Ein entscheidender Verhandlungstag für den Mitangeklagten Carsten S., der dem NSU-Trio vor Beginn der Mordserie in Chemnitz eine Česká-Pistole überbracht haben soll: Der psychiatrische Gutachter Norbert Leygraf stellte ein Gutachten vor, laut dem S. zur Tatzeit noch nicht die volle persönliche Reife entwickelt hatte – und somit nach Jugendstrafrecht verurteilt werden kann. Nun seien die Chancen groß, „dass der Angeklagte mit einer eher milden Strafe davonkommt“, analysiert Frank Jansen im Tagesspiegel. Dafür spreche auch, dass S. zu Prozessbeginn ein umfassendes Geständnis abgelegt hatte.
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Eine große Rolle bei S.‘ Einstieg in die rechte Szene spielte offenbar, dass er heimlich schwul war. „Ausgerechnet die rechte Szene, die ihre Abneigung gegen Homosexuelle gern zur Schau stellt, habe eine Anziehungskraft auf ihn ausgeübt“, fasst Julia Jüttner auf Spiegel Online die Expertise Leygrafs zusammen. Ein im tiefsten Herzen überzeugter Rechter war der Angeklagte anscheinend nicht: „Die Gründe von Carsten S. waren rein persönlich.“ Rebellion und die Suche nach seiner Sexualität seien allerdings nicht die einzig treibenden Kräfte beim Abdriften in die Szene gewesen, betonte der Psychiater.
„Jedenfalls wertet der Gutachter den Angeklagten keineswegs als naiven Nachplapperer“, beobachten wir bei ZEIT ONLINE. S. übernahm etwa ein Führungsamt in einer NPD-Nachwuchsorganisation, die rechten Kumpels betrauten ihn mit dem Kontakt zum untergetauchten NSU-Trio. Dennoch überwogen für Leygrafs Beurteilung die anscheinend starken Reifedefizite: „Die Suche nach seiner sexuellen Identität nahm S. die Kraft, sich zum vernünftigen Erwachsenen zu entwickeln.“
Der letzte Zeuge des Tages war ein früherer Klassenkamerad von Beate Zschäpe. Der 40-Jährige berichtete von politischen Diskussionen in einer Clique, der sowohl Zschäpe als auch ihre späteren Komplizen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt angehörten. Er habe auch mit Zschäpe in einem Jenaer Kaufhaus gestohlen. Die Angaben des Zeugen erschienen jedoch „höchst dubios“, schreibt dpa-Autor Christoph Lemmer. So will er den Mitangeklagten Ralf Wohlleben über dessen Bruder Alexander kennengelernt haben – der jedoch nicht existiert. Auch behauptete er, Uwe Böhnhardt habe im Alter von 14 Jahren ein Auto besessen.
Ein Randaspekt des Verhandlungstags: Zschäpe und der als Terrorhelfer beschuldigte Ralf Wohlleben unterhielten sich mit zweien der Richter aus dem Strafsenat. Aus den Gesten Zschäpes ließ sich ablesen, dass sie sich über ihre Unterbringung beschwerte. Denn außerhalb der Verhandlung müssen die beiden in Untersuchungshaft sitzenden Angeklagten in einer engen Arrestzelle bleiben. Möglicherweise haben sie nun Hoffnung auf einen Hofgang, nachdem das Gericht zuletzt die Bedingungen für Beate Zschäpe verbessert hatte. Bauliche Veränderungen sind zwar nicht möglich. „Aber offenbar ist das Gericht bemüht, die Hauptangeklagte verhandlungsfähig zu halten“, schreibt Annette Ramelsberger in der Süddeutschen Zeitung.
Das nächste Medienlog erscheint am Freitag, 20. März 2015.