Will man der englischen Presse glauben, sind The XX das nächste große Ding. Wer lieber tiefer stapelt, entdeckt eine Band, die aus der Reduktion relevanten Pop schafft
Die Aura gepflegter Ereignislosigkeit ist eigentlich das Metier moderner Klassik. John Cage beherrschte sie in Perfektion, die Einstürzenden Neubauten schaffen es bis heute, bisweilen gelingt’s auch sinfonischem Ambienttechno aus dem Rechner. Pop dagegen brüstet sich ja eher der Klang- und Zeichendichte als der Zurückhaltung.
Jetzt aber pflegt eine neue Band aus London den Stil des Nichtspassierens, die ebenso reduziert wie ihr Sound The XX heißt. In klassischer Besetzung minimieren zwei junge Frauen und zwei ebenso junge Männer ihre Instrumente zu derart spärlicher Begleitung des feinen Duettgesangs, dass manchmal unsicher erscheint, ob wirklich etwas stattfindet in den Boxen.
Doch das tut es. Denn die Ereignislosigkeit ist keinesfalls so eindringlich und betörend, weil nichts los wäre auf dem Debütalbum mit dem schlichten Bandnamen als Titel, sondern weil sich nicht jedes Lied, jeder Refrain, jede Strophe, jedes Riff zum Event aufspielt. Weil jeder einzelne Ton so sehr für sich selbst steht, dass er in sich schwelgen kann, ohne aufs Außen zu achten.
Schon im wunderschönen, fast quirligen Instrumental-Intro ist das zu spüren, mehr aber noch in den zehn nachfolgenden Stücken mit den Stimmen von Romy Madley Croft und Oliver Sims: Kein Ton streitet mit einem anderen um die Aufmerksamkeit des Hörers, Sims Gitarre wirkt stets gezupft, das Schlagzeug wechselt HiHat, Snare- und Base-Drum ab, anstatt alles wie gewohnt übereinanderzulegen. Den Bass muss man mit dem Stethoskop suchen, so unscheinbar vibriert er vor sich hin.
So gewinnt jede einzelne Note unweigerlich an Relevanz. Crystal Alised, VCR oder das großartige Heart Skipped Beat, alles bezaubernd wie Heather Nova, melancholisch wie Yo La Tengo, traurig wie Chris Isaak und doch ganz The XX. Ein wenig trist, aber selten mutlos. Wie der Soundtrack zu einem isländischen Landschaftsfilm, doch nie langweilig.
Natürlich müssen ein paar Mythen her, um das Album toll zu vermarkten. So will’s die legendensüchtige Popindustrie in England. Weil die Musiker sich nichts sagen lassen wollten, hätten sie das Album selbst produziert. Ihre Instrumente hätten die vier Teenager erst während der Aufnahmen gelernt. Das erinnert an die Arctic Monkeys und die DIY-Attitüde unbedarft brillanter Straßenjungs.
Die Lieder, soviel zur Positionierung im digitalen Jetzt, entstehen angeblich eher in Chatrooms als Proberäumen. Und auch der Habitus unkonventioneller aber unauffälliger Jugendlicher aus der bürgerlichen Vorstadt fügt sich ins Bild blässlicher Shoegazer, Cockney-Englisch inklusive. Der Trendseismograph NME ist bereits angesprungen und spricht vom neuen Stern am Londoner Musikhimmel.
Das ist vielleicht etwas hoch gegriffen, dafür sind The XX dann doch zu sperrig, zu wenig Britpop, zu sehr sie selbst. Sie mögen an den Wave der Achtziger erinnern. Die ernste Oberflächlichkeit von damals aber wandeln sie in ernsten Tiefengrund. Das kann die Gegenwart ganz gut gebrauchen.
„The XX“ von The XX ist auf CD und LP erschienen bei Beggars/Indigo
…
Weitere Beiträge aus der Kategorie POP
Oneida: „Rated O“ (Jagjaguwar/Cargo Records 2009)
DJ Dangermouse & Sparklehorse: „Dark Night Of The Soul“ (2009)
La Roux: „La Roux“ (Universal 2009)
Little Boots: „Hands“ (Warner Music 2009)
Phoenix: „Wolfgang Amadeus Phoenix“ (V2/Cooperative Music 2009)
Coloma: „Love’s Recurring Dream“ (Italic Recordings/Rough Trade 2009)
Phillip Boa & The Voodooclub: „Diamonds Fall“ (Constrictor/Rough Trade 2009)
Pet Shop Boys: „Yes“ (Parlophone/EMI 2009)
The Whitest Boy Alive: „Rules“ (Bubbles 2009)
Baby Panda: „Avalanche Kiss“ (Unspeakable Records 2008)
Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik