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Biene Maja auf der Überholspur

Das Mühlheimer Quartett Bohren & Der Club Of Gore zelebriert die gruselige Langsamkeit. Auch auf „Dolores“ musizieren sie mit unendlicher Geduld. Und doch, es hat sich etwas Neues eingeschlichen

Die Angst kommt in Gestalt einer übernächtigten Jazz-Kombo. Das Klavier und das Vibrafon spielen geisterhafte Töne. Hin und wieder legt sich ein sanft geblasenes Tenorsaxofon über das knochige Gerüst aus Schlagzeug und Kontrabass. Aus den Schatten kriecht der Klang einer Orgel. Die schaurigen Melodien erzählen vom Abstieg in einen Abgrund.

Das Mühlheimer Quartett Bohren & Der Club Of Gore zelebriert die Langsamkeit. Scheinbar endlos dehnen sich die Lieder, bis am Ende nur noch der Bass düstern summt. Sie überwinden die kitschige Trägheit des Lounge-Jazz, indem sie ihn bis ins Extrem verlangsamen. Ihre Musik funktioniert wie ein guter Horrorfilm, der im Moment des Schreckens die Zeit still stehen lässt. Sie bildet das nackte Grauen musikalisch ab. Zu dieser Musik lässt man am besten die Rolläden herunter.

Bohren & Der Club Of Gore klingen so unheimlich, weil sie den wärmenden Klang einer Jazz-Kombo umkehren. Vertraute Instrumente wirken plötzlich bedrohlich. Wie lustvoll und genießerisch das Quartett dabei zu Werke geht, zeigen die Titel mancher Stücke: Constant Fear, Skeletal Remains oder On Demon Wings, solche Namen schreibt man eher zünftigen Todesmetallern zu.

Auf ihren Platten wühlt die Band in Gebeinen und feiert die Schönheit von Särgen. Stalker und Schlitzer wandeln durch die geschwärzten Klanglandschaften. Erleuchtet wird diese Halbwelt von den Schaufenstern der Waffengeschäfte und Bestattungsinstitute. Mit jedem Album begeben sich Bohren und sein Club tiefer in den Schlund des Grauens. Maximum Black lautet ihr Motto.

Fünf Alben hat die Band in den Jahren seit 1994 eingespielt. Auf dem vorletzten – dem abstrakten Konzeptalbum Geisterfaust – hatte sie das Tempo noch einmal drastisch verlangsamt. Die Musik war nun beinahe zum Stillstand gekommen. Angesichts dieser Verschleppung erschienen selbst tektonische Erdverschiebungen als rasantes Spektakel. Mit Geisterfaust war das letzte Fünkchen Wärme aus der Musik gewichen: Hier regierte der Horror mit eiskalter Knochenhand.

Das neue Werk Dolores klingt, wie Bohren & Der Club Of Gore eben klingen müssen. Mit unendlicher Geduld malen sie in den für sie typischen Klangfarben, sie bleiben unverwechselbar. Und doch hat sich etwas Neues eingeschlichen, winzige musikalische Veränderungen sind zu vernehmen. Da ist eine Kirchenorgel, die der Musik Erhabenheit verleiht. Da scheinen menschliche Stimmen durch die dichten Arrangements zu wehen – es ist der Vocoder des Bassisten Morten Gast.

Dolores klingt aufgeräumt und konzentriert, nur noch selten schleichen die Töne dermaßen in Zeitlupen aus den Lautsprechern, wie noch auf Geisterfaust. Bohren & Der Club Of Gore beschleunigen und spielen nun so etwas wie Filmmusik, jedes Stück erzählt eine Geschichte, beschreibt ein Bild. Die Melodien sind greifbar geworden, das liegt auch an der überschaubaren Spieldauer der Stücke. So nah am Pop waren Bohren & Der Club Of Gore noch nie.

Die eiskalte Unerbittlichkeit von Geisterfaust hat sich in zerbrechliche Melancholie verwandelt. Lakonisch klingen die Soli des Saxofonisten Christoph Glöser, auch manch schrulligen Witz wagen sie: Ein Stück heißt Schwarze Biene (Black Maja), ihre Hommage an Lurchi nennen sie Unkerich. Keine Angst, von einer neuen Leichtigkeit kann man hier nicht sprechen, denn mit Liedern wie Welk und Welten haben Bohren & Der Club Of Gore auch einige schwarze Monolithen in den Raum gestellt.

Auch wenn auf Dolores hin und wieder das Tageslicht aufblitzt: Die Rolläden werden noch lange unten bleiben.

„Dolores“ von Bohren & Der Club Of Gore ist auf CD und Doppel-LP bei PIAS/Rough Trade erschienen.

Weitere Beiträge aus der Serie AMBIENT
Gas: „Nah und Fern“ (Kompakt/Rough Trade 2008)
Miles Davis: „On The Corner“ (Columbia 1972)

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Der Anselm Kiefer des Techno?

Über die Jahre (39): Der Kölner Wolfgang Voigt verarbeitete Mitte der Neunziger seine Kindheit in dem Projekt GAS. Unter dem Titel »Nah und Fern« werden die vier Alben aus dieser Zeit nun wieder aufgelegt.

Gas Nah und Fern

Im Rückspiegel erscheint es, Wolfgang Voigt habe einen großen Plan verfolgt. Im Jahr 1996 veröffentlichte er kurz hintereinander zwei tabubrechende Platten: Zuerst die Maxi Polka Trax, eine Mischung aus Minimal-Techno und Polka-Rhythmen, dann die erste CD seines Ambient-Projekts GAS. Die Hülle schmückten unauffällige, abstrakte, gelbe Farbflächen, die Platte hatte es in sich. Die Lieder trugen keine Namen, auch später nicht.

In den beiden Folgejahren erschienen weitere Aufnahmen von GAS mit den vielsagenden Titeln Zauberberg und Königsforst. Bäume schienen es Wolfgang Voigt angetan zu haben: Zauberberg steckte hinter einer blutrot schimmernden Detailaufnahme eines Waldes, Königsforst hinter in warmes Orange gehüllten Zweigen. Da hatte sich längst herumgesprochen, dass der von einem sturen Bassrhythmus begleitete nebulöse Ambient der drei Alben auf Schnipseln von Richard Wagner, Gustav Mahler und Alban Berg beruhte.

Wolfgang Voigt teilte damals mit, er beabsichtige die Erfindung genuin deutscher Popmusik. Da runzelte sich manche Stirn: Ein Projekt namens GAS, ein Label namens BLEI – geschrieben in altdeutschen Lettern, Klangfetzen Wagners, und das alles zusammen soll das reine Deutsche repräsentieren? War Wolfgang Voigt der Anselm Kiefer des Techno?

Dass die Lieder von GAS auf Schnipseln der Musik Wagners, Bergs und Mahlers aufbauen, muss man wissen. Hören kann man es nämlich kaum. Voigt verwendete unauffällige Passagen aus ihren Werken und schnitt sie so klein, dass man sie kaum wiedererkennt. Das vierte Stück auf Zauberberg basiert zwar auf einem prägnanten Sample, wirklich zuordnen kann man es aber nicht. Voigt scheint einen kurzen, im Gesamtwerk unauffälligen Übergang zur tragenden Stütze seines Stücks umfunktioniert zu haben. Die genaue Bestimmung des verwendeten Materials ist so unmöglich, wie der Versuch aus der Detailaufnahme des Zweigs auf der Hülle von Königsforst auf den Wald zu schließen, in dem das Foto geschossen wurde.

Vor seinen Aufnahmen als GAS hatte Voigt noch anders gearbeitet. Unter dem Namen Love Inc. erschien im Jahr 1995 das Album Life’s A Gas, die gesampleten Platten von Kraftwerk, Hot Chocolate, Miles Davis, Scritti Politti, Marc Bolan und anderen waren auf der Hülle der Platte abgebildet. Mit etwas Mühe ließ sich das verwendete Material auch heraushören. Mit GAS verabschiedete sich Voigt vorerst von solchem Zitatpop. Von nun an ging es ihm nicht mehr darum, Markierungen zu setzen, über die man ihn und seine Welt definierte. Vielmehr begann er, das Unbewusste zu verarbeiten, all das Gerümpel der Kindheit, das Unverdaute und Nicht-Begriffene. Wolfgang Voigt erzählte in Interviews von Wanderungen mit seinen Eltern in den Alpen, die er genossen habe. Er erzählte vom Schlager, der im Hause seiner Eltern lief und die Musik seiner Kindheit wurde. Auch die radikale Rebellion der Pubertät befreite ihn nicht von diesen Eindrücken.

So zog er sich zurück. In den deutschen Wald, den er mochte, dessen ideologische Bedeutung er aber verabscheute. Hier konnte er alles verarbeiten, den belächelten Schlager, sein schwieriges Verhältnis zur Klassik – den Drang, Mahler zu genießen und sich gleichwohl vom Habitus der Klassik zu distanzieren. So entstanden Polka-Techno, Stücke mit Schlagersamples und eben das Magnum Opus Voigts, GAS. Um den Missverständnissen entgegenzutreten, nannte er die vierte und letzte GAS-Platte im Jahr 2000 Pop. Der Nebel lichtete sich, die Strukturen wurden erkennbar. Mit einer Ausnahme schweigt die Basstrommel auf dieser CD. Hier deutete sich bereits Voigts nächstes Projekt an, nicht weniger als die Erfindung eines neuen Genres: Pop Ambient.

Um die demokratisierende Kraft des Pop ging es Voigt immer. Die musikalischen Nebelschwaden auf den Platten von GAS sind flüchtig, nicht monumental. Die aufgerufene Geschichte wird in abstrakte Einheiten zerlegt und in eine scheinbar endlose Schleife gelegt. Ihr schwerer Sinn verflüchtigt sich so. Das GAS ist nicht Zyklon B, sondern Musik. Und BLEI eine spielerische Reminiszenz an die bleischwere Vergangenheit, die man nicht vergessen kann und nicht vergessen will. Die aber auch nicht zu monumentalen Schinken aufgeblasen werden sollte. Mit Anselm Kiefer hatte GAS wahrlich nichts zu tun.

Mit dem Abstand einer Dekade hört man heute, wie schlau das Oeuvre von GAS angelegt ist, wie geschickt Voigt Parodie und Pathos umschifft. Welcher Geschichtsrevisionist soll sich das mit Genuss anhören? Wie sollte man auf diesem wabernden Fundament ein Walhalla erbauen? Und was ist aus der Idee »genuin deutscher Popmusik« geworden? Heute gibt es einen Minimal-Techno deutscher Prägung. Die Grundlagen dafür legte Wolfgang Voigt zur gleichen Zeit unter dem Pseudonym Studio 1, mit klassik- und folklorefreien Stücken, die auf den Rhythmus reduziert sind.

»Nah und Fern« von Gas ist auf 4 CDs bei Kompakt/Rough Trade erschienen. Ebenda wurde eine Doppel-LP mit Ausschnitten der Werke veröffentlicht.

Weitere Beiträge aus der Serie ÜBER DIE JAHRE
(38) Liquid Liquid: »Slip In And Out Of Phenomenon« (2008)
(37) Nick Drake: „Fruit Tree“ (1979)
(36) The Sonics: „Here Are The Sonics!!!“ (1965)
(35) dEUS: „In A Bar, Under The Sea“ (1996)
(34) Miles Davis: „On The Corner“ (1972)

Hier finden Sie eine Liste aller in der Serie erschienenen Beiträge.

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Das ist doch kein Jazz!

Über die Jahre (34): 1972 erschien Miles Davis’ letztes großes Album „On The Corner“. Damals wurde es von den Kritikern verrissen, heute gilt es als visionäres Meisterwerk.

Miles Davis On The Corner

Skandal! Kein anderes Album von Miles Davis, ja vermutlich der ganzen neueren Jazzgeschichte hat solche Hassausbrüche, so wüste Beschimpfungen provoziert wie On The Corner, keines wurde von der zünftigen Jazzkritik so gnadenlos zerfetzt. „Völlig wertlos“, „perpetuierter Stumpfsinn“, „eine Beleidigung für jeden halbwegs intelligenten Menschen“ waren bei seinem Erscheinen im Jahr 1972 noch die freundlichsten Kommentare. Weit und breit gab es damals nur gerade eine einzige positive Rezension, und die stand nicht in einer Jazz-Zeitschrift, sondern im Rock-Magazin Rolling Stone. Heute, 36 Jahre danach, gilt On The Corner als Vorläufer der Ambientmusik. Es gibt kaum einen DJ, der die Platte nicht als Meisterwerk preist.

Was ist sie nun, wertloser Schrott oder Meisterwerk? Eine definitive Antwort gibt es auf diese Frage nicht. Jede Wertung muss so ambivalent und widersprüchlich bleiben wie die Platte selbst.

Denn: Einerseits trägt On The Corner die Vision einer in jeder Hinsicht grenzenlosen Musik in sich, einer bis dahin noch nie gehörten Weltmusik, eines universalen Weltklangs. Mit Jazz hat On The Corner zweifellos nichts zu tun, das erklärt die zornige Ablehnung durch die Jazzkritik. Ihr war es unerträglich, dass ausgerechnet einer, der die Entwicklung des Jazz seit den fünfziger Jahren dominiert hatte, so radikal mit seiner Tradition brach.

Natürlich, Davis hatte bereits seit Mitte der sechziger Jahre nach einer neuen Musik jenseits der stagnierenden Routinen des Bebop und Hardbop gesucht. Doch auch den Free Jazz verstand er bloß als esoterischen Irrweg, der von jenem Publikum wegführte, dessen Held er sein wollte, der Black Community.

Mit In A Silent Way und Bitches Brew hatte Davis erste Ausbrüche gewagt und sich dem Rock, dem Soul, James Brown, Sly Stone, Jimi Hendrix und George Clinton geöffnet. Gewiss hat es ihn geärgert, dass seine Schüler ihn kommerziell überholten, Wayne Shorter und Joe Zawinul mit Weather Report, Herbie Hancock mit Joe Zawinul mit Headhunter, Chick Corea mit Return To Forever, John McLaughlin mit dem Mahavishnu Orchestra und Tony Williams mit seinem Trio Lifetime. Mehr noch störte ihn, dass sie seine Erfindung, den Electric Jazz, mit kalter Technik, leerer Virtuosität und kopflastiger Komplexität überfrachteten und ihm die Emotionen, den Soul und die Schwärze nahmen.

In einer Kneipe um die Ecke hatte Miles Davis die indische Musik entdeckt – er saß dort oft mit seinem Freund, dem Perkussionisten James M’tume Forman, und philosophierte über die Zukunft der Musik. In London hatte er den Cellisten Paul Buckmaster kennengelernt, der ihm Bachs Cellosonaten vorspielte, sich für die Musik Karlheinz Stockhausens begeisterte, Arrangements für David Bowie, Elton John, Meat Loaf und Leonard Cohen schrieb und zugleich in abseitigen Rockgruppen spielte. Davis saugte diese Einflüsse auf und verband sie in seiner neuen Musik, vor allem den metaphysischen Klang, den Stockhausen in seinen Kompositionen Gruppen oder Mixtur suchte. Auf der Basis einfacher, sich endlos wiederholender funkiger Bassmuster sollte eine abstrakte Klanglandschaft entstehen, eine Polyphonie disparater Partikel unterschiedlicher Herkunft, die unabhängig voneinander herumschwirren, sich für Momente zusammenballen, ineinander verschlingen und dann wieder auseinanderdriften, die angeknipst und wieder ausgeschaltet werden. (Das Plattencover von Corky McCoy, auf das Davis gegen den Willen der Plattenfirma bestand, ist gleichsam eine Visualisierung dieses musikalische Programm: Es zeigt schwarze Herumhänger, lässige Zuhälter, scharfe Nutten und die beiden Worte On und Off.)

Paul Buckmaster schrieb Scores, fragmentarische Motive, rhythmische Muster, Bassfiguren, er dachte sich Abläufe aus, die dieses On und Off steuern sollten. Er verteilte sie an die Musiker, die sie (nach eigenen Aussagen) studierten, ohne genau zu wissen, was sie damit anfangen sollten. Wie bei Davis üblich, wurde nicht gemeinsam geprobt, stattdessen lud er die Musiker zu Einzelgesprächen nach Hause, zeigte ihnen dies und das und diskutierte mit ihnen diese oder jene nebulöse Idee.

Als die mindestens 13 Musiker sich am 1. Juni 1972 zur ersten Aufnahmesession trafen, wusste keiner, was Davis von ihm erwartete. Der indische Tablaspieler Roy Badal berichtete später, dass Davis ihn einfach angewiesen habe, mit irgendeiner rhythmische Figur zu beginnen, Michael Henderson warf monotone Bassfiguren ein, Jack DeJohnette dengelte sparsame auf dem Schlagzeug, Herbie Hancock flüsterte „Yeah“ und gesellte sich mit einigen Orgelklängen dazu. Erkennbare Themen gibt es mit einer Ausnahme (Black Satin) keine, Buckminsters Scores blieben unbeachtet in einer Ecke liegen, Davis knipste diesen oder jenen Musiker an, spielte selber hie und da einige elektronische Wahwah-Klänge auf der Trompete. Soli im konventionellen Sinn gibt es ebenfalls keine, allenfalls schiebt sich ein Instrument für eine Weile in den Vordergrund, um dann wieder im Klangstrom zu versinken. (Nicht ganz zufällig fehlt auf der Originalhülle jeder Hinweis auf die beteiligten Musiker; für Davis zählten nicht die einzelnen Musikerpersönlichkeiten, er verstand sich als eine Art Hexenmeister, der aus den verschiedensten Ingredienzien ein neues Bitches Brew mischte.)

Aufschlussreich ist die Anekdote, die der Saxofonist Dave Liebman erzählt: Miles Davis beorderte ihn, während die Aufnahmesession bereits lief, dringend ins Studio, und obwohl er noch nie zuvor mit Davis gespielt hatte, geschweige denn in die Vorbereitungen zu On The Corner einbezogen war, schob ihn Davis kurzerhand vor ein Mikrofon und knipste ihn mit einem einzigen Wort an: „Play!“

So entstanden in langen Sessions scheinbar endlose, mal etwas schneller, mal etwas langsamer dahinfließende, blubbernde Klangströme von unterschiedlicher Intensität und Dichte – Musik von langweiliger Monotonie für denjenigen, der durchstrukturierte Formen, Spannungsbögen und virtuose Jazzsoli erwartet, aufregend und spannend für denjenigen, der sich darauf einlässt, sich von diesem kosmischen Weltklang mitnehmen zu lassen. Erst im Nachhinein wurden die einzelnen Stücke aus diesem Endlosband herausgeschnitten.

Das ist die eine Seite von On The Corner. Zugleich ist das Album auch das Resultat einer kapitalen persönlichen Krise Davis’. Eben hatte ihn seine Lebenspartnerin verlassen; Arthritis, schmerzhafte Gallensteine und akute Hüftproblemen machten jeden Konzertauftritt zur Qual, die Folgen einer schweren Lungenentzündung machten es ihm unmöglich, überhaupt längere Melodielinien zu spielen. Die Schmerzen und seine Depression hielt er mit einer hoch dosierten Mischung aus Alkohol, Kokain, Schmerz- und Aufputschmitteln in Schach. Rückläufige Plattenerträge, die Drogen und Strafgelder für abgesagte Konzerte bedrohten seinen luxuriösen Lebenswandel, zudem saß ihm die Steuerbehörde mit hohen Nachforderungen im Nacken. Die Kreativität und Kraft des alles überragenden Improvisators und anrührenden Balladenmeisters hatten ihn verlassen. So ist On The Corner denn auch ein verzweifelter Versuch, als Visionär einer völlig neuen Weltmusik noch einmal Ruhm zu erlangen. Drei Jahre später, nach nur noch sporadischen Aufnahmen und Auftritten zog sich Davis schwer krank für sechs Jahre völlig von der Musikszene zurück, um, wie er sagte, auf den Tod zu warten.

„On The Corner“ von Miles Davis ist im Jahr 1972 bei Columbia Records erschienen. Ebenda erschien kürzlich zum Abschluss der luxuriös ausgestatteten achtteiligen Reihe „The Complete Columbia Studio Recordings Of Miles Davis“ die 6 CD-Box „The Complete On The Corner Sessions“.

Weitere Beiträge aus der Serie ÜBER DIE JAHRE
(33) Smog: „The Doctor Came At Dawn“ (1996)
(32) Naked Lunch: „This Atom Heart Of Ours“ (2007)
(31) Neil Young: „Dead Man“ (1996)
(30) The Exploited: „Troops Of Tomorrow“ (1982)
(29) Low: „Christmas“ (1999)

Hier finden Sie eine Liste aller in der Serie erschienenen Beiträge.

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