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Mit Vollkornbuch im Schrebergarten

Eine Frage zur Messe wurde hier noch gar nicht beantwortet: Kann man da eigentlich was essen? Man kann! Ob man sollte, ist eine andere Frage. In den Gängen zwischen den Hallen quetschen sich kleine Buden. Da gibt’s Würstchen, da drüben Eis. Woanders steht eine Frau einsam an einem Brezelstand und serviert das Backwerk mit bemerkenswerter Achtlosigkeit. Eine Schlange steht vor dem Champagner-Stand und trinkt ein Gläschen für 16 Euro. Und draußen geht’s weiter. Imbissbuden. Rindswurst im Brötchen. Schmeckt nicht, wie es klingt. Schmeckt schlimmer. Inmitten der Besucher spazieren Edmund Stoiber und Angela Merkel vorüber. Nicht die echten. Mit Gummiköpfen bahnen sie sich ihren Weg, albern herum und kaum jemand lacht. „Muss warm sein unter der Maske“, sagt eine Besucherin gestrengen Blicks. „Naja, selbst schuld“, entgegnet eine andere.

Ein paar Meter weiter auf einem großen Platz befindet sich eine Ruhezone. Im Schatten überdimensionaler Brockhaus-Bände sitzen Heerscharen von Gästen und schnaufen kurz durch, ehe sie drinnen wieder die Neuerscheinungen inspizieren, Händeschütteln oder ihr Namensschild herumzeigen. Ein ungeheueres Sprachengewirr. Chinesisch, Französisch, Deutsch, Englisch, Spanisch, Spanisch, Spanisch. Katalonien ist Ehrengast der Messe. Ein paar katalanische Journalistinnen rennen um die bunten aufgeblasenen Lexika und fragen herum, ob die Ausstellung die Kultur ihres Landes gut repräsentiere. Die wenigsten machen mit. Wollen lieber rauchen, lesen oder kauen.

Drinnen wird weiter gewuselt und gedrängelt. In Halle 3 hat Dr.Oetker einen Stand. Essen kann man da nichts, kochen lernen schon. Gegenüber steht die Vollkornbrot-Literatur von Hanser und Luchterhand. Pompöse Stände. Die kleinen Verlage hingegen stehen zum Teil auf handtuchgroßen Plätzen, ein bisschen wie ein Schrebergarten, in denen jeder seine Gewächse pflegt und sorgsam zur Schau stellt. Nur die Gartenzwerge fehlen. Autoren lesen in Nischen vor ein paar Versprengten, die unruhig ihre Hälse verdrehen, weil ja jemand bekanntes vorbei laufen könnte. Dort der Fischer, hier der Matussek und da drüben, „ist das nicht der Dingsbums, weißt schon, der Die Vermessung der Welt geschrieben hat.“

Weiter weg, im gehobenen gastronomischen Bereich des Restaurants „Aubergine“ schnarren die Gesprächsfetzen der Verleger und Agenten. „Spitzentitel“ sollen rangeschafft, „Zugpferde“ präsentiert und der „Break-Even“ erreicht werden. Englische Literatur mache ja inzwischen jeder, lieber italienische Sachen, literarische Krimis, gern auch historisch, so richtige Schmöker halt, aber mit Anspruch und kommerziell, ja klar, „man hat ja nur wenige Slots“, „hier meine Karte“. Ein kurzes Weh und Ach über die Auflagen noch, dann werden die Nudeln serviert.

 

Endlich! Der Nobelpreis!

„Blauschielend der Himmel“, würde Friederike Mayröcker dichten. Das Radio sagt dazu: gutes Wetter. Aber das ist ja egal. Ist ja Buchmesse. Ist ja drinnen. Und ist schwülwarm und anstrengend. Menschen tragen Papptaschen rum, schieben und stoßen sich durch die Gänge. An vielen Buchständen zeigt sich gegen Mittag eine gewisse Spannung: Der Literaturnobelpreisträger wird gleich bekannt gegeben. Ein bisschen Weltmeisterschaftsgefühl. Beim Hanser-Verlag steht schon das ZDF, eine Journalistin hakt Fragen auf einem Zettel ab, der Kameramann entsichert sein Geschütz. Das Verlags-Personal ist vorbereitet und ist sich schon ein wenig sicher. Phillip Roth gilt seit Jahren als sicherer Preisträger. Immer wieder tauchte sein Name in den Spekulationen auf. Ein wenig der Martin Walser der amerikanischen Literatur. Wenn man böse wäre. Falls er gewinnt, wird die Buchwand umdekoriert. Dann heißt es Roth, Roth, Roth – solange das Fernsehen herumsteht. Der Sekt ist auch schon kalt. Sicher ist sicher.

Weniger Stress am Rowohlt-Stand. Mit Thomas Pynchon rechnet hier kaum jemand. Seine Bücher sind in den Regalen kaum zu finden. Ein anderer Kandidat lächelt an den Wänden S.Fischers herab. Aber auch er, Richard Ford, scheint nicht ernsthaft in Erwägung zu kommen. Auch der Verlag glaubt offenbar nicht dran. Oder ist er nur bescheiden?

Ein Stockwerk höher, mal wieder am Focus-Stand, lässt sich der Schauspieler Walter Sittler mit ein paar Gästen fotografieren, dann passiert’s, das Geraune beginnt: Ko Un? Nein. Pynchon? Neinnein! DeLillo? Neinneinnein! Oder Roth? N-E-I-N! Sondern die englische Schriftstellerin Doris Lessing! „Ach echt?“, sagt eine Besucherin. „Was hat’n die geschrieben?“ Das steht alles bei Hoffmann und Campe in Halle 3. Die Presse setzt sich in Bewegung. Man wird mitgeschoben, mitgezerrt, fast rennt man Alexa Hennig von Lange auf der Rolltreppe um, fegt vorbei an Roger Willemsen, und natürlich ist man nicht der Erste am Stand. Der Champagner in den Gläsern ist schon fast leer, Kameras blitzen, Videokameras halten auf das Stoffplakat der Schriftstellerin, die darauf gütig lächelt. Ihr jüngster Roman Die Kluft wird nachgelegt, das Regal muss voll. Verlagsangestellte Bettina von Sallwitz schüttelt Hände. „Na klar haben wir damit gerechnet“, scherzt sie. „Aber eigentlich ist sie ja seit einigen Jahren immer auf der Liste.“ Da sei man nicht allzu überrascht. Noch vor einer Woche hätten sie Doris Lessing getroffen, in Hamburgs Thalia-Theater. „Wer weiß, ob man dieser Frau noch einmal so begegnen kann.“ Schließlich ist Lessing 87.
Ein paar Studenten wurden vom Trubel angezogen. Sandra aus Bielefeld und Diane aus Stuttgart.
„Kennt ihr Doris Lessing?“
„Lessing, Lessing“, sagt Sandra und grübelt, „ist das nicht Nathan der Weise?“
„Nein“, sagt Diane, „die hat doch dieses Katzenbuch geschrieben.“

Das Journalistengedrängel wird weniger. „Hab alles!“, ruft einer, wischt sich die Stirn und klatscht in die Hände. Soviel Klischee muss sein. Außerdem locken die nächsten Bücherwände und die nächsten Schriftsteller. Ein paar Werbetaschen gibt’s sicher auch noch irgendwo. Ist ja Frankfurt. Ist ja Messe.

 

Kekse essen mit Christa Wolf

„Ey, geil!“ Vor einer Glasvitrine drängeln sich elf Schuljungen und stehen etwas umständlich im Gang herum. Der Gang zu Halle 3, die Kalenderabteilung. In den Auslagen stehen Kalender von Schiffen, Pandabären und, darum das „geil“, russische Mädchenkalender. Also mit Mädchen drauf, aber eher für Männer. Nude in Russia. Teil eins bis sieben. Träume schlafloser Schülernächte, der Albtraum der begleitenden Lehrerin: „Los, kommt schon! Wir sind hier, um echte Bücher anzugucken. Bücher! Und nicht so einen Schrott.“ „Haha“, macht ein Schüler, trottet aber dann mit seinen Kameraden der Lehrkraft hinterher. Rein ins Geschiebe.

Warm ist es, die Klimaanlagen blasen trockene Luft in die Hallen. Die zwei jungen Männer, die als Langenscheidt-Wörterbuch verkleidet Handzettel verteilen, sind nicht zu beneiden. Wer auf die Frankfurter Buchmesse geht, ohne Plan, ohne eigenes Programm, sondern nur darauf hofft, sich inspirieren zu lassen, der hat ein Problem. Es ist unübersichtlich! Überall locken Verlage mit überdimensionalen Postern ihrer Autoren: Da schaut Christa Wolf schwarz-weiß und matt auf einen herunter, ein paar Meter weiter Juli Zeh. Wer nicht weiß, wohin mit sich, kann in den dicken Broschüren nachgucken. In ihnen steht jeder Stand, jede Veranstaltung und sie riechen modrig wie ein Telefonbuch. Überall mikrofonverstärkte Stimmen. Wolfgang Clement redet am Focus-Stand über Bildung. Das Nachrichtenmagazin hat seinen Stellplatz ganz dem Thema gewidmet, dort stehen ein kleiner Hörsaal und ein paar Schulbänke. Manche sitzen sogar drauf. Davor schwadronieren Mädchen in engen roten T-Shirts und noch engeren schwarzen Hosen und versuchen Abos und Infos loszuwerden. In Lauf- und Hörweite bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung krächzt Joschka Fischer von Außenpolitik und Altersmildheit, und eine im Publikumshalbkreis sagt zu ihrem Begleiter: „Lass uns mal zu Suhrkamp, da waren die Kekse so gut.“

Vorher aber noch zu Pendo. Beim Stand ist das Gedränge nicht so groß, obschon Eva Herman ihr Arche-Noah-Prinzip dort veröffentlichte. Oder vielleicht auch deshalb. Eine Besucherin packt die Neugier: „Kommt Frau Herman auch an den Stand?“ Ihre Stimme klingt freudig aufgeregt oder aggressiv, das ist ab einer gewissen Tonlage ja nicht mehr zu unterscheiden. Die Dame am Stand schüttelt den Kopf. „Da hätten Sie gestern Kerner gucken müssen“, antwortet sie routiniert beflissen. Dann geht sie in die Mittagspause. Raus an die herrliche Oktoberluft.

P.S.: Die besten Kekse gibt’s beim ZuKlampen!-Verlag, Halle 4, Gang F, Stand 131. Falls Sie noch vorbeischauen wollen.

 

Mehdorn dichtet

Von den Machenschaften der Bahn bleibt man ja nicht verschont. Erst das endlose Gestreike der Lokführer, dann auf dem Weg zur Buchmesse kein Service im Bordbistro und jetzt auch noch das: Der Journalist Hugo Müller-Vogg sprach nicht nur mit Hartmut Mehdorn, nein, er macht ein Buch daraus! Es erschien gestern, trägt den passenden Namen Diplomat wollte ich nie werden und erscheint bei Hoffmann und Campe. Müller-Vogg ist ehemaliger Herausgeber der FAZ und schrieb in den vergangenen Jahren schon zwei ähnliche Begegnungsbücher. Eins über Angela Merkel und noch eins über Horst Köhler. Nun also Mehdorn. Anne Seith hat’s für Spiegel online schon gelesen. Und, gnade uns Gott, sie findet es ganz gut.

Die ersten 90 Seiten seien langweilig, schreibt Seith. Da frage sich Müller-Vogg durch die Kindheit des Bahnchefs, und heraus kommen Sätze, die einem Robin Hood zur Ehre gereichten: „Ich habe mich auf dem Schulhof für die Schwächeren geprügelt.“ Mit seiner Körpergröße sei „Macher“ Mehdorn sehr zufrieden. 1,70 m, „Astronautenmaß“. Habe der Leser das alles überstanden, werde das Buch spannend. Dann trete der „typische Mehdorn“ zu Tage. Doch auch seine heitere, träumerische Seite. Zuweilen wird’s gar discount-poetisch, spricht Mehdorn über den geplanten Börsengang des Unternehmens: „Mutter und Baby müssen sich trennen. Der Börsengang ist der Schnitt in die Nabelschnur.“ „Sehr lebhaft“, findet das Anne Seith. Vielleicht lesen wir ja fürderhin ein Paar Zeilchen Mehdornscher Poesie auf den Gleisanzeigen, gleich hinter dem Hinweis „Die Abfahrt des Zuges verzögert sich um unbestimmte Zeit“.

Und wer ist danach dran? Mehr Manager, mehr Macher, mehr Player – so nennt Hugo Müller-Vogg diese Leute. Josef Ackermann vielleicht? Ich hätte dafür schon einen Namen: „Gespräche mit Ackermann“. Goethe möge mir diesen Kalauer verzeihen.

 

Die Kaiser haben’s gesehen

Frankfurt, Montag, kurz vor sechs, Kaisersaal im Römer. Von oben flimmern wuchtige Kronleuchter, von den Seiten blicken in Öl gemalte deutsche Kaiser auf das Treiben im Prunkzimmer. Friedrich, Wilhelm, Karl der Große. Was sie sehen: Männer in schwarzen Anzügen, Frauen in Hosenanzügen und dunklen Kleidern klimpern mit Perlenketten, Kellnerinnen tragen Sekt herum und das Fernsehen ist auch schon da. Verleger, Journalisten und die Autoren natürlich. Nur geladene Gäste. Großer Betriebsnudelauflauf. Und alle warten nur auf eins: den wichtigsten Roman des Jahres. Die Verleihung des Deutsche Buchpreises. Er soll als größter deutscher Literaturpreis etabliert werden, verliehen vom Börsenverein des deutschen Buchhandels, mit 25.000 Euro dotiert.

Eine siebenköpfige Jury nahm sich sechs deutschsprachige Romane zur Brust, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Das bin doch ich zum Beispiel – Thomas Glavinics humorvolle Betrachtung des Literaturbetriebs, oder Julia Francks Die Mittagsfrau, ein poetischer Familienroman zwischen den zwei Weltkriegen. Liebesromane gab’s auch: Martin Mosebachs Der Mond und das Mädchen und Böse Schafe von Katja Lange-Müller. Das einzige Debüt auf der Liste, die auch beim deutschen Buchpreis „Shortlist“ heißen muss, war Thomas von Steinaeckers Wallner beginnt zu fliegen. Zuletzt noch Michael Köhlmeyers Abendland.

Handys aus! Die Reden. Petra Roth, die Bürgermeisterin Frankfurts, beginnt, zitiert Goethe und alle klatschen, wegen Frankfurt und Goethe. Eine Frau platzt mit Sektglas hinein in den Saal, in die Stille und wird freundlich herausgeschickt. „Lassen Sie den Sekt bitte draußen, ja?“ Gottfried Honnefelder, Vorsteher des Börsenvereins, ist der nächste am Pult. Nimmermüde betont er, die Verlage hätten keinen Einfluss auf die Auswahl der Bücher, nein, die Jury sei unabhängig und resistent gegen allerlei Anfragen oder gar Lenkung von außen. Eine Dame flüstert leise, aber so dass man es drei Reihen weiter noch hören kann: „Aber dreimal Hanser Verlag ist schon komisch“, und ein paar nicken. Honnefelder hofft, dass der Preis den Buchverkauf ankurble, alle sechs Bücher Bestseller würden, gerade zum Weihnachtsgeschäft. Das Schriftsteller-Dasein fasst er so zusammen: Papier, ein Laptop, Ruhe und vielleicht mal ein Glas Wein.

Jury-Vorsitzende Felicitas von Lovenberg sagt auch noch einmal, wie unabhängig die Jury sei. Warum sich alle Redner bemüßigen, das wieder und wieder zu erklären, weiß keiner. Ist ja auch egal. Videos laufen an. Kurzporträts der einzelnen Autoren, die ersten Sätze der Bücher, dann noch ein paar warme Worte eines Juroren. Katja Lange-Müllers Porträt erntet Beifall und Gelächter. Sie sitzt im Video am Küchentisch, schnippelt Bohnen in eine Schale und erzählt, dass Kochen und Schreiben eigentlich nicht viel gemeinsam hätten, aber irgendwie doch.

Und? Wer isses? Julia Franck! Sichtlich überrascht steht sie am Pult. Damit habe sie nicht gerechnet, sagt sie mit wackliger Stimme. In der Tat: Favoritin war sie nicht. Eher Lange-Müller oder der Frankfurter Mosebach. Wäre ja sein Heimspiel gewesen. Umso schöner, dass Franck ihn gewinnt und ihre Dankesrede kurz hält: Verleger, Lektor, ersten Leser, alle Leser, danke, tschüss. Sie vergisst sogar die Urkunde auf dem Pult, so eilig stürzt sie wieder vom Podium. Ein älterer Herr sagt zu seiner Begleiterin: „Also, ich hab ja nur den Mosebach versucht, aber der erste Satz von dieser jungen Dame“, er zeigt dorthin, wo eben noch Julia Franck gestanden hat, „der hat mich sofort überzeugt.“

Hier ist er: „Auf dem Fensterbrett stand eine Möwe, sie schrie, es klang, als habe sie die Ostsee im Hals, hoch, die Schaumkronen ihrer Wellen, spitz, die Farbe des Himmels, ihr Ruf verhallte über dem Königsplatz, still war es da, wo jetzt das Theater in Trümmern lag.“

 

Plädoyer für Pynchon

Am 11. Oktober hat die Welt einen neuen Literatur-Nobelpreisträger. Da wird schon wild spekuliert. Don DeLillo, Phillip Roth, Ko Un oder Thomas Pynchon. Da machen wir mal mit! Ich möchte, dass Thomas Pynchon gewinnt. Nicht, weil ich seine Bücher besser finde als die von Roth zum Beispiel. Nein, aus einem einfachen Grund: Ich will wissen, wie er aussieht! Alle öffentlichen Bilder von ihm sind älter als 50 Jahre. Er verbittet sich seit mehr als 40 Jahren jedwedes Foto. Ein Phantom des Literaturbetriebs, das sogar in Simpsons-Folgen auftritt: mit einer Papiertüte über dem Kopf. Es gibt sogar die Geschichte, die CIA habe ihn Jahre lang beschattet, weil ihr der Foto-Boykott verdächtig vorkam. Eine weitere erzählt, dass Pynchon und der Schriftsteller J.D. Salinger lange Zeit als eine Person galten, weil auch Salinger sich zu einem ähnlichen Zeitpunkt aus der Öffentlichkeit zurückzog. Allerdings weiß man von ihm, wie er aussieht.

Nun. Sollte Pynchon den Preis tatsächlich bekommen, bestünde ja vielleicht die Chance, ihn endlich einmal zu Gesicht zu bekommen. Immerhin würden ihm auf der Verleihung noch ein paar Möglichkeiten bleiben, sein Antlitz vor gierigen Pressefotografen und Fernsehteams zu verbergen. Peter Licht hat es auf dem diesjährigen Bachmann-Preis vorgemacht. Die Kameras durften ihn nicht von vorn filmen, nur seinen Rücken, seinen Text, und was aus der Regie sonst noch so befohlen wurde. Sehen Sie selbst. Und wenn Sie schon mal da sind: Hören Sie auch den Text. Der ist hervorragend.

Was meinen Sie? Wem wünschen Sie den Nobelpreis?

 

Und schon wieder: Kehlmann

Der österreichische Schriftsteller Daniel Kehlmann bekommt den Welt-Literaturpreis 2007 für seinen Roman Die
Vermessung der Welt
. Der Preis wird am 9. November bei einem Festakt im Axel-Springer-Haus in Berlin übergeben. Die Laudatio hält Hellmuth Karasek. Die Jury lobte Kehlmanns Bestseller über Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß als „eminent intelligenten, gleichermaßen witzigen und gelehrten Roman“, schrieb die Zeitung Die Welt am Freitag.

Der Preis erinnert an den Publizisten Willy Haas, der 1925 Die literarische Welt gründete. Die mit 10 000 Euro dotierte Auszeichnung würdigt ein einzelnes Buch oder ein Gesamtwerk. Zu den Preisträgern gehörten unter anderem Bernhard Schlink, Imre Kertész, Yasmina Reza und Rüdiger Safranski. Kehlmann wurde bereits mit dem Kleist-Preis, dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung und dem Heimito-von-Doderer-Preis geehrt.

Glückwunsch!

 

Jesus auf dem Kiez

An einem freien Tag wie heute hat man Zeit aufzuräumen. Was man dabei aus manchen Kisten zu Tage fördert, ist schon bemerkenswert. In einem Karton voller aussortierter Bücher fand sich ein Büchlein eines Autors namens Dankmar Fischer. Es heißt „Mit Jesus auf der Reeperbahn“ und ist 1978 in der Reihe 28 erschienen, einer Serie, die auf „verschiedene Art und Weise das erstaunliche, oft verblüffende Eingreifen Gottes in das Weltgeschehen und in das ganz persönliche Leben unserer Mitmenschen“ zeige. Man könne darin „das machtvolle, umgestaltende Handeln Gottes in unserer Zeit“ entdecken. Nun denn. Auf 64 Seiten erzählt der Autor, wie er auf St.Pauli arbeitet und versucht, ins Vergnügungsviertel, in dem es nach Suff und Sünde riecht, den Herrgott einkehren zu lassen. Es beginnt rasant: mit einem U-Bahn-Dialog. Und der geht so:

„Schon in der U-Bahn führte er mich in die Geheimnisse der Großstadt ein, krempelte seinen Ärmel hoch und fragte mich: ‚Weißt du, was das ist?‘ Ich sah nur lauter kleine Wunden und sagte: ‚Nein.‘ Da sagte er ein wenig verheißungsvoll: ‚Ich spritze.‘ Da ich soeben einen Sanitätskurs beim Roten Kreuz beendet hatte, sagte ich mit medizinischem Sachverstand: ‚Ach so, du bist zuckerkrank und spritzt Insulin.‘ Er lachte mich aus, tippte sich mit dem deutschen Autofahrergruß an die Stirn und sagte: ‚Mann, bist du doof! Ich spritze Heroin.‘ Dann faßte er noch nach meiner Hand und meinte: ‚Homosexuell bin ich auch.'“

Puh. Wenige Seiten später ist er in der Herbertstraße, die sündige Bordellstraße, die Frauen nicht betreten dürfen. Er läuft da durch und ist zunächst schockiert: „Links und rechts sitzen die Fleischmassen in den Schaufenstern. Erst ekelte es mich unheimlich.“ Und dann? „Dann durchzuckte es mich: Auch dies sind Menschen, die Jesus liebt, für die er gestorben ist.“
Dann beginnt seine Mission. Wie gesagt, 64 Seiten lang. Er singt, er redet mit Prostituierten, trägt Fahnen mit „Blut und Feuer“ umher und bringt Gottesfurcht und Demut auf die Reeperbahn. „Wir meinen, daß gerade Menschen, die im Vergnügungsviertel untertauchen, unsere Hilfe brauchen.“ Unbedingt. Aber nicht mehr solche Bücher.

Was haben Sie heute gelesen an Ihrem freien Tag? Oder haben Sie auch ein skurriles Buch gefunden, irgendwo beim Aufräumen?

P.S.: Wer das Buch von Dankmar Fischer übrigens haben möchte, der soll sich melden – ich schicke es gerne zu.

 

Morgen feiert Danzig

Am Donnerstag feiert die polnische Stadt mit großem Programm den bevorstehenden 80. Geburtstag ihres berühmten Sohnes Günter Grass. Höhepunkt ist eine Podiumsdiskussion am Donnerstag mit dem deutschen Literaturnobelpreisträger. Daran nehmen auch der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker, der ehemalige polnische Arbeiterführer und Präsident Lech Walesa und der polnische Ex-Außenministers Stefan Meller teil. Es geht um die Zukunft der Beziehungen zwischen Polen und Deutschen nach den Erfahrungen der Vergangenheit. Grass wurde am 16. Oktober 1927 in Danzig geboren.

Vorgesehen sind außerdem eine Konferenz über Literatur, Kunst und Politik im berühmten Artushof in der Danziger Altstadt, die
Uraufführung eines polnischen Theaterstücks, das auf Grass‘ Roman Die Blechtrommel basiert und ein Jazzkonzert mit zu dieser Gelegenheit komponierten Stücken des Danziger Komponisten Mikolaj Trzaska. Außerdem gibt es zwei Kunstausstellungen mit Werken des Nobelpreisträgers, der neben seiner literarischen Arbeit als bildender Künstler Zeichnungen, Grafiken, Lithographien, Aquarelle und Skulpturen schafft. Unter anderen werden mehr als 50 Grafiken gezeigt, die Grass seiner Heimatstadt geschenkt hat.

Pünktlich zur vorgezogenen Geburtstagsfeier ist die polnische Übersetzung der Grass-Autobiografie Beim Häuten der Zwiebel erschienen. Das Eingeständnis des Autors, zum Ende des Zweiten Weltkrieges einige Monate bei der Waffen-SS gedient zu haben, bevor der im April 1945 verwundet wurde, hatte im vergangenen Jahr in Polen zunächst für Aufregung und Empörung gesorgt. Einige Stadtväter verlangten, er solle auf die Ehrenbürgerschaft der Hansestadt verzichten. Diese Diskussion wurde jetzt im polnischen Wahlkampf mit seinen stark antideutschen Tönen weitergeführt. So haben die Stadtverordneten der Regierungspartei der Brüder Kaczynski «Recht und Gerechtigkeit» (PIS) demonstrativ die Einladungen zu Veranstaltungen mit Grass abgelehnt. Der Stadtpräsident von Danzig Pawel Adamowicz, der Grass eingeladen hat, gehört zur wichtigsten Oppositionspartei der «Bürgerplattform» (PO).

Grass hatte letztes Jahr in einem Brief an die Stadtverwaltung erklärt, dass er 1944 nicht freiwillig in die Waffen-SS eingetreten,
sondern eingezogen worden sei. Daraufhin veranstalteten die Stadtväter eine Umfrage. Darin erklärten 52 Prozent der Einwohner der Stadt, Grass brauche nicht auf die Ehrenbürgerschaft zu verzichten, 20 Prozent waren der Meinung, man soll ihm die Ehrenbürgerschaft wieder entziehen.

Am 20. Oktober feiert Grass übrigens in Göttingen eine Riesenparty. John Irving kommt, Westernhagen auch. ZEIT online wird erzählen, wie es war.

(mit dpa)

 

Geschnitten, nicht gewonnen

Professor Stephan Füssel ist Leiter des Institus für Buchwissenschaft an der Universität Mainz. Klingt gut. Aber was macht man da? Wikipedia weiß Bescheid: Ein Buchwissenschaftler erfasst „das Buch in seinen kulturellen, wirtschaftlichen, medialen und technischen Eigenschaften. Neben Betriebswirtschaft integriert die Buchwissenschaft in wechselndem Umfang auch kommunikations-, kulturwissenschaftliche und historisch-philologische Forschungsinhalte. Vereinfachend kann behauptet werden, dass sich Buchwissenschaft mit allen Aspekten beschäftigt, welche mit der Produktion, der Distribution und der Rezeption geistiger Werke zusammenhängen.“ Wahre Kenner des Buchmarkts also. Und die sind zur anstehenden Buchmesse gefragt.

Stephan Füssel sagte nun der dpa, Buchpreise würden fürderhin immer wichtiger, damit Verlage die Bücher loswerden. „Der alleingelassene Kunde möchte gerne so etwas wie eine Empfehlung.“ Gleichwohl weist er darauf hin, dass es mehr deutsche Literaturpreise als Tage gäbe: 394 nämlich. Und nicht alle seien repräsentativ. Die Wirkung hänge davon ab, wie seriös es auf der Verleihung zugehe. Der Deutsche Buchpreis könne zu einer richtigen „Marke“ werden; der bayerischen Corine-Preis hingegen ergehe sich in zuviel „Glamour“ und Fernseh-Tamtam. Das sei schädlich.

Und auch der Ingeborg-Bachmann-Preis habe sich in den vergangenen Jahren zur einer „experimentellen Selbstinszenierung“ entwickelt, sagt Füssel. „Wer dort sitzt und sich vor laufender Kamera einen Schnitt in die Stirn macht, der hat dann eben Erfolge.“ Na! Dass Rainald Goetz sein Subito blutüberströmt in Klagenfurt las, ist 24 Jahre her. Den Preis hat er nicht gewonnen, und seine Bücher sind auch keine Riesenerfolge. Der Wettbewerb des Bachmann-Preises ist das Gegenteil von experimentell: Das Publikum hält bereits den Atem an, wenn ein Autor mal nicht artig auf dem Stuhl sitzt, sondern lieber steht und dann und wann Musik einspielen lässt. Sehr zum Missfallen der Juroren. In den vergangenen Jahren war Klagenfurt eins: viel brav dahin erzählter Realismus und wenig originelle Texte.

Und für die alleingelassenen Kunden noch eine Empfehlung: Lutz Seilers vierzig kilometer nacht. Lyriker und Bachmannpreis-Sieger. Ohne Blut und Rasiermesser.