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Zauberhafte Melancholie

Sie können singen, dass einem schummrig wird; ihre Melodien sind sperrig. Auf „Visible Forms“ bringen Audrey aus Schweden den Herbst zum Klingen

Cover Audrey

Zaudernd setzt das Klavier ein, synthetisches Züngeln mischt sich darunter. Das Schlagzeug stapft los, gedämpft wie von frischem Laub. Und diese Stimmen! Klar und voller Wehmut. Sie kommen näher, schleichen sich heran: hereinspaziert in die ersten Klänge von Visible Forms, dem Debüt von Audrey.

Vor vier Jahren gründeten Anna Tomlin, Emelie Molin, Victoria Skoglund und Rebecka Kristiansson die Band in dem kleinen Ort Henån, auf einer Insel bei Göteborg. Sie machen sparsamen Folk mit sperrigen Melodien.

Durch ihre neun Lieder ziehen sich immer wieder lange Instrumentalpassagen. Verträumtes Klavierklimpern ufert jäh aus in Gelärm, der Cellobogen webt dazu warme Töne in den Klangteppich. Ein geordnetes Gefühlschaos. Bedächtig setzen sie Ton an Ton. Nie klingen die Stücke überladen.

Dazu singen die vier, dass einem ganz schummrig wird. Mühelos schweben sie die Oktaven hinauf, hängen über der Musik. Hier vierstimmig gehaucht, gesummt, dort aus vollen Kehlen. Manchmal ein wenig scheu. Und immer so verführerisch.

Dann verdunkelt sich die Stimmung plötzlich. Trompetenstöße tröten einen durchgeknallten Stegreifjazz. Das Cello zirpte eben noch, nun schnarrt es vor Groll. Der Synthesizer knistert. Unheimliches Rascheln legt sich über die Musik. Etwas Dräuendes naht. Und Audrey flüstern ängstlich: „Catch your last breath, it’s coming“, immer wieder. Der Takt von Treacherous Art beschleunigt, treibt den Hörer minutenlang durch düstere Klaviersätze. Dann endlich die Lichtung. Trauer hat sich in die Stimmen gemogelt. Sie klingen, als schluckten sie ein paar Tränen. Fern bläst ein Flügelhorn körnige Fanfaren. Der Tag bricht an. Von hell zu dunkel dauert es bei Audrey nur ein paar Trommelschläge.

Beinahe alle Lieder haben etwas Erhabenes. Nur der Beginn von Six Yields stampft mit donnernden Paukenschlägen voran, man möchte mitwippen, da wird es mal rockig für ein paar Minuten. Wenn man aber genau hinhört, dann hört man ihn schon wieder: diesen Chor vom Verlassenwerden. Melancholie kann so zauberhaft klingen.

„Visible Forms“ von Audrey ist erschienen bei Sinnbus

Hören Sie hier „Mecklenburg“

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Im Diskonebel

Justin Timberlakes Album „Futuresex/Lovesounds“ macht Feierlaune. Oft jedoch trägt er zu dick auf und versucht, wie Michael Jackson zu klingen

Cover Timberlake

Schüchtern blickt sie über die Tanzfläche. Sie ist zum ersten Mal hier. Bunt blitzen die Scheinwerfer durch den Diskonebel. Und da ist auch dieser junge Mann. Er ist Mitte zwanzig und hat lockiges, helles Haar. Kratzende Fanfaren und ploppende Bongos geleiten ihn, die ersten Takte von Sexyback.

Den Typen kenn ich, denkt sie. Der hat doch bei ‚NSync gesungen. Dieser Jungsgruppe, deren Poster meine kleine Schwester sich zuhauf an ihre Zimmerwand getackert hatte? Aha, neuerdings trägt er ein Kinnbärtchen. Sie unterdrückt ein Kichern, da hat sich der junge Mann schon ihren Arm geschnappt und zieht sie in die schwitzende Menge.

„Baby, I’m your Slave!“, singt er. Hoppla, der geht ja ran, denkt sie. Inzwischen ist ihr sein Name eingefallen, Justin Timberlake. Die Musik schwillt an, räkelt sich um die Diskokugel. Der Bass schlendert zurück in den dunklen Soul der Siebziger. Der junge Mann umschleicht das Mädchen. Seine helle Stimme bezirzt sie, er zuckt, geht auf die Knie. Sexy Ladies ist ein wummernder Balztanz. Immer wieder pirschen seine Lippen nah ans Mädchenohr. Und säuseln pfötchenweich: „Do you like it like that?“ Unsicher blickt sie sich um.

Am Rand der Tanzfläche stehen nun zwei Männer, die Arme verschränkt. Sie heißen Timbaland und Will.i.am und haben die dreizehn Lieder aufgenommen. Die zwei nicken dem Mädchen zu, klatschen in die Hände, sprechen vor sich hin: „Aha, yeah“. Sie tanzt weiter. Ihre Knie wippen zur knarzenden Orgel in Damn Girl. Sie verliert sich in den lässigen Streichersamples von Chop Me Up. Bei Summer Love streicheln Keyboardklänge sanft ihr Haar. Wie das schwingt! Tanzen, tanzen, tanzen. Vielleicht hätte sie andere Schuhe anziehen sollen.

Puh, Pause. Der Anfang von Until The End Of Time ertönt. Ein seichtes Schlagzeug rollt über einen bonbonrosafarbenen Flokati aus Cello und leiser Gitarre. Was ist da mit seiner Stimme los? Er möchte klingen wie Michael Jackson, schafft aber nur ein asthmatisches Falsett. Sehnsüchtig wandern die Augen des Mädchens zur Tanzfläche. Sie wartet, dass der Synthesizer wieder ein paar Ladungen Flitter und Lametta schießt. Den Schmachtfetzen My Love erduldet sie tapfer. Doch als Timberlake Losing My Way anstimmt, schlüpft sie in ihre Jacke. Dieses wachsweiche Rührstück über einen Jungen namens Bob – es ist einfach zu viel.

Vom berauschenden Diskofieber bleibt am Ende nur schwülwarmer Dunst.

„Futuresex/Lovesounds“ von Justin Timberlake ist erschienen bei Sony/BMG

Hören Sie hier „Damn Girl“ und „My Love“

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Verkatert unter Sternen

Magnolien faszinieren den Liedermacher Jason Molina. Der Name seines aktuellen Projektes Magnolia Electric Co. spielt darauf an. Auch die Stücke auf dem Album „Fading Trails“ sind empfindliche Gewächse von zarter Blüte

Magnolia Electric Fading

Die Plattenhülle passt nicht. Eine barbusige junge Frau steht in einer milchig grau kolorierten Höhle und greift sich in den sparsam verhüllten Schritt. Wo sind die träumerischen Landschaftsaufnahmen geblieben? Die düsteren Zeichnungen, die jede Platte von Jason Molina zu einer Freude machten? Das Äußere von Fading Trails erinnert eher an ein frivoles R’n’B-Album als an die düsteren Lieder, die Molina seit mehr als zehn Jahren veröffentlicht.

Die meisten seiner Alben sind unter dem Pseudonym Songs: Ohia erschienen, seit 2003 nennt er sein Projekt Magnolia Electric Co. Dazu ein kurzer Ausflug in die Pflanzenkunde: die hawaiianische Zierpflanze ‚Ohi’a lehua und die gemeine Magnolie zählen zu der Gattung Magnoliaceae. Beide sind empfindliche Gewächse von zarter Blüte.

Früher war der Mann aus Ohio Gitarrist einer Heavy-Metal-Band, dann tauschte er die halbstarke Krachgitarre gegen eine halbakustische ein. Er entdeckte die Liedermacherei und arbeitete fürderhin zusammen mit den Großen des sogenannten Alternative Country, mit Will Oldham, Alasdair Roberts oder den Schotten von Arab Strap. Inzwischen hat er über 20 Platten herausgebracht.

Seine Lieder wären wie einsame Fahrten auf einem Heuwagen durch den mittleren Westen der USA, schrieb einmal die Chicago Tribune. Molina zeigt auf verkommene Häuser und Hillbilly-Kneipen und erzählt zartbittere Geschichten von Vorstadtliebe und Abschiednehmen. Und von Wölfen, ländlichen Vollmonden, Eulen und den Sternen. Molinas Stimme klingt stets leicht verkatert und schütter, sie lässt keinen Kitsch zu. Wenn sie laut wird, erinnert sie an Neil Young – mit einem hartnäckigen Schnupfen.

Die neun Stücke auf Fading Trails wurden in kleinen Studios und Wohnzimmern aufgenommen, das Album klingt weniger homogen als frühere. Das Anfangsstück Don’t Fade On Me ist ein eindringlicher Monolog an die verflossene Geliebte, unterlegt mit einem seichten Schunkelrhythmus. Das Stück Old Horizon ist spärliche Kammermusik, es besteht nur aus einem Klavier und Molinas tragischem Gesang. Zu Memphis Moon streichen Jazzbesen über die Trommelfelle, die beinahe tropischen Gitarren klingen wie deprimierte Beach Boys. Im Refrain von A Little At A Time kann man zuweilen Akkorde kraftvollen Südstaatenrocks hören. Und das abschließende Steady Now ist eine wunderbar spartanische Nashville-Nummer der lange Weg eines Wanderers, der die Geister in den Baumwipfeln beschwört.

Der Vielseitigkeit von Fading Trails könnte man stundenlang lauschen, wäre das Album nicht nach einer halben Stunde schon zu Ende.

„Fading Trails“ von Magnolia Electric Co. ist als LP und CD erschienen bei Secretly Canadian

Hören Sie hier „Lonesome Valley“

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Passiert da noch was?

Die Early Day Miners machen ruhige, melancholische Gitarrenmusik. Ihr neues Album „Offshore“ besteht aus sechs Variationen eines Stückes. Das ist unterhaltsam,­ wenn man genau hinhört

Cover Early Day Miners

„Sag mal…“. Meine Freundin steht im Türrahmen und sieht mich wütend an. Dann schaut sie hinüber zum CD-Spieler, in dem sich Offshore dreht, das neue Album der Early Day Miners.
„Hat die CD einen Sprung?“
„Das soll so.“
„Aha.“

Sie schaut auf die Digitalanzeige, auf der inzwischen die vierte Minute des ersten Stücks, Land Of The Pale Saints, heruntertickt.
„Passiert da auch noch was?“
Das Schlagzeug hält stoisch den Rhythmus, der Bass grollt und zwei Gitarren schraddeln immergleiche Akkorde. Wie in einer Zeitschleife, neun Minuten lang.
„Nein, erst im nächsten Stück“, antworte ich zögernd.
Meine Freundin seufzt: „Oh, wie langweilig.“
Ist es nicht.

Die sechs Stücke des Albums sind Variationen eines älteren Liedes mit dem Namen Offshore. Jedes kreist um einen Aspekt des Ursprungsstücks, um ein Gitarrenriff, einen Rhythmus, eine Textzeile, einen Basslauf. Hier und da greift die Band Spielereien auf, die damals nicht hineinpassten. Das Album Offshore sei der „Director’s Cut“, die lange Version des alten Liedes, sagt Sänger und Schreiber Daniel Burto. Nahtlos sind die Stücke aneinander gefügt.

Shoegaze nennt man ihre Musik, weil die Musiker auf ihre Schuhe und die vielen Effektpedale starren und ansonsten dastehen, wie in den Boden gerammt. Ihre Musik hat andere Strukturen, als Pop- oder Rocksongs: keine Strophe, keinen Refrain, sondern zittrige Klangwände aus Gesang, Gitarre, Bass und Schlagzeug.

Die vier amerikanischen Musiker schlafwandeln in ihren Melodien. Wer ihnen folgen will, muss geduldig sein. Dann entdeckt man, wie fein ihre Lieder perforiert sind, wie viele kleine Ideen in ihnen stecken. Hier vorne ein Fiepen, da hinten ein Vibraphon, um die Ecke lauert eine Rückkopplung, schließlich hört man nur noch das hypnotische Züngeln aus dem Synthesizer – ehe sie zu der Melodie zurückkehren, auf der alle Lieder des Albums basieren.

„Singt der auch mal?“, fragt meine Freundin, die neben ihren Klassenarbeitskorrekturen und Unterrichtsvorbereitungen weder Zeit noch Geduld findet für derartige musikalische Entdeckungsreisen. Immerhin hat sie sich nun hingesetzt.
„Ja“, sage ich. „Aber selten.“

Die meisten Stücke sind instrumental. Wenn Daniel Burton etwas singt, sind es meist lose Sätze, Versatzstücke aus dem alten Song. Wie in Deserter. Dringlich klingt es, wenn er „Everything you chase is empty without faith“ säuselt. In Return Of The Native überlässt er der Folksängerin Amy Webber den Gesang: „I’m losing you to your desires / In hotel rooms with ocean views“, heißt es dort, während das Lied zu einer psychedelischen Country-Nummer wird.

Meine Freundin steht auf. Eine halbe Stunde ist vergangen. Die letzten Töne sind gerade aus den Lautsprechern gedrungen.
„Ich wollte dir vorhin sagen, du sollst leiser machen.“
Pause.
„Aber irgendwie habe ich es vergessen.“

„Offshore“ von den Early Day Miners ist als LP und CD erschienen bei Secretly Canadian

Hören Sie hier „Deserter“

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Can: „Tago Mago“ (Spoon Records 1971)
Cursive: „Happy Hollow“ (Saddle Creek 2006)
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Ein warmes Klagen

Das Gesamtwerk des Will Oldham alias Bonnie Prince Billy lässt sich kaum überschauen – dabei ist der eigensinnige Country-Musiker gerade mal 36 Jahre alt. Sein jüngster Streich, „The Letting Go“, wird die Puristen einmal mehr schockieren

Cover Bonnie Billy

Als was soll man diesen Mann aus Louisville bezeichnen? Countrymusiker ist er. Ein Phänomen, ein bisschen verrückt. Fleißig, manisch. Sein Werk besteht aus zahllosen Alben, Mini-Platten, Singles, Kooperationen und Filmmusiken. Von der Menge her könnte er es wohl mit Bob Dylan aufnehmen. Dabei ist Oldham gerade mal 36.

Der Wiener Standard nannte ihn „den hässlichsten Mann der Musikgeschichte“. Nun, es lassen sich viele Namen für Will Oldham finden. Er denkt sich auch immer wieder neue aus. Palace nannte er sich, Palace Brothers oder jetzt, seit einiger Zeit, Bonnie Prince Billy – eine Mischung aus Hochadel und dem Revolverhelden William Bonnie alias Billy the Kid.

Seit über einem Jahrzehnt schon begeistert er eine wachsende Gemeinde; er führt ein junges Publikum heran an ein Genre, dem der Mief und Pief amerikanischer Südstaaten anhaftet. Country-Puristen sind oft schockiert, wenn sie von ihm hören. Will Oldham hat sich nie geschert um das Klischee vom kautabak-spuckenden Cowboy und seiner Gitarre. Er hat Hank Williams nie gemocht, wuchs auf mit Rock und Punk, den Ramones und Dinosaur Jr. Und auf seinen Platten musiziert er oft mit einer opulenten Band. Während seine allgemein bekannten Kollegen inzwischen so alt klingen und werden, wie ihre Fans schon lange sind, bricht er mit den Traditionen. Nicht nur formal, auch textlich.

Oldhams Sprache ist poetisch, barock, anrüchig, kryptisch. Nie käme er auf die Idee, die Liebschaft zu einer vollbusigen Hinterwäldlerin zu besingen. Seine Texte handeln von Identitätskämpfen, von Gott und Verlust. Manchmal haben sie sexuelle Pointen. Johnny Cash bewunderte ihn dafür, bat ihn sogar, ein Lied für seine American-Recordings-Reihe zu schreiben. Björk nahm ihn mit auf ihre Welttournee.

Eine amerikanische Zeitung warf ihm zu seinem letzten Studioalbum Superwolf vor, er verschmutze die Countrymusik mit seiner Zügellosigkeit, den morbiden Wortspielen und den seltsamen religiösen Hinweisen. Oldham gab zurück, amerikanische Intellektuelle hätten vor Religion so viel Angst wie vor ihren Eiern. Was Journalisten oder Fans über ihn denken, scheint ihm schon lange egal zu sein. Und wie es unter seinem strähnigen Vollbart hervorgebrummt kommt, will man es ihm auch gerne glauben: „It’s only about the music“.

Also hören wir ihm zu auf The Letting Go. Folgen wir den ersten Geigenstrichen. Eine akustische Gitarre wärmt die Stimmung an, dann Oldham: „When the Numbers / get to high / of the dead / flying through the sky / Oh I / Don’t know why / Love comes to me.” Dann, aus dem Nichts, die Folksängerin Dawn McCarthy. Sie umgarnt jede Silbe, ihre Worte werden zur Versuchung. Nie zuvor hat Will Oldham eine andere Stimme so nah an seine gelassen. Das ist ja schon fast ein Duett!

Lassen wir uns weitertragen, zum Blues von Cold and Wet, hören in The Seedling den Balanceakt von beseeltem Nashville und Folklore. Immer wieder brechen Kleinigkeiten die melancholische Grundierung der Lieder auf. Da bläst plötzlich ein Flügelhorn, eine Strophe später summt eine Orgel. Der herkömmliche Country wird bis an seine Grenzen ausgeleuchtet, franst immer weiter aus. Sogar auf digitale Experimente lässt Oldham sich ein.

So ist der Mann mit den vielen Namen ein Musiker, der eine ganze Richtung wieder interessant machen kann.

„The Letting Go“ von Bonnie ‚Prince‘ Billy ist als LP und CD erschienen bei Domino Records

Hören Sie hier „No Bad News“

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The Byrds: „Sweetheart Of The Rodeo“ (Columbia/Sony BMG 1968)
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Sägewerkpunks im Bibelgürtel

Huch, was ist das? Trompeten und Posaunen? Cursive haben das Cello in den Schrank gestellt und mischen auf „Happy Hollow“ Blechbläser in ihre verschrobene Gitarrenmusik. Ein wenig abenteuerlich klingt das schon

Cover Cursive

Ein Holzfällerhemd, Dreitagebart, nachlässig geschnittenes Haar, ein gewitztes Grinsen. Tim Kasher ist kein Hochglanzrocker, eher Sägewerkpunk. Seit zehn Jahren erfreut er mit seiner Band Cursive aus dem US-Bundesstaat Nebraska Liebhaber trauriger, dissonanter Lieder. Ein introspektives, zynisches Konzeptalbum widmete er der Misere seiner Scheidung. Auf der letzten Platte The Ugly Organ verarbeitete er die Probleme, die die Bekanntheit als Popstar mit sich bringt.

Von Tim Kashers Selbstkasteiungen ist auf Cursives neuem Album Happy Hollow nichts zu hören. Seine Texte nehmen sich dieses Mal die ländliche Tristesse des Bibelgürtels vor, die Staaten von Nebraska bis Virginia. Im ersten Stück Opening the Hymnal heißt es nun: „Welcome one and welcome all to our small town“. Sie unternehmen einen Rundgang durch diese amerikanische Kleinstadt, führen uns in Hinterhöfe, Schlafzimmer, Fabriken und Kirchen, zeigen uns die zerbrochenen Träume der Einwohner. Die von Dorothy zum Beispiel, die darauf wartet, dass ein Wirbelsturm ihr Haus einfach davonträgt in die Smaragdstadt, in der alles besser wird – ähnlich wie in dem Buch Der Zauberer von Oz.

Das Landleben Amerikas wird nicht glorifiziert, nicht die endlosen Weiten der Felder, der klare Sternenhimmel und der alte rote Pick-Up romantisch verklärt. Cursive erzählen von der Hoffnungslosigkeit, der religiösen Bigotterie und anderen Schrecken, die sich jenseits der Millionenstädte finden. Das verpacken sie in verschrobenen Rock. Aus den Gitarren brechen windschiefe Töne hervor. Laut und ungehalten, treibend und dissonant, umtanzen sie Tim Kashers gepressten, labilen Gesang.

Ein bestimmendes Element der letzten Alben fehlt, das Cello. Es verlieh den Liedern Eindringlichkeit. Ein großer Verlust. Doch was klingt da zwischendrin? Das sind Blechbläser! Ein Ensemble aus Saxofon, Trompete und Posaune schnarrt und quietscht wie ein manischer Spielmannszug. Die Einsätze sind rhythmisch und perkussiv und fahren Weckrufen gleich durch die Holzhäuschen von Happy Hollow, die sich auf der Albumhülle in Sepia ducken zwischen dörrendem Gestrüpp. Ehe Kasher allen Einwohnern „This City is killing us“ in die Gesichter brüllt. Die Kombination aus verzerrten Gitarren und Blechgebläse klingt bisweilen ein wenig abenteuerlich, stellenweise sogar anstrengend.

Was im Vergleich zu früheren Aufnahmen auch fehlt, ist das Dräuende, Mystische – das, was Cursive auf The Ugly Organ auszeichnete. Das liegt an der zuweilen fahrigen Struktur der Lieder. Hier klingt ein wenig rauchiger Stampfblues durch, wie in Dorothy Dreams Of Tornados, dort Gospel in Retreat!, aber selten zeigt sich die schroffe Gitarrenmusik, die so orchestral und schaurig klingen kann. Musik, die irgendwo eine leiernde Drehorgel hervorzauberte und trotzdem nicht überladen oder aufgesetzt klang.

Auf Happy Hollow lassen sich ab und zu auch noch Spuren dieser Brillanz finden. Man muss nur genau hinhören.

„Happy Hollow“ von Cursive ist als LP und CD erschienen bei Saddle Creek

Hören Sie hier „Dorothy At Forty“

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Der Mann vor dem Fliederbusch

Über die Jahre (7): Im August widmet sich der Tonträger Platten aus vergangenen Tagen. Heute: Tim Hardins erstes Album von 1966, eine Sammlung sparsamer und schüchterner Lieder

Cover Tim Hardin 1

Als Tim Hardin 1980 an seiner Heroinsucht starb, war ich gerade ein paar Monate alt. Seine wenigen Platten waren längst aus den Musikläden verschwunden, auf Flohmärkten gelandet oder in den Sammlungen eitler Liebhaber. Unbezahlbar waren sie allemal. Seine Lieder haben andere bekannt gemacht. Rod Stewart zum Beispiel, Scott Walker, Joan Baez und Bobby Darin. Über 20 Jahre vergingen, ehe ich Tim Hardins Musik kennen lernte. Auf einem Umweg.

Der Umweg hieß Christine. Wir fuhren morgens manchmal gemeinsam zur Universität mit Christines altem braunen Golf. Wir ließen Kassetten ins Radio schnappen und drehten laut auf, damit sie gegen das Fahrtgeräusch ankamen. Eines nebligen Frühlingsmorgens wartete Christine mit offener Tür an der Straße. Don’t Make Promises von Tim Hardins Album 1 drang aus den Türlautsprechern. Von einer rauschenden Chromkassette. Rückblickend ganz schön unwürdig.

Aber er nahm mich gefangen.

Vielleicht war es seine Beharrlichkeit. Sein zuweilen zittriges Tremolo. Seine sparsam angeschlagene Gitarre. Die Art, wie er „It will never happen again“ singt. Man muss es ihm glauben. Tim Hardin singt sparsam betextete Lieder. Oft so leise, als ob er niemanden stören wolle. Als singe er nur für sich. Man darf sich aber dazusetzen. Im Auto schwiegen wir uns durch die zwölf Lieder. Ich sah aus dem Fenster und wunderte mich, wie kurz das Album ist. Kaum ein Lied ist länger als zwei Minuten.

Die Lieder auf dem Album hat Tim Hardin in einem Zeitraum von 19641966 geschrieben. Eine Mischung aus Demos und neueren Aufnahmen. Hardins musikalische Entwicklung lässt sich deutlich erkennen. Die Einflüsse reichen von Blues über hemdsärmeligen Country bis zu zaghaften Rockballaden. Bei Ain’t Gonna Do Without swingt es sogar.

In diese kleine Welt von Tim Hardin finden nicht viele Instrumente Einlass. Eine schüchterne Mundharmonika, ein fernes Klavier. Sie wattieren seine Lieder lediglich, selten stehen sie im Vordergrund, wie die melodramatischen Streicher in einem seiner bekanntesten Songs Hang On To A Dream. Der einzige Song, in dem so etwas wie Kitsch aufkommt. Hardin war selten anwesend, wenn die Instrumente eingespielt wurden, sondern meistens betrunken oder anderweitig betäubt. Als er sein Album zum ersten Mal hörte, soll er einen Wutanfall bekommen haben.

Von den Streichern hörte ich im Auto nichts. Erst später, als Christine mir die Schallplatte vorspielte. Ein junger Mann in leuchtend rotem Hemd sitzt vor einem Fliederbusch und blickt mich an. Mit traurigen Augen. Ein paar Strähnen sind ihm aus dem Scheitel entwischt. Ob ich mir die Platte leihen könnte, fragte ich Christine. Sie lachte mich aus.

Das gleiche Lachen schallt mir heute oft entgegen, wenn ich in Plattenläden nach „der ersten von Tim Hardin“ frage. Immerhin schenkte Christine mir die Kassette.

„1“ von Tim Hardin ist erhältlich auf der bei Universal erschienenen Doppel-CD „Hang On To A Dream – The Verve Recordings“. Darauf vollständig enthalten sind auch seine beiden Alben „2“ und „4“

Hören Sie hier „Reason To Believe“

Weitere Beiträge aus der Serie ÜBER DIE JAHRE
(6) Cpt. Kirk &.: „Reformhölle“ (1992)
(5) Chico Buarque: „Construção“ (1971)
(4) The Mothers of Invention: „Absolutely Free“ (1967)
(3) Soweto Kinch: „Conversations With The Unseen“ (2003)
(2) Syd Barrett: „The Madcap Laughs“ (1970)
(1) Fehlfarben: „Monarchie und Alltag“ (1980)

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Kleine Zornesfalten

An der menschenleeren Küste Dänemarks schrieben Sometree aus Berlin ihr viertes Album „Bending The Willow“. Die neuen Stücke üben einen kraftvollen Sog aus – hinein in die schönste Trübsal

Cover Sometree

Vor zwei Jahren reiste die Band Sometree nach Dänemark. Man kennt das von Abiturienten: Kaum sind die letzten Prüfungen bestanden, belädt man das Auto mit Menschen, Euphorie und jeder Menge Alkohol und quält die völlig überbeladene Möhre hoch über die Grenze. Dort wird dann ein letztes Mal gemeinsam getrunken, geknutscht, gegrölt und manchmal auch geschwommen. Jedenfalls gefeiert.

Sometree wollten genau das Gegenteil. Gefeiert hatten sie genug, wurden sie genug. Nachdem sie ein Jahr lang Europa bespielt hatten, brauchten sie vor allem eines: Ruhe. Und die fanden sie in einem kleinen Holzhaus an einer menschenleeren Küste. Dort schrieben sie ihr viertes Album Bending The Willow – von freudetrunkenem Party-Rummsgazong ist darauf folglich keine Spur.

Melancholiker waren Sometree schon immer. Sie veröffentlichten drei Alben voller lakonischer, intimer Lieder über die Trias Leben, Liebe und Tod. Spannten Bögen von traurigen, poetischen Schwelgereien zu schroffem, wütendem Rock, von Melantonin zu Adrenalin – das machte sie in Deutschland einzigartig. Musik, die plötzlich loderte, in der Rückkopplungen piepsten und pfiffen, Musik, die einen mitriss, begeisterte und zugleich erhaben traurig war.

Von der Wut der früheren Alben hört man wenig auf Bending The Willow. Sie brodelt nun unter der Oberfläche. Gelegentlich zeigt sie sich, bricht aus in einem kurzen, ruppigen Gitarrenthema, das sich rasch wieder im dräuenden, stellenweise ätherischen Konzept des Albums verliert. Die komplexen Klanglandschaften Sometrees tragen kleine Zornesfalten, mehr nicht.

Schlimm ist das nicht. Bloß ungewohnt – wie die digitalen Elemente in den ausgedehnten Instrumentalpassagen. Keine aufdringliche Elektro-Pfriemelei, sondern Sprachsamples, Rauschen, Surren und Knirschen. Ein wenig klingt das nach der Einsamkeit der Küste, an der das Album entstand. Eine Stimmung, in die sich ein geisterhaftes Klavierlegato ausgezeichnet einpasst – wie im Stück Seraph – und in der selbst eine Trompete nicht stört.

Die Zerrissenheit ist immer noch da. Das Verlorensein, die Sehnsucht, die Verzweiflung des Verlassenen. Doch nun singen sie: „Stop saying Goodbye if you always return!“ Auch der Gesang ist gelassener, trägt nicht mehr diese asthmatische Ergriffenheit mit sich herum wie, naja, früher.

So ist Bending The Willow das intensivste, beste Album von Sometree. Die zehn neuen Stücke entfalten einen kraftvollen Sog hinein in die schönste Trübsal. Einsamkeit und Wärme fügen sich zu einen überzeugenden Stück Rockmusik aus Deutschland.

„Bending The Willow“ von Sometree ist als LP und CD erschienen bei pop-u-loud/PIAS

Hören Sie hier „Bending The Willow“

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Kate Mosh: „Breakfast Epiphanies“ (Noisolution 2006)

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Hinfort mit den Cowboy-Hüten!

In einer Blechhütte in Austin entstand „Black Sheep Boy“ von Okkervil River. Darauf singen sie wunderschöne Lieder von Halunken, Herzensbrechern und schrägen Vögeln

Cover Okkervil

Das Klischee eilt voraus: Country? Ist das nicht Altherrenmusik? Vom Leben rund um verlassene Highways und staubige Männer in Unterhemden, zerbeulte Wohnwagen und wogende Kornfelder? Die vertonte Bodenständigkeit der amerikanischen Südstaaten? Wie leicht man sich täuschen kann.

Hinfort mit den Cowboy-Hüten! Und mit den Western-Hemden. Hinaus aus der Tristesse der Wohnwagensiedlungen. Hinein in die Wollpullover, in die ein wenig zu engen T-Shirts, in die Hinterhofproberäume der Universität. Hier trifft die Rauheit des Punk auf die schlichten Arrangements und die Themen des Country. Alternative Country nennt man diese Musik oft. Zu deren besten Vertretern gehören zweifellos Okkervil River. Auch wenn die Texaner diese Bezeichnung wohl ungern hören.

Sechs Jahre ist es her, da bekam ihr Sänger Will Robinson Sheff die Kurzgeschichte Okkervil River der russischen Autorin Tatyana Tolstoya in die Finger. Falls Sie das zu Hause im Diercke-Atlas nachschlagen wollen: Den Fluss Okkervil gibt es wirklich, er fließt in der Nähe von St. Petersburg. Sheff gründete eine Band mit College-Freunden, benannte sie nach der Kurzgeschichte und veröffentlichte seitdem vier Alben, etliche EPs und Kollaborationen. In ihrer Musik vermengen Okkervil River dabei stets Elemente von Punk, Rock, Folk und Country. Getragen wird sie nicht nur von der musikalischen Finesse, sondern auch von Sheffs Texten über Mörder, Halunken, Herzensbrecher, rachsüchtige beste Freunde, Außenseiter und andere schräge Vögel.

Vor dem Album Black Sheep Boy kam der große Bruch. Besonders für Will Sheff. Sein Haus soll er verkauft haben, um frei zu sein, rumzureisen, Amerika zu sehen, Lieder zu schreiben. Ein Jahr lang. Dann fanden sich alle wieder ein in einer kleinen Blechhütte mit gewelltem Dach und ohne Klimaanlage mitten in Austin, Texas. Dort ist ein Konzeptalbum entstanden, voller Melancholie, Wehmut, Wut und furiosen Hymnen. Und gleichzeitig eine kleine Hommage an einen von Sheffs Helden: Folksänger Tim Hardin, der 1980 an einer Überdosis Heroin starb. Dessen Song Black Sheep Boy von 1967 entlieh Sheff seine Hauptfigur.

Das schwarze Schaf, das davon träumt zu töten. Merkwürdige Dinge tut, sagt und denkt – der teils böse, teils burleske Anti-Held, über den Okkervil River auf ihrem neuen Album ihre Geschichten singen. Und es macht einen Riesenspaß, ihnen dabei zuzuhören. Sie sind lauter geworden, treibender, wurzeln weniger im traditionellen Country: Die Mandoline weicht häufig mal einer zumindest in Nuancen verzerrten Gitarre, das Wurlitzer-Piano einem surrenden Synthesizer. Sheffs Stimme klingt nun öfter wütend. Überschlägt sich. Hallt nach. Oder ist das die Blechhütte?

Den verzweifelten Ausbrüchen folgen nahezu andächtig vorgetragene Schunkelstücke und todtrauriges Dahingeschmachte, begleitet von einer tranigen Trompete, wabernden Pedal-Steel-Gitarren und perkussivem Orgelspiel. Die Vielfalt der Instrumente innerhalb eines Lieds wie So Come Back, I’m Waiting ist beeindruckend genug – da bräuchte Will Sheff gar nicht mehr so gut zu dichten. Aber er macht’s trotzdem. Weil er wohl einer der begabtesten Songwriter ist, den die amerikanische Indie-Musik zurzeit hat.

Das Album erschien ursprünglich im vergangenen Jahr bei dem kleinen Label Jagjaguwar in den USA. Jetzt hat sich Virgin seiner angenommen und es in Europa neu veröffentlicht. Zusammen mit einem Appendix, einem Nachtrag, sieben Songs, die das Album erweitern und bereichern.

„Black Sheep Boy & Appendix“ von Okkervil River ist als Doppel-CD erschienen bei Virgin und als LP bei Jagjaguwar. Ende Mai ist die Band auf Tour durch Deutschland.

Hören Sie auf der Website der Band „For Real“ und „Black“