gerechteren Nahostpolitik sein. Ohne ein Ende der Besatzung und einen unabhängigen Palästinenserstaat als Ergebnis neuer Verhandlungen beider Seiten kann niemand dauerhaft Israels Sicherheit garantieren – auch die deutsche Staatsräson nicht. Solidarität mit Israel bedeutet darum nicht, dieser Regierung zu folgen, was auch immer sie tut, sondern zu fördern, was einer Konfliktlösung hilft.

Eine neue Nahostpolitik muss härter gegen Iran vorgehen, um Israel zu schützen; sie muss kritischer gegenüber der israelischen Regierung sein; und sie muss die arabischen Freiheitsbewegungen entschiedener und mutiger unterstützen, die palästinensische Variante eingeschlossen.

 

Warum Assad vor einer Intervention in Syrien warnt

Mein Kommentar aus der ZEIT von morgen zur Eskalation in Syrien und den Befürchtungen Assads:

Ein Krieg, den niemand will, beginnt die politische Fantasie heimzusuchen. Merkwürdigerweise hat einer ihn ins Gespräch gebracht, der am wenigsten Interesse daran haben sollte – der syrische Präsident Assad. Der Westen werde »den Druck erhöhen«, sagte er dem Londoner Sunday Telegraph. Eine Intervention in Syrien aber würde »ein Erdbeben auslösen. Wollen Sie ein weiteres Afghanistan, wollen Sie Dutzende Afghanistans?«
Warum warnt Assad vor etwas, das der Nato-Generalsekretär Rasmussen ausschließt? Syrien gilt als potenzieller Treibsand ethnisch-religiöser Konflikte. Ein UN-Mandat für eine Intervention ist unwahrscheinlich. Israels Sicherheit will niemand riskieren, Syrien könnte über die radikalen islamischen Milizen Hisbollah und Hamas Ärger machen. Zudem steckt der Nato Libyen noch in den Knochen. Sie ist heilfroh über den zäh errungenen Sieg und zieht sich nun zurück, um nicht in einen Bürgerkrieg gezogen zu werden. Ein weiterer Krieg in Nahost? Undenkbar.
Wirklich? Auch die Kriege im Kosovo, in Afghanistan und in Libyen waren einst undenkbar. Paul von Maltzahn, ehemaliger deutscher Diplomat in Damaskus, sieht das syrische Regime unter Schock, seit die Bilder vom Tod Gadhafis gezeigt haben, dass die arabischen Revolten auch für die Herrscher tödlich enden können. »Vielleicht hat der syrische Präsident aber auch einen realistischeren Blick auf westliche Interventionen als wir selber«, gibt zudem Markus Kaim zu bedenken, sicherheitspolitischer Experte des Berliner Thinktanks SWP. Die Eskalation in Syrien könnte die Welt in die Lage bringen, »nicht länger zusehen zu können« – wenn die Bekenntnisse zur »Schutzverpflichtung«, die in Libyen das UN-Mandat begründeten, nicht völlig heuchlerisch wirken sollen.
Für die syrische Opposition ist der Libyen-Krieg zweischneidig: Man hofft, das Prinzip der »Schutzverantwortung« könnte eine Intervention geboten erscheinen lassen, ahnt aber, dass die politisch-militärische Erschöpfung der Nato eine Wiederholung unwahrscheinlich macht. Umgekehrt gilt: Libyen ist zwar kein Modell künftiger Interventionen. Aber wenn es welche geben wird, werden sie humanitär begründet sein.
Assad sieht offenbar, dass ein Punkt kommen kann, an dem auch die Furcht vor dem Chaos, das eine Intervention auslösen könnte, ihn nicht schützen kann. Er hat sich durch brutalste Repression den Weg zur Reform abgeschnitten. Die Opposition ist nach mehr als 2000 Toten nicht gesprächsbereit. Russen und Chinesen werden zwar so bald keine In­ter­ven­tion mehr durch Enthaltung im Sicherheitsrat ermöglichen. Sie fühlen sich durch die weite Auslegung der Libyen-Resolution getäuscht. Doch Russland hat in Syrien eigene strategische Interessen, die wichtiger sind als das Regime: eine Marinebasis am Mittelmeer, einen erstklassigen Kunden russischer Waffenproduktion und einen Einflusshebel in Nahost. Jedes Post-Assad-Arrangement wird darum nur in Übereinkunft mit Moskau zu haben sein.
So weit ist es noch nicht. Aber auch für Russland kann der Moment kommen, in dem man sich die Patenschaft für den »Schlächter von Homs« nicht mehr leisten kann.

 

Deutsche Ohnmacht, deutsche Übermacht

Mein „Politisches Feuilleton“ für das Deutschlandradio (hier hören) von heute:

Eine Tatsache, die man dieser Tage über die Macht lernen kann, ist, dass sie nicht unbedingt da ist, wo man sie vermutet. Deutschland strebt einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen an, einen Platz am weltpolitischen Tisch der Erwachsenen. Es scheinen sich aber Zweifel eingeschlichen zu haben, ob das noch zeitgemäß ist. Zu Recht.

Denn dahinter steckt ein überlebtes Konzept von deutscher Macht und Bedeutung. Man kann das sehen, seit Deutschland ein sogenanntes „nicht ständiges Mitglied“ im Sicherheitsrat ist – also auf Zeit und mit beschränkten Rechten. Die Erfahrung dieses Jahres ist ernüchternd.

Erst haben die Deutschen sich bei der Libyen-Entscheidung an die Seite Chinas und Russlands gestellt, und wurden dafür von den alten Verbündeten kritisiert. Diese Deutschen, so ätzten Amerikaner, Briten und Franzosen, braucht wirklich niemand im Sicherheitsrat. Jüngst hat Deutschland dann versucht, eine scharfe Resolution gegen Syrien zu forcieren, um dem Diktator Assad in den Arm zu fallen. Prompt scheiterte die Sache nun an Russen und Chinesen. Und dabei hatte der Außenminister die doch zu neuen strategischen Partnern der Deutschen erklärt.

Dann ist da noch die Sache mit Palästina: Deutschland stimmt gegen die Aufnahme des Landes in die UNO, obwohl wir doch für Palästinas Unabhängigkeit eintreten. Wir tun das für Israel. Plausibel machen kann man das niemandem.

Nach fast einem Jahr im Sicherheitsrat weiß keiner, wofür Deutschland warum steht. Und warum es unbedingt dabei sein will.

Es zeigt sich ein merkwürdiges Paradox: Deutschland agiert ohnmächtig und widersprüchlich im machtvollsten Gremium der Welt. Zugleich hat Deutschland in der internationalen Politik mehr Macht und Bedeutung, als seinen Politikern manchmal lieb ist. Die Macht aber ist nicht da, wo man sie vermutet, und sie äußert sich nicht durchs Abstimmungsverhalten am East River in New York. Deutschland ist zu klein – und diese Regierung zu desorientiert – für eine unabhängige Politik im Sicherheitsrat.

In Europa dagegen ist Deutschland heute zu groß, keine eigenständige Politik zu verfolgen. Die Eurokrise hat Deutschland vor aller Augen zum unverzichtbaren Land auf dem Kontinent gemacht. Darin liegt eine gewisse Ironie, war der Euro doch eine französische Erfindung, die ursprünglich das neue, große, wiedervereinigte Deutschland einhegen sollte. Es ist anders gekommen. Der deutsch-französische Motor, so spottete kürzlich ein britischer Kommentator, gleiche heute einem BMW-Motorrad mit einem Peugeot-Beiwagen. Am Steuer sitzt Angela Merkel, und Nicolas Sarkozy muss sich im Beiwagen kräftig mit in die Kurve legen, immer in die Fahrtrichtung der deutschen Kanzlerin.

Noch jedes Mal haben die Franzosen mitziehen müssen, wenn die Deutschen vorangingen: Ob es darum geht, zu welchen Bedingungen die Griechen gerettet werden, wann es einen Schuldenschnitt geben, oder welche Stabilitätskriterien in Europa gelten sollen; wie die Banken an der Rettung zu beteiligen sind, oder wie groß der Hebel des EFSF sein soll – immer sind es die Deutschen, die sich durchsetzen. Frankreich hingegen ist sechs Monate vor einer Präsidentenwahl in Gefahr, von den Ratingagenturen herabgestuft zu werden.

In der deutsch-französischen Partnerschaft wollten die Franzosen die Deutschen früher ausbalancieren. Heute dient sie dem Zweck, Frankreichs Schwäche und Deutschlands Stärke zu kaschieren. Frankreichs ständiger Sitz im Sicherheitsrat ist da nur noch ein schwacher Trost.

Deutschlands wahre Macht liegt heute in Europa. Unsere Sicherheit und Stabilität hängt von den Staatsschulden unserer Nachbarn ab, von faulen Krediten in ihren Banken, von ihrem Rating. Die Massenvernichtungswaffen, die unser System gefährden, stecken nicht in einem Bunker in Nahost, sondern in den Schließfächern unserer Kreditinstitute und den Haushaltsplänen unserer Partner. Sie zu entschärfen, wird lange Verhandlungen und starke Nerven brauchen.

Und deswegen wird Deutschland im Sicherheitsrat kaum gebraucht. In Europa aber umso mehr.

 

Mein unbewältigter 11. September

Einige Begegnungen in einem Jahrzehnt der Angst und des Irrsinns.

Es kommt alles wieder hoch in diesen Tagen.

Am 11. September war ich in der Türkei im Urlaub. Im Supermarkt bemerkte ich, dass fremde Leute miteinander bedeutungsvoll tuschelten. Etwas war passiert, und das Entsetzen war groß. Die Türken fühlten sich mitgemeint und angegriffen von den Attentätern, es gab keinerlei Schadenfreude, niemand machte „den Westen“ selbst verantwortlich (wie es später manche westliche Intellektuelle taten). Es gab sogar die Hoffnung, dass die Westler nun besser verstehen würden, mit wem man es zu tun hatte bei den radikalen Islamisten. Dass sich hier ein Konflikt anbahnen würde, den manche bald schon im Muster eines Zivilisationskonflikts zwischen dem Islam und dem Westen sehen würden – das schien in den ersten Tagen in der Türkei undenkbar.

***

Ein paar Wochen später war ich für eine Woche im Iran, in Teheran und Isfahan. Ich hatte lange verabredet, mit einem deutschen Künstler das Land zu bereisen, der dort die erste westliche Ausstellung seit der Revolution zeigen durfte, und zwar im Teheraner Museum für moderne Kunst, einer Errungenschaft der Schah-Zeit. Als ich in der Nacht des Sonntags, des 7. Oktober 2001, am Teheraner Flughafen in ein Taxi stieg, begrüßte mich der Fahrer mit den Worten: Sie haben gerade begonnen, Afghanistan zu bombardieren.
Es herrschte gefasste Ruhe in Teheran, viel mehr als im aufgeregten Berlin, wo gegen den Krieg demonstriert wurde. Die Chatami-Regierung hatte die Hoffnung, durch den Anti-Terror-Krieg aus der Isolation zu kommen. Das zerschlug sich schnell, als auch die vom Iran gesponserte Hisbollah auf die Liste der Organisationen geriet, die im Global War on Terror isoliert und besiegt werden sollten. Die Iraner sahen mit einer Genugtuung, die mich überraschte, die Vernichtung der Taliban kommen. „Wir hätten es irgendwann selber tun müssen„, sagte ein Teheraner zu meinem Erstaunen. „Wir leiden indirekt unter deren Regime, sehen Sie nur all die Flüchtlinge aus Afghanistan hier im Land – und all die Drogen, die hier eingeschmuggelt werden und die Jugend kaputt machen.
Damals schien es nicht denkbar, dass die Sache dazu führen würde, dass Iran einerseits viel mächtiger werden würde durch Amerikas Kriege, andererseits aber zu einem isolierten Paria-Staat wie später unter Ahmadineschad mit seinem Israel-Hass. Eine Frau in Teheran schockte mich mit diesem Kommentar zum Krieg in Afghanistan: „Ja, diese verdammten afghanischen Bauern sind amerikanische Bomben wert, aber für uns Iraner tut ihr nichts.“

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Als ich aus dem Iran zurückgekehrt war, fragte mich unser Büroleiter Gunter Hofmann, der über sehr gute Verbindungen ins Schröder’sche Kanzleramt verfügte, ob ich mir vorstellen könnte, mal zu einer informellen Gesprächsrunde dorthin zu gehen. Es gehe um eine Art Brainstorming über das Thema des islamistischen Terrors, und schließlich hätte ich ja gerade auch Anschauung aus dem Iran und könnte vielleicht Interessantes über die Debatte dort beitragen. Ich sagte zu, wenn auch mit mulmigem Gefühl, war ich doch kein Experte. Ich stellte mir vor, dass da wahrscheinlich eine Reihe anderer Kollegen anwesend sein würden, die ebenfalls mehr Experten für die deutsche Öffentlichkeit als für den islamistischen Terror wären. Was sollte schon sein? Es wäre interessant zu sehen, wie das Kanzleramt nur Wochen nach den Anschlägen so tickte.
Steinmeiers Büroleiter Stephan Steinlein rief mich an, ob ich mal am Sonntagmorgen ins Kanzleramt kommen könnte – und übrigens, wen könnte man denn noch zum Thema Islamismus einladen?
Die Frage ließ mich stutzen, ich empfahl für den deutschen Kontext Werner Schiffauer wegen seiner Feldstudien über den „Kalifatstaat“ und Milli Görüs. Aha, interessant, bis Sonntag dann.
Sonntagmorgen im Kanzleramt wartete ich mit Professor Schiffauer darauf, dass man uns nach oben bringen würde. Außer uns war niemand da. Die anderen seien wohl sicher alle schon drinnen, vermuteten wir. Steinlein kam und führte uns in die oberste Etage, allerdings nicht in einen der üblichen Besprechungsräume, sondern in einen Bereich voller Beamter der Sicherheitsdienste. Ein U-förmiger Tisch war gedeckt, ihm gegenüber zwei Plätze, auf die Schiffauer und ich verwiesen wurden. Dann traten einige Herren aus einem anderen Raum hinzu, und mir wurde nun sehr mulmig: BND-Chef August Hanning, Geheimdienstkoordinator Ernst Uhrlau, Verfassungsschutz-Chef Heinz Fromm und der Uwe-Karsten Heye, Schröders Sprecher, grüßten und setzten sich. Man warte noch auf Kanzleramtschef Steinmeier, dann könne das Hearing losgehen. Und da wurde mir klar: Es gab keine Kollegen, das hier war keine Hintergrundplauderrunde, es war ein Expertenhearing, und die Experten waren: Professor Schiffauer und ich. Zu dieser Zeit tagte regelmäßig die „Sicherheitslage“ der versammelten Dienste im Kanzleramt, weil man auch in Deutschland täglich mit Anschlägen rechnete.
Das hatten die Herren gerade hinter sich gebracht, nun sollte beim Lunch Experten-Input geliefert werden. Es kamen sehr gezielte Fragen zur radikal-islamischen Szene in Deutschland. Vor allem Steinmeier war sehr gut vorbereitet, wollte zum Beispiel wissen, wie sich die türkischen Islamisten von den arabischen Netzwerken unterscheiden, wo sie zusammenarbeiteten, wie militant sie jeweils seien, wo die ideologischen Unterschiede lägen etc. Hinter ihm an der Wand hing eine Karte Afghanistans mit zahlreichen Markierungen und Fähnchen drin.
Ich war dann doch recht froh, Professor Schiffauer an meiner Seite zu haben! Dennoch bin ich tausend Tode gestorben. Meine Eindrücke aus dem Iran konterte Hanning mit Sätzen, die so begannen: „Unser Mann in Isfahan berichtet aber, dass beim Freitagsgebet…“

Fromm saß die ganze Zeit mit mürrischem Blick dabei, rauchte eine nach der anderen und sagte nichts. Der hat dich durchschaut, dachte ich, der weiß, was das hier für ein Hochseilakt ist, der langweilt sich. Dann meldete er sich zu Wort: „Ich will jetzt mal bitte eines von den Herren wissen – sollen wir Milli Görüs weiter unter Druck setzen und verbieten oder nicht?“ Ich ließ Schiffauer den Vortritt. Er war für eine eher kooperative Linie, weil er die Gruppe nicht für gefährlich hielt. Ich plädierte für ein hartes Engagement, die Gruppe müsse sich nun entscheiden und klar von den politischen Zielen des Islamismus lossagen. Es wurde eine recht muntere Debatte, und ich habe nachher nie Klagen gehört. Aber als ich das Kanzleramt verließ, hatte ich ein taubes Gefühl, so wie ein Fußgänger, der beim Überschreiten der Straße knapp einem Lastwagen entgangen ist, der ihn nur um Zentimeter verfehlt hat.
Kann es sein, dass die im Kanzleramt so absolut keine Ahnung hatten, wen sie fragen sollten bei dem Thema? Dass die von selber nicht einmal auf den Professor Schiffauer gekommen wären?
Es war wohl damals so. Die Politik war ganz und gar geschockt und überrascht von dem Thema, und ich war mitten hinein geraten in einen der Orientierungsversuche. Immerhin, Schaden habe ich offenbar nicht angerichtet.
Das war mein kurzes Leben als Kanzlerberater.
Später hat das Kanzleramt einen eigenen Experten eingestellt, einen erstklassigen Kenner Saudi-Arabiens und des Al-Qaida-Terrorismus. Ich bin bis heute dankbar für den Einblick dieses Sonntagmorgens, und ich würde ihn allen Verschwörungstheoretikern gerne gönnen.

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Ende 2003 besuchte ich einige amerikanische Intellektuelle, um über die US-Debatte zum bevorstehenden Irakkrieg zu berichten. Mark Lilla, ein konservativer Kriegsskeptiker, den ich aus seinen Berliner Tagen kannte, machte mich auf seinen Freund Paul Berman aufmerksam, einen der führenden „linken Falken“. Paul verteidigte Bush gegen seine linken Freunde („Bush is not the enemy“) und er hatte gerade ein Buch geschrieben, in dem er erklärte, warum die Linke den Kampf gegen den Terrorismus der al-Qaida unterstützen musste – und warum sich hinter diesem Konflikt noch ein viel größerer verbarg.
Er leitete den neuen Totalitarismus der islamistischen Gefahr aus eindringlichen Analysen der Schriften von Sayid Qutb her, dem intellektuellen Vater der Muslimbruderschaft – und aus der Geschichte der Baath-Partei mit ihrem national-sozialistischen Programm zur Befreiung der Araber. Die Fusion dieser beiden Strömungen war in Pauls Sicht in Saddam Husseins Irak gegeben – Baathismus und Islamismus vereint im Kampf gegen den Westen. Gab es nicht Beweise für die Zusammenarbeit von Saddam und al-Qaida? Und selbst wenn nicht, stellten beide doch eine tödliche, islamofaschistische Gefahr dar, so schlimm wie im Kalten Krieg der Sowjetkommunismus.
Paul konnte den Beweis für diese Gefahr aus seinem Fenster in Brooklyn sehen, in Gestalt der Lücke, wo einst die Türme gewesen waren. Er war am 11. 9. zum Augenzeugen der Zerstörung des World Trade Center geworden. Wir trafen uns in einer Sushi-Bar in Manhattan und haben uns sofort gut verstanden. Paul erzählte von seinen kommunistischen Vorfahren, jüdische Einwanderer aus Russland, von seinem eigenen früheren Trotzkismus, von seiner allmählichen Gegnerschaft zur loony left, zur verzweifelten Michael-Moore-Linken. Ein linker, liberaler, anti-totalitärer Bush-Verächter und Kriegsbefürworter: Ich war begeistert. Auf dem Rückflug aus New York las ich sein druckfrisches Buch, das auch mich für den Irak-Krieg einnahm.

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Ich begann, mich für die irakische Diaspora zu interessieren. Ich las Kanan Makiyas Buch über Saddams Irak, Republic of Fear. Es schien Paul Bermans Sich zu bestätigen. Ich nahm zu Makiya Kontakt auf, der damals an der Brandeis University lehrte. Wir machten ein Interview über den geplanten Krieg, in dem ich kritische Fragen stellte, während er die Gründe für eine Intervention stark machte.
Er erwischte mich kalt mit dem Punkt, dass auch die Deutschen durch eine Invasion mit anschließendem nationbuilding in die Welt der zivilisierten Völker zurückgeholt worden waren. Ich fühlte mich mit meinen Bedenken gegenüber der Modernetauglichkeit der Iraker ein wenig rassistisch. Heute erscheint mir dieses Argument ein ziemlich billiger Trick.
Kanan Makiya ging später nach Bagdad zurück, nachdem die schlimmsten Zustände nach der Invasion dort vorbei waren. Doch nach den Plünderungen kamen die ethnischen Säuberungen und der religiöse Bürgerkrieg. Es wurde die Enttäuschung seines Lebens für den säkularen Schiiten aus der irakischen Elite. Dass diese Gesellschaft so kaputt war, hatte er aus seinem Exil nicht sehen wollen – oder können.
Er war in einer Gruppe tätig gewesen, die für das State Department an Nachkriegsplänen gearbeitet hatte. Er schickte mir Materialien aus diesen Sessions, damit ich einen Artikel darüber schreiben könnte. Ich habe das nicht getan, weil anderen Redakteuren mulmig dabei zumute war, dass man hier möglicher Weise einer Propagandainitiative der Bushies aufsitzen würde.
Heute bin ich froh darüber, denn bald erzählte mir Kanan Makiya, dass die ganze Arbeit dieser Gruppe für die Katz war, weil das Pentagon nichts von nationbuilding hören wollte. Es passte einfach nicht zu Rumsfelds Idee von einem „schlanken Krieg“ aus der Luft.
Kanan ist eine tragische Figur, wie so viele Exilanten, die davon träumen, ihr Land zurück zu bekommen und dann feststellen müssen, dass es dieses Land gar nicht mehr gibt. Man nimmt den bösen Führer weg, und zum Vorschein kommt eine zerstörte Gesellschaft. Das werden wir auch hier und da in den arabischen Revolutionen sicher wieder erleben, wenn auch – hoffentlich – nicht so extrem wie im Irak.

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Ende 2004 wurde ich von Jeffrey Gedmin, dem Direktor des Aspen-Institus in Berlin, zu einer Tagung über Iran auf einen Landsitz nahe Avignon eingeladen. Ich kam mit Jeffrey gut klar, weil ich damals die Positionen der „linken Falken“ teilte, die den Krieg im Irak unterstützten. Der wohl vernetzte Neocon Gedmin sah meinesgleichen wahrscheinlich als nützliche Idioten der Bush-Politik. Und er hatte nicht ganz unrecht damit. Gedmin hatte einige seiner Washingtoner Freunde nach Frankreich eingeflogen, zum Beispiel den EX-CIA- Mann Reuel Gerecht, einen Iran-Experten, der zuverlässig für einen harten Kurs gegenüber Teheran stand. Und harter Kurs, das hieß nun Krieg.
Stargast des Tages war John Bolton, der damals Staatssekretär für Rüstungskontrolle war. Er wurde eigens mit dem Hubschrauber eingeflogen. Schnell wurde mit deutlich, dass hier gar nicht mehr über die eventuelle Notwendigkeit eines Krieges gegen den Iran debattiert werden sollte. Es ging eigentlich nur noch darum, die Europäer an den ohnehin geplanten Krieg heranzuführen. Ich war einigermaßen geschockt zu bemerken, dass unsere Freunde schon fest entschlossen waren, nach dem Irak nun das nächste Glied der Achse des Bösen zu bombardieren. Nackter Irrsinn. Eine Hybris, die man durch keine Einwände mehr erreichen konnte. Zweifel wurden weggewischt. Einwände, die Machbarkeit betreffend – mit zwei bereits laufenden Kriegen in Afghanistan und Irak, und jeweils unmenschlichen Aufgaben, was das nationbuilding betraf – wurden schnöde abgewiesen durch Kommentare wie: „We have lots of planes to bomb them to hell.“ (Reuel Gerecht) Auf die erschrockene Frage meiner Frau, die für die Welt an dem Treffen teilnahm, wie man denn zugleich einen neuen Krieg nebst Stabilisierung in Afghanistan und Wiederaufbau im Irak bewältigen wolle, sagte Bolton: „We don’t do nationbuilding. It was a mistake to start it in the first place.
Was hätte man denn sonst im Irak machen sollen? Bolton: „You go in. You hit them hard. You leave. And then it’s: Good bye and Good luck with your country!“

Wir verließen Avignon mit dem Gefühl einer drohenden Katastrophe. Und so ist es dann ja auch gekommen. Im Jahr darauf ging der Aufstand im Irak los. Iran hatte sich damit als Ziel vorerst erledigt. Alle Energie wurde nun für den Surge gebraucht. Tausende amerikanischer Soldaten haben mit dem Leben dafür bezahlt, und sicher auch Zehntausende Iraker.

***

Im August 2006 traf ich Hazem Saghieh in London zum Interview. Er verantwortete damals die Meinungsseiten bei der liberalen panarabischen Tageszeitung Al Hayat und galt als einer der führenden arabischen Liberalen. Hazem war ein ursprünglich libanesischer Linker, der mit Entsetzen seit den Siebzigern den Aufstieg des Fundamentalismus in der arabischen Welt beobachtet hatte – und zugleich einer der schärfsten Kritiker von Autokraten wie Saddam Hussein oder Assad, die sich die Wut der arabischen Straße zunutze gemacht hatten.

Ich traf ihn kurz nachdem in London Pläne für große Attentate aufgedeckt worden waren, und wir sprachen über die ohnmächtige Wut der arabischen Jugend.
Hazem erzählte mir, dass er vor dem Irakkrieg zu einem Expertenhearing in einem regierungsnahen Thinktank eingeladen worden war. Man wollte dort über den Irakkrieg reden und sondieren, wie er wohl in der arabischen Welt aufgenommen werden würde.
Hazem warnte vor dem Krieg, obwohl seine Ablehnung von Saddams Terrorherrschaft außer Frage stand. Die Amerikaner, sagte er mir, erklärten sich damals die Lage in den arabischen Ländern analog zu der in Osteuropa im Kalten Krieg. Sie dachten, sie mussten nur die böse Herrschaft der Diktatoren loswerden, damit die gute, unterdrückte Gesellschaft sich endlich frei und demokratisch entfalten könnte.

„Aber so läuft es in unseren Gesellschaften in Nahen Osten nicht. Es gibt keine Zivilgesellschaft im Irak, die an die Stelle des bösen Herrschers treten kann. Osteuropa war lange während des Kalten Krieges in einer Art unglücklicher Liebe dem Westen und seinen Idealen verbunden. Bei uns ist das nicht so. Wir werden von der Tyrannei in den Bürgerkrieg übergehen.“
„Die haben mir zugehört da in Washington„, sagte Hazem, „höflich, aber ein wenig peinlich berührt. Ich wurde nie wieder eingeladen.“

Heute frage ich mich manchmal, was Hazem wohl über Tunesien, Ägypten und Libyen denkt, wo es nicht so finster zu kommen scheint, wie er zu Recht für den Irak befürchtet hatte.
Aber dort sind es ja auch Kräfte von innen, die die Tyrannen stürzen, wenn auch in Libyen mit äußerer Hilfe.
Was wohl Hazem zu alledem denkt? Er ist vor Jahren aus London zurück nach Beirut gegangen. Ich muss ihn mal wieder anrufen.

 

Welches Europa will Deutschland?

Mein Leitartikel aus der ZEIT von morgen beschäftigt sich mit der außenpolitischen Orientierungs- und Sprachlosigkeit Berlins:

Wie lange kann eine Regierung so weitermachen? Deutschland ist in Europa heute so wichtig wie selten zuvor, seine Außenpolitik so schwach wie nie. Die außenpolitische Krise zehrt mit jedem Tag mehr von dem auf, was einmal Innenpolitik war. Das Schicksal dieser Regierung entscheidet sich an einer einzigen Frage: ob sie es schafft, Deutschlands Position in Europa neu zu bestimmen. Pathetisch gesagt: die Deutschen in Europa neu heimisch zu machen.
Die Kanzlerin aber muss um ihre Mehrheit für die Euro-Rettung zittern. Die Kabinettskollegin von der Leyen nutzt Merkels strategisches Vakuum, um sich als mögliche Nachfolgerin in Stellung zu bringen: Sie strebe die »Vereinigten Staaten von Europa« an – eine Formel, die leider für FDP und CSU den Gottseibeiuns beschreibt.
Und ausgerechnet in Zeiten der Veraußenpolitisierung des Politischen hat Deutschland einen Außenminister, den niemand mehr ernst nimmt. Guido Westerwelle musste erleben, wie ihn die zaudernden Vatermörder Rösler und Lindner erst demontierten, um ihn dann noch einmal – auf Bewährung – im Amt zu lassen.
Weil es ein weiteres Schwächesignal der Koalition wäre, ihn jetzt zu schassen, wird ihm die Krise der Außenpolitik, die er mitverschuldet hat, paradoxerweise zur vorläufigen Rettung. Westerwelle hat den Nato-Alliierten Respekt für ihren Libyen-Einsatz bekundet – spät und unter Druck. Seine vergeblichen Versuche, den Sturz Gadhafis den deutschen Sanktionen zuzuschreiben, haben die Orientierungslosigkeit der deutschen Politik noch einmal vor aller Augen geführt.
Auf Bewährung ist nicht nur er, sondern die deutsche Außenpolitik im Ganzen. Da es auf Westerwelle nicht mehr ankommt, läuft nun alles auf die Kanzlerin zu. Sie hat die Libyen-Entscheidung einst gemeinsam mit Westerwelle getroffen. Jetzt muss sie den Schaden begrenzen – und das ist noch eine der kleineren Herausforderungen.
Weder gegen die Deutschen noch ohne sie ist Europa zu retten
Deutschland steht vor einer Frage, so groß wie Wiederbewaffnung, Westbindung oder Ostpolitik: Wie weiter mit den Deutschen in Europa? Europapolitik, einst die Domäne der Technokraten, ist zur Bühne der deutschen Identitätskrise geworden. Die alte Lehre, das Land sei zu klein für die Hegemonie in Europa und zu groß für das Gleichgewicht, scheint überholt.
Der bewährte Deal funktioniert nicht mehr, in dem Deutschland die Wirtschaftsmacht, Frankreich aber das politische Schwergewicht stellte. Früher konnte Deutschland Macht kaufen. Heute ist es auch politisch in Europa eine unverzichtbare Kraft. Weder gegen die Deutschen noch ohne sie kann Europa gerettet werden.
Dabei hatte man den Euro auf französischen Druck eingeführt, um eine deutsche Hegemonie in Europa zu verhindern. Doch er wurde ironischerweise zur Grundlage einer deutschen Vorherrschaft. Die Deutschen sind Europas Gewinner, und doch fühlen sich viele hierzulande von Europa betrogen. Der Euro hat die Deutschen zum ängstlichen Hegemon Europas gemacht. Deutschland fürchtet sich vor Europa, und die Europäer fürchten Deutschlands Macht.
Die Deutschen müssen nun die EU just in dem Moment umbauen, da sie beginnen, sich nicht länger als Mustereuropäer, sondern als Opfer zu sehen. Europa war einmal ein Wert an sich. Nun aber glauben viele, »mehr Europa« bedrohe Werte und Wohlstand.
Getrieben von den Märkten, baut die Kanzlerin darum das neue Europa im Tarnkappen-Modus. Sie kämpft offiziell für die Verbreitung deutscher Stabilitätskultur, aber Begriffe wie Wirtschaftsregierung, europäischer Finanzminister, Euro-Bonds und – nun sogar – Vereinigte Staaten von Europa sind durch ihre Politik allmählich in die Zone des Denkbaren gerückt.
Deutschland hat unter dem Radar fliegend begonnen, Europa nach seinem Bilde zu verändern: Nicolas Sarkozy, einst Wortführer der Schuldnerländer, ist heute Verfechter der Stabilität.
Die Regierung muss die strategische Verstocktheit aufgeben und darüber Rechenschaft ablegen, dass sich auch die deutsche Haltung mehr verändert hat, als die Berliner Sprachlosigkeit ahnen lässt. Neben Europa bleibt die zweite Schicksalsfrage die nach Krieg und Frieden. Was ist die Lehre aus den Interventionen der letzten beiden Jahrzehnte – von Bosnien über Afghanistan bis Libyen? So schnell wie möglich raus – und nie wieder mitmachen? Der Libyen-Krieg gibt zu Zweifeln Anlass, auch wenn er kein Modell ist. »Kultur der Zurückhaltung« darf nicht zum Synonym des moralisch überhöhten Raushaltens um jeden Preis werden.
Drittens, auch eine deutsche Kernfrage: Israel. Wie verhält sich Deutschland im September, wenn die Palästinenser vor den Vereinten Nationen Anerkennung verlangen? Kann man diesen Wunsch nach dem Arabischen Frühling noch schnöde abweisen? Wir müssen raus aus den öden Ritualen der Nahostdiplomatie, ohne uns dabei gegen Israel oder die USA zu positionieren.
Die Libyen-Entscheidung hat Deutschland an die Seite Russlands, Chinas und Indiens geführt. Deutschland braucht neue strategische Partner. Aber wir können darum nicht blockfreie Politik machen. Wir brauchen ganz Europa, um es mit China aufzunehmen – und Europa braucht umgekehrt uns, damit es in der Welt zählt.
Welches Europa will Deutschland? Welches Deutschland braucht Europa? Nur wenn sie darauf eine Antwort findet, hat diese Regierung noch eine Chance.

 

Was am deutschen Pazifismus faul ist

Karl Heinz Bohrer, der Herausgeber des Merkur, ist im neuen Heft in großer Form. In seinem Essay analysiert er „den GAU der deutschen Außenpolitik“:

„Und wenn man nach der Libyen-Entscheidung mit jüngeren, durchaus informierten und intelligenten Berliner Diplomaten sprach, bekam man bei solchen, die die Reaktion ihres Ministers nicht unbedingt unterstützen, den Eindruck, dass sie weit entfernt davon sind, den Tatbestand einer Isolation und die Gründe dafür wirklich ernst zu nehmen. Es wird höchstens im Jargon eines diplomatietechnischen Für undWider erörtert, ob man nicht am Ende recht behalte. Die Rückschläge der westlichen Koalition über Libyen wurden mit einer gewissen Schadenfreude kommentiert. Und was Syrien betrifft, lagen die beflissenen Erklärungen des Außenministers abermals dicht an der Peinlichkeit, einerseits offene Türen einzurennen, andererseits gar nichts Substantielles sagen zu können. Offenbar ist von den deutschen Akteuren verdrängt worden, was einigen kritischen Beobachtern sofort auffiel: Dass eine Art GAU die deutsche Außenpolitik befallen hatte, seit sie sich mit Russland, Indien und China in einem Boot wohlfühlte.
Allein schon die einschlägigen Rechthabereien, während das Kind längst im Brunnen lag, belegen das Urteil, dass eine erstaunliche Weltunerfahrenheit die Ursache des Dilemmas ist. Die Sache wird aber erst richtig brenzlig, wenn man zu dieser Einschätzung hinzufügt, dass eine Mehrheit der Deutschen aus allen Schichten sich der eingangs erwähnten Begründung solcher Distanz zu denWeltläuften, nämlich keine wirkliche koloniale Erfahrung zu haben, sogar rühmen würde.
Was drückt sich darin aus? Abgesehen von einer kurzen Periode vor dem Ersten Weltkrieg gab es keine deutschen kolonialen Aspirationen, weil es keinen deutschen Staat gab, der solche Art Machtinteresse hätte artikulieren können. Als er es schließlich für eine kurze Zeit vor allem in Afrika tat, geriet dieses Machtinteresse nicht zufällig zu einer moralischen und zivilisatorischen Katastrophe. Unerfahren in Machtausübung, stattdessen von einem einzigartigen provinziellen Rassedünkel geprägt,  veranstalteten Kolonialmilitärs wie der Generalleutnant Lothar von Trotha ein Massaker unter den aufständischen Hereros. Trotz der Proteste deutscher Parlamentarier ist diese düstere Affäre im Nachhinein aber auf das Konto europäischer Kolonialherrschaft überhaupt überschrieben worden, statt die spezifisch deutsche, in mangelnder Machterfahrung kombiniert mit Rasseidentität begründete Ursache zu erkennen.
In falscher Übertragung wurde die Kolonialherrschaft, vor allem die der Briten, vorpolitisch-moralisch, also zivilisatorisch-historisch negativ bewertet. Mehr noch: Machtausübung als solche wurde sehr bald einem abstrakten Moralismus, einem Reinlichkeitsprinzip unterworfen, das dann behauptete »Sie sagen Gott und meinen Kattun« − eine Rede, die heute in deutschen Urteilen über das angelsächsische Engagement im Nahen Osten nachklingt.“

„Die Entpolitisierung der Machtidee und ihre Existentialisierung, die sich damit äußerte, waren schon die Folge mangelnder Macht und mangelnder Machterfahrung, was sich in der Politik derNazis, die samt und sonders, verglichen mit britischen oder amerikanischen Politikern, keinerlei Welt- und Machterfahrung besaßen, dann nicht zufälligerweise zuspitzte.
Diese Vorgeschichte der aktuellen Enthaltsamkeit muss man im Auge haben, wenn man ihren apolitischen Moralismus richtig benennen will. Dann ergeben sich zwei unerquickliche Einsichten.
Erstens: der radikale Pazifismus. Er charakterisiert noch immer die deutsche Mehrheit, aber auch die Intellektuellen dieses Landes, und dieser Pazifismus ist nichts anderes als das Pendant des ehemaligen Militarismus. Das fast konform zu nennende Verhalten vieler Intellektueller in Universität und Feuilleton in dieser Frage wird auch nicht besser dadurch, dass französische Intellektuelle in eitlen Selbstdarstellungen zum Pro und Contra des Krieges sich lächerlich machten. Der  deutsche Militarismus entsprang einem absoluten, nicht erfahrungsgesättigten Prinzip. Darin unterschieden von der kriegerischen Haltung der Briten, die ihre Interessenmit der Waffe durchsetzten, ohne deshalb militaristisch zu werden. Insofern ist auch das Argument, man habe aus der Vergangenheit gelernt, das im Diktum des beliebtesten deutschen Außenministers mündete, kein Krieg dürfe mehr von deutschem Boden ausgehen, eine pathetische, nichtssagende Erklärung. Sie wurde deshalb auch nie von den westalliierten Partnern wirklich ernst genommen, sogar eher verächtlich behandelt.
Der springende Punkt ist ja: Wie einleuchtend kann es sein, wenn jemand, der zweimal ein Haus anzündete, beim Brennen eines weiteren Hauses erklärt, er würde nicht beim Löschen helfen, weil er nie mehr wieder mit Feuer zu tun haben wolle? Jedenfalls nimmt sich der erst jetzt zögernd revidierte deutsche Grundsatz, jenseits der eigenen Grenzen militärisch eigentlich nicht aktiv werden zu können, genauso aus: Derjenige, der zwei Weltkriege anzettelte, überlässt in Zukunft das Kriegführen den anderen. Eine solche Position wird auch nicht besser, wenn den jeweiligen Kriegführenden bei ihren Aktionen schwere militärische und politische Fehler unterlaufen. Sich darauf zu berufen, macht die Enthaltung noch peinlicher. Etwas anderes wäre nämlich eine klarere, selbstbewusstere Begründung der deutschen Abstinenz, bei der die verheerende militärische Geschichte des Landes im letzten Jahrhundert offen zur Sprache käme und die ihr folgende pazifistische Haltung der deutschen Öffentlichkeit. Dem könnte man einen gewissen Respekt zollen.“

 

Warum Deutschland keine Panzer an die Saudis verkaufen sollte

Mein Leitartikel aus der ZEIT von morgen:

Deutschlands Botschaft an den arabischen Aufstand ist 10,97 Meter lang, wiegt 67,5 Tonnen und hat 1500 PS. Die Bundesregierung hat die Ausfuhr von bis zu 200 Panzern des Typs Leopard an das saudische Königshaus genehmigt. »Leos« für Riad? Ausgerechnet jetzt?
Was wohl die fünf Frauen von dem Geschäft halten, die am Mittwoch vergangener Woche in der saudischen Hafenstadt Dschidda festgesetzt wurden? Ihr Vergehen: Sie hatten das Fahrverbot für Frauen missachtet. Am Sonntag erwischte es dann in der Hauptstadt Riad 20 Demonstranten. Sie hatten die Freilassung politischer Gefangener verlangt.
Was diese Menschen über den Panzer-Deal denken, wird man nicht erfahren: Wer im Golf-Königreich für Menschenrechte und gegen die Apartheid der Geschlechter kämpft, landet im Knast – schneller denn je übrigens, seit die Demokratiebewegung an den arabischen Thronen sägt. Aber nicht mehr alle in der Region sind so leicht mundtot zu machen.
In Blogs, auf Twitter und Face­book ist die Panzer-Botschaft so angekommen: Deutschland glaubt nicht an uns. Die Deutschen haben den Arabischen Frühling abgehakt. Es ist unvergessen, dass Deutschland sich im März weigerte, dem libyschen Diktator in den Arm zu fallen. Und jetzt Kampfpanzer für den geschworenen Gegner jeder Demokratisierung in der Region? Die Saudis haben dem tunesischen Tyrannen Ben Ali eine Heimstatt gegeben, sie standen bis zuletzt an Mubaraks Seite. Deutsche Waffen für die Herrschenden in Riad, das bedeutet, in Abwandlung eines deutschen Dichterworts: Krieg den Hütten, Friede den Palästen.

Nach dem Debakel der Libyen-Entscheidung hatten Merkel und Westerwelle betont, man fiebere mit den Rebellierenden und wünsche den Sieg der Demokratie. Den Saudis den besten Panzer zu verkaufen, den es auf dem Weltmarkt gibt, ist damit schwer zu vereinbaren. Mit Panzern wie dem »Leo«, heißt es in Berlin, könne man nicht gegen Demonstranten vorgehen, darum sei die Lieferung unproblematisch.
Sicher? Der Leopard in seiner neuesten Va­rian­te 2A7+ ist speziell für »asymmetrische Situationen« ausgerüstet. Weil die Zeit der Panzerschlachten zwischen Nationen vorbei ist, hat man den »Leo« für die Aufstandsbekämpfung umgebaut – mit Räumschaufeln und »nicht letalen Waffen«. Ein Bundeswehrvideo rühmt, dass schon »seine Präsenz lähmt und abschreckt«.
Die Saudis ließen Anfang März ihre Panzer nach Bahrain rollen, um dort der De­mo­kra­tie­bewe­gung den Garaus zu machen. Werden wir demnächst auf al-Dschasira das Spitzenprodukt der deutschen Rüstungsindustrie in Aktion sehen? 44 Exemplare sind bereits ausgeliefert.
Der Panzer-Deal ist ein Bruch mit den Prinzipien der deutschen Außenpolitik. In den »politischen Grundsätzen« der Bundesregierung für Waffenexporte wird der »Beachtung der Menschenrechte« im Bestimmungsland »besonderes Gewicht beigemessen«. Und im »Gemeinsamen Standpunkt« der EU verpflichtet sich Deutschland, »mit Entschlossenheit zu verhindern, dass Militärgüter ausgeführt werden, die zu interner Repression« eingesetzt werden können.
Dreißig Jahre lang hat Deutschland dem Drängen des Golfstaats nach dem »Leo« widerstanden. Zu Zeiten der Kanzlerschaft Helmut Schmidts wäre es fast zur Lieferung gekommen. Damals ging es um den Schutz der saudischen Ölquellen, während die Russen in den Irak und nach Afghanistan vordrangen. Weil die Saudis Feinde Israels waren, kam es nie dazu. Auch Helmut Kohl sagte Nein.
Warum gibt die deutsche Regierung die Zurückhaltung auf? Denkbar ist nur ein möglicher, geopolitischer Grund: Irans Aufstieg und seine Atomrüstung. Tatsächlich erhebt Israel angesichts dieses gemeinsamen Feindes jenseits des Golfs keine Einwände. Wer die Saudis aufrüstet, so die Logik, verhindert die Verschiebung des regio­na­len Gleichgewichts zugunsten der aufstrebenden Großmacht Iran.
Darum die deutschen Panzer? Als George W. Bush vor vier Jahren mit der gleichen Begründung Raketensysteme für 20 Milliarden Dollar an Riad lieferte, fielen Berliner Politiker von CDU und FDP über diese »primitive Form der Realpolitik« her. Merkwürdig, dass nun die schwarz-gelbe Regierung, die sich Abrüstung auf die Fahne geschrieben hat, der Bush-Doktrin folgt.
Für die deutsche Rüstungsindustrie ist das saudische Geschäft eine willkommene Gelegenheit, den Nachfragerückgang wegen der Bundeswehrreform und der Sparprogramme auszugleichen. Bisher galt, Beschäftigungspolitik dürfe nicht den Ausschlag für Rüstungsexporte geben. Gilt das noch? Deutschland ist drittgrößter Waffenexporteur weltweit, gleich nach Amerika und Russland. Der »Kultur der militärischen Zurückhaltung« (Westerwelle) spricht das Hohn.
Niemand weiß, ob der Arabische Frühling Erfolg haben wird. Das Scheitern der alten westlichen Stabilitätspolitik in der Region aber ist nicht zu übersehen. Die schlimmsten Kriege der vergangenen drei Jahrzehnte resultierten aus der Hybris der Gleichgewichtspolitik: die Feinde unserer Feinde aufzurüsten – Saddam gegen die Ajatollahs in Iran, die Taliban gegen die Russen. Am Ende führte der Westen stets gegen die Freunde von gestern Krieg. Das ist die Lektion unseres Scheiterns: Wer ein Land als Waffe betrachtet, muss darauf gefasst sein, dass sie sich dereinst gegen ihn selbst richtet.