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Björk und Dracula

Der Pianist Michael Wollny liebt Schauergeschichten. Seine erste Solo-CD „Hexentanz“ klingt düstern, spannend, entrückt, ganz wie die Romane von Sir Arthur Conan Doyle

Michael Wollny - Hexentanz

Wenn man ihn in seiner Dachwohnung im Kreuzberger Chamisso-Kiez besucht, kommt man dem Titel seiner neuen CD Hexentanz schnell auf die Schliche. Auf dem Flügel liegt ein Adorno-Buch, an der Wand hängt ein Plakat für den Film A Clockwork Orange. Die Bücherwand verrät, wie sehr Michael Wollny für Sir Arthur Conan Doyle und Dracula schwärmt. Horrormärchen, Schauerfilme… Diese Leidenschaft begleitet den 28-jährigen Pianisten schon seit der Jugendzeit.

Sein Hexentanz bleibt musikalisch nah am Thema, er spielt mit den gängigen Genre-Klischees, fällt aber nicht auf sie hinein. Verminderte Akkorde schaffen eine düstere Grundstimmung, Pausen markieren Spannungsbögen, elektronische Effekte suggerieren gediegene Entrücktheit, rhythmische Attacken unterlaufen von tief unten das Geplänkel an der Oberfläche.

Die Klavierimprovisationen sind von dem Pianisten Joachim Kühn beeinflusst. Seine Methode des Diminished Augmented System wandte Wollny beim Titelstück an. Kühn geht in seinem Spiel von Klängen aus, nicht von Akkorden.

Im Jahr 2005 hatte Wollny das außergewöhnliche Trio-Album call it [em] mit Eva Kruse und Eric Schaefer herausgebracht. Certain Beauty, seine Duo-CD mit dem Saxofonisten Heinz Sauer, wurde in Frankreich als eine der besten CDs des vergangenen Jahres gefeiert. Nach den beiden intensivsten Jahren seiner Karriere zog er sich für ein paar Wochen in den hohen Norden zurück, um die Musik für Hexentanz zu komponieren.

Auf dem Album hat er auch drei Stücke von Björk neu interpretiert. Er bekennt, ein Anhänger der isländischen Sängerin zu sein, besonders ihre letzte CD Medúlla habe ihn sehr inspiriert. Ihn reizen Stücke wie ihr Anchor Song und Jóga, die Klassiker des Jazz spielt er kaum. Die Musik soll etwas mit seinem Leben zu tun haben und nicht schon von den Kollegen abgegrast worden sein. Wenn Wollny sich mit seinem Trio trifft, bringt er Musik mit, die er gerade hört. In jüngster Zeit waren das vor allem alte Sachen von Pulp und neue von Jarvis Cocker.

„Piano Works VII: Hexentanz“ von Michael Wollny ist als CD erschienen bei ACT

Hören Sie hier „Initiation“

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Ziemlich kühl

Traurige Trompeten, ungestüme Saxofone, swingende Klarinetten und ein gelassenes Klavier: „The Complete Pacific Jazz Sessions“ von Gil Evans vereint zwei seiner besten Alben aus den späten Fünfzigern

Lewis - Streaming, Please

Im Frühjahr 1958 und um die Jahreswende 1958/59 spielte der Pianist und Arrangeur Gil Evans die beiden Alben New Bottles, Old Wine und Great Jazz Standards in New York ein. Lange Zeit waren die Aufnahmen schwer erhältlich, das ist nun vorbei: Auf Complete Pacific Jazz Sessions gibt es sie im Doppelpack und in voller Klang-Pracht.

Gemeinsam mit dem Trompeter Miles Davis erfand Evans den Cool Jazz, jenen kühlen, abgeklärten Klang, der sich Ende der vierziger Jahren zwischen den heißen Bebop und den ein paar Spuren zorniger brodelnden Hardbop schob. Gemeinsam schufen die beiden Musiker stilbildende Alben wie Birth of the Cool, Porgy & Bess und Sketches of Spain. Neben den im Jazz üblichen Instrumenten brachten sie Waldhorn, Tuba, Piccoloflöte und Bassklarinette zum Klingen, ihr Jazz war überraschend.

Die beiden auf The Complete Pacific Jazz Sessions vereinten Alben gehören zum Besten, was Evans mit großer Formation eingespielt hat. Die Besetzungen waren beinahe identisch, das Konzept einfach. Alte und neue Jazzklassiker, sei es der traditionelle St. Louis Blues oder die modernistische Ballade ’Round Midnight, wurden in neuen Versionen aufgenommen.

Die beiden Hälften der CD unterscheiden sich im Charakter. Die ersten acht Stücke (New Bottles, Old Wine) dominiert der Altsaxofonist „Cannonball“ Adderley, der seinen Spitznamen nicht ohne Grund trägt. Sein gewaltiges, bluesiges Spiel reibt sich an den luftigen Arrangements von Evans, manches Solo gerät gar etwas schnörkelig. Allein Manteca, eigentlich ein afro-kubanischer Feger, kommt in Evans Bearbeitung hüftsteif und eckig daher. Alle anderen Arrangements entfalten einen heiß-kalten Zauber.

Noch besser wird es dann im zweiten Teil (Great Jazz Standards) – ohne Adderley, dafür mit einer Vielzahl großartiger Solisten. Zum Beispiel dem wundervollen Trompeter Johnny Coles, dessen trauriger Ton es mit dem des großen Miles Davis aufnehmen kann; und dem ungestümen Sopransaxofonisten Steve Lacy, dessen Läufe stählern strahlen; und dem Klarinettisten und Tenorsaxofonisten Budd Johnson, der herrlich zurückgelehnt swingt.

Hier passt alles zusammen, bis zu Elvin Jones‘ großem Schlagzeugfinale im letzten Stück La Nevada (Theme). Wenn ganz am Ende das Thema wieder einsetzt, hört man Gil Evans am Klavier, wie er weit auseinander liegende Töne spielt – der „Svengali“ (ein Anagramm des Re-Arrangeurs) ist in Bestform.

„The Complete Pacific Jazz Sessions“ von Gil Evans ist als CD erschienen bei Blue Note

Hören Sie hier „La Nevada (Theme)“

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Im Fluss

Harte Zeiten für die Tonwächter des Jazz: „Streaming“ von Muhal Richard Abrams, George Lewis und Roscoe Mitchell ist spontan und zwanglos

Lewis - Streaming, Please

Nur Abrams lächelt auf den Fotos im Begleitheftchen, die bei Lewis zu Hause aufgenommen wurden. Lewis und Mitchell schauen ernst, nachdenklich, verwundert. Abrams wuchs mit dem Radio auf, in Mitchells Kindheit war Fernsehen das große Thema, und der heute 54-jährige Lewis experimentierte schon früh mit Computern. Zusammen repräsentieren sie die beiden ersten Generationen der schwarzen Chicagoer Musikerselbstorganisation AACM.

Lewis ist heute neben seiner Tätigkeit als Musiker und Komponist Professor an der Columbia University in New York. Mit einem Zuschuss der Uni nahmen die drei diese CD auf, den Rest bezahlten sie selbst. Es ist improvisierte Musik. Da das Material das Fassungsvermögen des Tonträgers um das Dreifache übertraf, wählten sie fast nur Stücke aus, die ohne jede Absprache entstanden waren.

George Lewis lehrt Musiktheorie und -geschichte. Er könnte viel dazu sagen, wie die freie Improvisation akute gesellschaftliche Probleme spiegelt. Doch bezogen auf seine eigene Musik interessiert ihn das nicht. Die Musik, die er mit dem Pianisten Muhal Richard Abrams und dem Saxofonisten Roscoe Mitchell aufgenommen hat, bewege sich außerhalb der mit Hilfe von Relevanzkriterien vermessenen Zeit, sagt er. Der Albumtitel Streaming drückt nach seinem Verständnis vor allem Zeitlosigkeit aus: Man denke nicht daran, vorwärts- oder zurückzugehen, man empfinde sich vielmehr im Fluss.

Freie Improvisatoren leben seit Jahrzehnten in einer Situation des Übergangs. Das Patriarchentum ist durch den Free Jazz aus dem Jazz entwichen. Viele Traditionalisten sind immer noch sauer, dass die Neuerer 1961 die bewährten Pfade verlassen haben. Lewis, selbst nicht mehr der Jüngste, sagt den verbliebenen Tonwächtern des Jazz harte Zeiten voraus. Ökonomisch möge es ihnen gut gehen, das Publikum goutiere das Alte, bloß spirituell entwickle sich die Musik nicht weiter. Wer aber – wie er und seine Freunde – an den Institutionen und großen Plattenfirmen vorbei auf Netzwerke, Zirkulation, Offenheit und Verschiedenheit vertraue, der habe heute den besten aller möglichen Momente.

Neben den Hauptinstrumenten, bei Lewis sind das Posaune und Laptop, kommen auf Streaming auch die AACM-typischen kleinen Dinge wie Bambusflöte, Taxihupe und Glocke zum Einsatz. Besonders die drei hier versammelten AACM-Künstler haben auf ihrem je eigenen Weg Spuren gelegt und eine besondere Atmosphäre geschaffen, in der gemeinsame Unterstützung und Ermutigung die kreative Arbeit begleiten. Das Wichtigste sei, Situationen zu erforschen und darauf zu reagieren oder darin zu agieren, berichtet Lewis von der Arbeit an dieser Platte. Als Improvisator müsse man sich immer wieder entscheiden, wann der Plan verworfen werde und während des Spielens spontan Vorschläge machen, was stattdessen kommen solle.

„Streaming“ vom Muhal Richard Abrams/George Lewis/Roscoe Mitchell ist als CD erschienen bei Pi Recordings

Hören Sie hier „Scrape“

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Keine Zeit zu verschwenden

Das Gehen fällt ihm schon schwer, doch wenn man ihn hört, muss man sich keine Sorgen machen. Mit 76 Jahren hat der Tenorsaxofonist Sonny Rollins eine neue CD veröffentlicht: „Sonny, Please“

Sonny Rollins - Sonny, Please

Eigentlich hasst er es, eigene Aufnahmen anhören zu müssen. Früher hat seine Frau und Managerin Lucille entschieden, welches neue Stück von ihm es auf die nächste CD schafft. Er vertraute ihr da völlig. Doch jetzt, zwei Jahre nach ihrem Tod, kommt er nicht mehr ganz an den Dingen vorbei, ohne die er die letzten 35 Jahre so gut leben konnte. Damals hatten Lucille und Sonny Rollins sich vom großen Jazzgeschäft verabschiedet, sie zogen aufs Land und er unterschrieb bei der kleinen kalifornischen Plattenfirma Fantasy. Dort machte er im Laufe der Jahre über 20 Platten, die ohne viel Marketing-Rummel auf den Markt kamen – Geld verdiente Rollins mit seinen Konzerten.

Als Fantasy unlängst verkauft wurde, entschied sich Rollins, eine eigene Plattenfirma zu gründen. Er wolle damit die Kontrolle über seine Musik erlangen, sagt er – viele seiner Kollegen unternahmen in jüngster Zeit ähnliche Schritte. Sein Label benannte er nach seiner Komposition Doxy, die er unter Leitung von Miles Davis im Jahr 1954 zum ersten Mal aufgenommen hatte.

Die Produktion von Sonny, Please wurde von seinem Neffen und langjährigen Posaunisten Clifton Anderson geleitet. Die Tradition, dass sich bei den Platten von Rollins alles, ja, wirklich alles nur um seine Soli dreht, bricht auch diese Aufnahme nicht. Man hat das starke Gefühl, dass sein einzigartiger Tenor-Klang geradezu mit der Blässe der Band korreliert.

Sonny, Please ist für Rollins ein Album voller Erinnerungen geworden. Auch das ist nicht untypisch für den Musiker, der den modernen Jazz mit erfunden hat. Anders als bei früheren Platten fehlt jedoch jeder Hinweis auf gesellschaftliche Belange. Er bezeichnet sich als mittlerweile reichlich desillusioniert, soweit es seinen Glauben an die Macht der Musik betrifft. Die wunderschöne Ballade Someday I´ll Find You hatte Rollins auch schon im Jahr 1958 in seiner gesellschaftskritisch gemeinten Freedom Suite verwendet, und sie besteht auffallend mühelos den Test der Zeit und veränderter Kontexte. Seine Komposition Park Palace Parade erinnert an die Calypso-Künstler in Spanish Harlem und an eine Zeit, als man sich für solche Musik noch zum Tanz versammelte. Rollins hat keine Zeit zu verschenken, und entsprechend dringlich mag diese Musik nun wirken. Als wolle er unbedingt sagen, dass das noch nicht alles gewesen sein kann.

„Sonny, Please“ vom Sonny Rollins ist als CD erschienen bei Doxy Records, in Deutschland wird sie von Universal vertrieben

Hören Sie hier „Sonny, Please“

Hier geht’s zum Artikel von Christian Broecking über seinen Besuch bei Sonny Rollins in New York

Lesen Sie hier: Die Platten des Jahres 2006 – Eine Nachschau auf 100 Tonträger

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Die Winterreise

Was Schubert konnte, kann Schlippenbach schon lange: Drei alte Freejazzer fahren durch die deutsche Provinz. Und erleben so einiges

Schlippenbach-Trio Winterreise

Bei Dunkelheit und schlechtem Wetter in einer unbekannten Stadt anzukommen, erst mal „Hotel Kacke“ in der Kackgasse und dann den Club zu finden, sei ein melancholisches Geschäft, berichtet Alexander von Schlippenbach von der alljährlichen Winterreise seines Trios. Immerhin seien die Clubs heute etwas komfortabler als vor 35 Jahren, als alles begann. In den Anmerkungen zur neuen CD mit frei improvisierter Musik notiert Schlippenbach auch Zeichen der Veränderung – die Clubs seien heute etablierter, da sie oft mit städtischen Kulturbehörden zusammenarbeiten, könnten sie auch etwas bessere Gagen zahlen.

Mit Schlippenbach am Steuer, Parker als Straßenkartendeuter und Lovens auf dem Rücksitz geht es, jedes Jahr im Dezember, auf eine kleine Tour durch ausgewählte Clubs der Republik. Unlängst wurden Parkers Karten durch das Navigationssystem „Lisa“ ersetzt. Schnell hat man es in „Moni“ umgetauft, das Hotel in der Kackgasse findet man mit ihrer Stimme tatsächlich viel schneller. Parker beschreibt die Tour als eine Mischung aus Urlaub und Verpflichtung. Lovens ist für die Musik im Auto zuständig – letztens haben sie auf der Fahrt fast ausschließlich Soli des Saxofonisten Wayne Shorter gehört, die Lovens auf Kassetten kopiert hatte. Die Musikstücke setzten immer erst da ein, wo das Solo beginnt und brachen ebenso abrupt wieder ab.

Das Schlippenbach-Trio hat europäische Freejazzgeschichte geschrieben, seine Musik swingt. Es gilt heute als eines der langlebigsten Kollektive der Improvisierten Musik. Die Vielfalt der gemeinsamen Erfahrungen und Ideen hört man während dieser knapp 70 Minuten Musik auf Winterreise sehr deutlich. Die kollektive Improvisationshaltung Schlippenbachs widerspricht jenen musikalischen Gesetzgebern, die auf das einmalige Ereignis setzen. Das macht die Musik des Trios so wundervoll: Intensität und Dichte, Klangberge und leise Horizonte aus einer gut gefüllten Schatztruhe gemeinsamer Spielerfahrung geschöpft.

„Winterreise“ vom Schlippenbach-Trio ist erschienen bei Psi Records

Hören Sie hier „Winterreise“

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Feuer unter kalten Füßen

Der Gitarrist Grant Green servierte dem Publikum des „Club Mozambique“ im Januar 1971 perlende Soli auf brodelndem Fundament. Dazu röhrten schrill und heiser die Saxofone – James Brown ließ grüßen

Grant Green Laive At The Mozambique

Grant Green wird häufig vergessen, wenn es darum geht, die Gitarren-Genies der Jazzgeschichte zu benennen. Anfang der sechziger Jahre war er der lässige König der E-Gitarre, beim Jazzlabel Blue Note gehörte er in dieser Zeit zu den Musikern mit den meisten Einspielungen. Er erfand das moderne Gitarrenswingtrio neu. Im Jahr 1979 starb er in New York mit nur 43 Jahren hinter dem Steuer seines Wagens an einem Herzinfarkt. Viele Aufnahmen sind bis heute unveröffentlicht.

Mit Live At Club Mozambique macht Blue Note nun eine dieser Aufnahmen zugänglich. Sie stammt von Anfang des Jahres 1971. Die acht Stücke wurden bei zwei Auftritten im Detroiter Flachdachschuppen Club Mozambique mitgeschnitten. Da die originalen Mehrspurbänder nicht überlebt haben, wurde die CD von einem damals entstandenen Mono-Mix produziert. Ein Wehmutstropfen, der leicht zu verschmerzen ist, denn der Zauber, den Green und Band damals entfachten, blieb erhalten.

Green hatte seine ganz große Zeit damals schon hinter sich. Im Jahr 1966 hatte er sich für einige Zeit von Blue Note getrennt, wegen seiner Drogenabhängigkeit war er zwei Jahre lang musikalisch inaktiv. Bestimmte der gelassene Klang des eleganten Gitarristen die frühen Sechziger, so wurde er nun von anderen in den Schatten gestellt, Wes Montgomery und später George Benson waren die neuen Innovatoren. Greens Comeback im Jahr 1969 blieb weitgehend unbeachtet.

Zu Unrecht. Während seiner Pause hatte er sich einiges bei James Brown und dem Motown-Soul abgehört. Ende des Jahres 1969 gründete er in der Industriestadt Detroit eine neue Gruppe und servierte dem Publikum seine kühl perlenden Gitarrensoli fortan auf einem funkig brodelnden Fundament.

Die beiden Heimspiel-Abende im Club Mozambique zeugen davon, wie tanzbar der Gitarrist Jazz mit den damals angesagten Rhythmen und Klängen verlötete. Heiser und schrill röhren und quietschen die Saxofone (Clarence Thomas und, als Gast, Houston Person), während die Orgel von Ronnie Foster scharf die Akkorde setzt und die Stücke vorantreibt. Den besonderen Dreh erhalten die Aufnahmen durch den irrwitzigen Schlagzeuger Idris Muhammad, auf unnachahmliche Art lässt er die Hi-Hat scheppern und unterlegt den Auftritt mit rhythmischem Feuer.

Derart angeheizt wird am frostigen Januarabend selbst aus der Burt-Bacharach-Schnulze Walk On By eine mitreißende Tanznummer. Live At Club Mozambique führt vor, wie heiß auch zeitgenössischer Jazz klingen könnte. Und gegen kalte Füße wirkt die Platte sowieso.

„Live At Club Mozambique“ von Grant Green ist erschienen bei Blue Note/EMI

Hören Sie hier „Walk On By“

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Karaoke ohne Fisch

Die vier Japanerinnen von OOIOO spielen schrulligen Jazz. Hysterische Chöre verbinden sie mit Wohlklängen, Ruhiges mit Hektischem, Schönes mit Hässlichem. Sehr japanisch!

OOIOO-Taiga

Ich hatte mal eine Kollegin aus Japan. Jeden Monat bekam sie ein Paket von ihren Eltern. Darin befanden sich Räucherstäbchen, die nach Fisch rochen und Kekse, die nach Fisch schmeckten. Alles war aufwendig verpackt mit Schnüren, Plastikfolien und edlen Papierchen. Die Farben, die Gerüche, die Schrift – Grüße aus einem Land, das in einer anderen Welt lag.

Daran erinnert mich Taiga, das neue Album der japanischen Formation OOIOO, wenn es auch nicht nach Fisch riecht. Die Gruppe mit dem seltsamen Namen begann als Gerücht, gestreut von ihrer jetzigen Chefin Yoshimi P-We. Sie ist Mitglied der Gruppe Boredoms und in Japan als Rockstar bekannt. Die immergleichen Fragen der Journalisten langweilten sie, so erfand sie die Geschichte eines Seitenprojektes. Das Interesse war so groß, dass aus dem Ulk eine Tat wurde und sie die Gruppe tatsächlich ins Leben rief.

Yoshimi und ihre Kolleginnen Ai, Aya und Kayan sind versierte Instrumentalistinnen und zeigen das gern, manchmal erinnert ihr Spiel an den Fusion-Jazz. Doch OOIOO gniedeln nicht selbstverliebt herum, sie verbinden ihre Instrumentalakrobatik mit der Energie des Punk und japanischer Musik.

Über Trommeln, Elektronik, Trompeten, Bass und kreischendem Gesang klingt eine Gitarre, deren Melodien an den Progressive Rock der siebziger Jahre erinnern. Manchmal wähnt man sich im Jazzkeller mit dem Fred Frith Guitar Quartet. Kaum will man sich dort einrichten, geht der Flug zu den Okinawa-Inseln im Süden des Japanischen Meeres. Dort gibt es Karaokebars.

Abrupt wechseln hysterische Chöre mit Wohlklang. Das Entspannte tritt neben das Hektische, das Schöne neben das Hässliche. Und trotz der vertrackten Rhythmik scheint Taiga in sich zu ruhen. Ist das exotische Logik? Viele Europäer halten die Japaner für schrullig und sonderbar. Daran wird diese Platte wenig ändern.

„Taiga“ von OOIOO ist als LP und CD erschienen bei Thrill Jockey, Taiga ist das japanische Wort für „der große Wald“

Hören Sie hier „UMA“

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Ein Lob der Künstlichkeit

Die Platten von Koop sind Reisen durch die Jazzgeschichte. Aus Versatzstücken alter Aufnahmen basteln sie organische neue Lieder. Auf ihrem dritten Album „Koop Islands“ zelebrieren sie nun die exotisch schillernden Klänge der dreißiger Jahre

Koop Islands

Oscar Simonsson und Magnus Zingmark aus Stockholm sind Koop. Sie erkunden die Geschichte des Jazz, indem sie alte Stücke auseinandernehmen und neu zusammensetzen. Das machen heute viele? Stimmt. Doch Koop mischen nicht einfach Versatzstücke alter Aufnahmen mit zeitgenössischen Rhythmen. Sie verwenden die Schlagzeugklänge alter Jazzplatten, kombinieren sie und modifizieren sie behutsam. Etwas Neues entsteht, es klingt alt und organisch. Ist es das Material des Schlagwerks, das man da hört?

Die Arrangements sind aufwändig, auch sie kommen aus dem Sampler. Koop verwenden dafür Teile alter Big-Band-Aufnahmen, die sie übereinander schichten. „Wir versuchen, eine Musik zu machen, bei der man nicht unterscheiden kann, ob sie echt ist oder nicht“, erklärt Oscar Simonsson. „Wir versuchen, eine Illusion zu erschaffen.“

Ihre bisherigen Platten bedienten sich beim skandinavischen Cool-Jazz der Fünfziger und bei der Musik von Sängerinnen wie Karin Krog und Monica Zetterlund. Koop Islands geht nun weiter zurück in die Geschichte. Man assoziiert exotisch geschmückte Cocktail-Bars. Und Broadway-Shows, in denen Männer in Zoot-Suits und knapp bekleidete Frauen zu Südsee-Folklore tanzen. Und Jazz, der hemmungslos bei den Stilen wildert.

Bereits in den achtziger Jahren spielte August Darnell mit solch exotischen Illusionen. Seine bunten Showtruppen Dr. Buzzard’s Original Savannah Band und Kid Creole & The Coconuts waren die trojanischen Pferde für seine satirischen Texte. Selten war Disko-Musik so überkandidelt und zynisch zugleich.

Koop sind keine Zyniker. Ihre Musik ist aus der Liebe zum Jazz geboren. Mit Yukimi Nagano haben sie eine begnadete Sängerin gefunden. Und Rob Gallagher, bekannt als Galliano, darf auf der Platte seine Poesie vortragen. Wie August Darnell spielen Koop auf Camp an, das sieht man auf den Plattenhüllen. Auf Koop Islands posieren die beiden Musiker stark geschminkt in Frauenkleidern im Stil der dreißiger Jahre. Das Verkleiden und Posieren betreiben sie bei all ihren DJ-Auftritten, Konzerten und Interviews. Ihre Musik bezeichnen sie als weiblich. Das Machogehabe der Rockszene ist ihnen ein Gräuel, ebenso der damit verbundene Wunsch nach Authentizität. Koop Islands ist ein Lob der Künstlichkeit und der Vielschichtigkeit.

„Koop Islands“ von Koop ist als LP und CD erschienen bei Compost

Hören Sie hier „Whenever There Is You“

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Geschichten aus der Vorstadt

Saxofonist und Rapper? Doch, das passt. Soweto Kinch erzählt auf „A Life in the Day of B19: Tales of the Tower Block“ Geschichten aus den Vorstädten Birminghams und holt die Alltagskultur in den Jazz zurück

Soweto Kinch B19

„Tower blocks“ heißen in England die unansehnlichen Hochhäuser aus den sechziger Jahren. In Birmingham, wo der Altsaxofonist Soweto Kinch seine Jugendzeit verbrachte, standen im riesigen Neubaukomplex „Castle Vale vierunddreißig solcher Blocks. Das größte soziale Wohnungsbauprojekt Europas in Englands größter Einwandererstadt scheiterte. Die riesige Siedlung verkam. Jugendliche machten einen Sport daraus, sich auf dem Dach des höchsten Blocks aus beim „joy-riding“, dem Kaputtfahren geklauter Autos, anzufeuern. Heute ist die Gegend saniert, nur zwei Hochhäuser stehen noch.

Von einem „tower block“ in Birminghams Postbezirk B19 erzählt Soweto Kinchs neue CD. Mit seiner Verbindung von Jazz und HipHop wird er Puristen auf beiden Seiten vergraulen. Er bedient sich gekonnt mal hier, mal da. Sein Spektrum reicht von der gefühlvollen Jazzballade (Adrian’s Ballad, mit einem wunderschönen Solo von Kinch am Altsaxofon) bis zum jazzig instrumentierten Rap. Seine Gruppe – Bassist Michael Olatuja, Gitarrist Femi Temowo und Schlagzeuger Troy Miller – swingt ideenreich durch die Stücke.

A Life in the Day of B19: Tales of the Tower Block ist ein Konzeptalbum. Die Stücke begleiten drei Hauptcharaktere: den Jazzmusiker S, den Möchtegern-Rapper Marcus und den Busfahrer Adrian. Ihre Lebenswege kreuzen sich auf der Straße, auf dem Arbeitsamt, bei einem Konzert. Ihre Unterhaltungen – so genannte „skits“ – geben der Platte den Charakter eines Hörspiels. Schade, dass Kinch manchmal zusätzlich eine Erzählstimme einbaut. Die märchentantige Intonation von Moira Stuart – sie war 1981 Großbritanniens erste schwarze Nachrichtensprecherin im BBC-Fernsehen – ist ein Fremdkörper.

Davon abgesehen ist B19 ein überzeugendes Werk. Kinch verbindet den Jazz mit Alltagskultur und öffnet ihm neue Räume. Das Album ist der Auftakt einer Serie: Im März erscheint Basement Fables, der zweite Teil der Musikgeschichten aus Birminghams Hochhäusern.

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Hören Sie hier „Love Gamble“

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Im weiten Raum zwischen C und Cis

Kaum ein Jazzmusiker hat die Aufbruchstimmung der sechziger Jahre besser eingefangen als der Saxofonist Pharoah Sanders. Vier seiner Stücke versammelt die neue CD „The Impulse Story“

Cover Sanders

Weiße Jacke, weißer Bart und blaues Käppi, das sind die Markenzeichen des Saxofonisten Pharoah Sanders. Die Augen geschlossen, schreitet er auf der Bühne umher, um die Hypnose einzuleiten. Antikommerziell wirkt seine Kunst und gesellschaftlich relevant.

Er hat in seiner Musik den Geist der Sechziger kultiviert. Zittrig, laut und warm ist sie. Seine Zirkularatmung trägt den Ton, Echo-Effekte bewirken, dass sein Instrument noch zu hören ist, wenn er es bereits abgesetzt hat.

In der High School hieß er Farrell Sanders. Er trug schwarze Kleidung, Sonnenbrille und Schal und malte sich einen kleinen Oberlippenbart, um sich in die Jam Sessions der lokalen Jazz-Clubs zu mogeln. Anfang der sechziger Jahre zog er nach New York, wo er zunächst in der Arche von Sun Ra lebte, einer hierarchisch geführten Musikerkommune. Nach zwei Jahren verließ er sie, fortan nannte er sich Pharoah. Er schlug sich durchs Leben, indem auf den Straßen der Stadt für Kleingeld spielte und sich das Blutspenden bezahlen ließ. Als er Mitte der sechziger Jahre von John Coltrane engagiert wurde, lebte er den Free Jazz und hatte nur ein Thema: Saxofonmundstücke.

Pharoah Sanders lebt nüchtern. Er ernährt sich von Obst, raucht nicht, trinkt nicht, nimmt keine Drogen – auch wenn man beim Hören seiner Musik manchmal anderes vermutet. Seine Heimat ist der Raum, der zwischen einem C und Cis liegen kann.

Seine bekannteste Nummer The Creator Has A Masterplan nahm er Ende der sechziger Jahre mit Leon Thomas auf, es ist ein impulsives Stück des New Thing. Thomas, der im Jahr 1999 starb, hatte Botschaften von einem besseren Hier und Jetzt verkündet. Er benutzte seine Stimme wie ein Instrument, seine Jodelklänge bezeichnete er als Soularfone. „Spirits, Peace and Happiness!“, lautete die Parole. Kaum eine Jazzaufnahme hat die Aufbruchstimmung jener Tage so genau eingefangen wie die mehr als 30-minütige Masterplan-Version aus dem Jahr 1969, die sich auf der Sanders gewidmeten CD der Reihe The Impulse Story befindet. Neben Astral Traveling und Spiritual Blessing ist auch Upper Egypt And Lower Egypt von seinem Debüt zu hören – damals hatte er sich gerade als Mitglied des John Coltrane Quintetts einen Namen gemacht.

Pharoah sei ein einziger großer Song, schrieb der schwarze Dichter und Aktivist Larry Neal damals in der Zeitschrift Cricket, er brauche einen Tempel für seine musikalische Predigt.

„The Impulse Story“ von Pharoah Sanders ist als CD erschienen bei Impulse

Hören Sie hier „Astral Travelling“

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