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Heilen mit der Dosen-Ngoni

Der Bassist William Parker ragt heraus aus der New Yorker Szene schwarzer improvisierender Musiker. Einer seiner ungewöhnlichen Ausflüge hat „Long Hidden – The Olmec Series“ gezeitigt: Merengue trifft auf radikalen Free Jazz

Cover William Parker

„The Revolution Continues“ stand in diesem Jahr auf dem Festival-T-Shirt. Zehn Meter lang waren die zusammengestellten Tische, auf denen CDs angeboten wurden, die sonst nur schwer erhältlich sind – meist veröffentlicht von kleinen Plattenfirmen mit Büros in Wohnungen und einer Internet-Adresse. Auf der Empore gab es „William Parker’s Fried Chicken“, schräg gegenüber lag seine neue CD Long Hidden: The Olmec Series zum Verkauf. Zum elften Mal leitete der Bassist das Vision Festival in New York, andernfalls hätte er seinen Namen wohl kaum einer Hähnchenkeule geliehen.

Wie schon immer in der Geschichte des Festivals geht es auch dieses Mal um Mieten für Spielorte und Gagen für improvisierende Musiker – Kostbarkeiten in einer konsumorientierten Welt, die leider niemand zahlen will. Parker fordert das politische Engagement seiner künstlerisch tätigen Kollegen ein, „Parker predigt den Gospel“, heißt es.

Er hat sein neues Album den Olmec, den Ureinwohnern Mittelamerikas, und ihrer Verbindung mit Westafrika gewidmet. Im Zentrum stehen Kompositionen für ein Ensemble aus drei erfahrenen Free Jazz-Musikern und vier sehr jungen Merengue-Spielern. In dem Stück El Puente Sec spielt Parker Perkussion und eine sechssaitige Dosen-Ngoni, die traditionelle Jägergitarre aus Mali. Sein Bass-Solo in Compassion Seizes Bed-Stuy korrespondiert mit dem Parker-Klassiker In Order To Survive und seiner Lebenserfahrung während der Bush-Ära – das ganze Stück hindurch sei ein Aufschrei spürbar, schreibt er: „Lord have mercy, fill these young black men with your spirit, before they fill another prison with young black men.“

Zu jedem Stück hatte Parker eine Geschichte, die er den Musikern bei den Proben erzählte. Von den Olmecs erfuhr er zum ersten Mal während seiner Afrika-Studien Ende der 60er, in seiner Komposition Pok-a-Tok wolle er zum Ausdruck bringen, dass sie große kreative Denker waren, „den Jazzerfindern Thelonious Monk, Bud Powell und Charlie Parker durchaus vergleichbar“.

Die Musik auf der CD bewahrt trotz unterschiedlicher und teils ungewöhnlicher Instrumentierung immer ihren ganz eigenen experimentellen Charakter. Wie ihm das gelingt, ist Parkers Geheimnis. Das gibt er auch nicht preis, wenn er erklärt, in der gestrichenen Bassimprovisation Cathedral of Light käme seine gesamte Musiktheorie auf den Punkt: „Sound ist Licht, und Licht ist Sound.“ Long Hidden: The Olmec Series, das sind intime Töne eines Revolutionärs, der mit jedem Song Heilung verspricht.

„Long Hidden – The Olmec Series“ von William Parker ist als CD erschienen bei AUM

Hören Sie hier „El Puento Seco“

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Soweto Kinch: „Conversations With The Unseen“ (Dune 2003)
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Ein Raumschiff fliegt vorbei

Über die Jahre (10): Im August widmet sich der Tonträger Platten aus vergangenen Tagen. Heute: Wir schreiben das Jahr 1973, Herbie Hancock bricht mit „Sextant“ auf eine weitere Reise in die unendlichen Weiten des Elektrischen Jazz auf

Cover Sextant

Herbie Hancocks Sextant ist ein Juwel des Fusion-Jazz, eine einzigartig konsequente Verschmelzung von Jazz und frühelektronischen Klangexperimenten. Heute ist das Genre zum Synonym für selbstverliebtes Gegniedel und Gedaddel geworden. Bei Hancock ging es um Sinnlichkeit.

Der Beginn des ersten Stücks Rain Dance legt eine irreführende Spur in Richtung Studio für Elektronische Musik und Karlheinz Stockhausen. Analoge Synthesizer pluckern und tropfen einen Rhythmus. Sie klingen nach Weltraum, nicht nach Jazzkeller. Trompete, Bass und Schlagzeug kommen hinzu, alles ist wunderbar auskomponiert. Wenn Hancock schließlich mit seinem leichtfüßigen, eleganten E-Pianospiel Tupfer dazusetzt, steht das Stück in voller Blüte.

Neben Hancock wichtigster Teil des Sextetts ist Dr. Patrick Gleeson. Er bedient die ARP-Synthesizer, komplizierte Stecksysteme, die in Größe und Umfang Wohnzimmerschrankwänden in nichts nachstehen. Auf Sextant baut er Flächen und Klanglandschaften und harmoniert mit dem Rest der Band. Die Elektronik ist beim ihm kein Kunstgriff sondern integraler Bestandteil der Musik.

Das Ergebnis dieser Verschmelzung ist futuristisch. 1973 muss Sextant geklungen haben, als sei gerade ein Raumschiff vorbei geflogen. Entsprechend kritisch waren auch die Reaktionen. Dreiunddreißig Jahre später gilt das Album als Klassiker. Es ist aktuell, wegweisend und ein beeindruckendes Beispiel dafür, was entstehen kann, wenn man von bestehenden Rezepten abweicht und unterschiedliche Klangquellen mutig mischt.

„Sextant“ von Herbie Hancock ist erhältlich bei Columbia/Sony BMG

Hören Sie hier einen Ausschnitt aus „Rain Dance“

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(9) Depeche Mode: „Violator“ (1990)
(8) Stevie Wonder: „Music Of My Mind“ (1972)
(7) Tim Hardin: „1“ (1966)
(6) Cpt. Kirk &.: „Reformhölle“ (1992)
(5) Chico Buarque: „Construção“ (1971)
(4) The Mothers of Invention: „Absolutely Free“ (1967)
(3) Soweto Kinch: „Conversations With The Unseen“ (2003)
(2) Syd Barrett: „The Madcap Laughs“ (1970)
(1) Fehlfarben: „Monarchie und Alltag“ (1980)

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Warme Töne und elegantes Geplapper

Über die Jahre (3): Im August widmet sich der Tonträger Platten aus vergangenen Tagen. Heute: Soweto Kinch, der auf „Conversations With The Unseen“ die alte und neue schwarze Musik, den Jazz und den Rap vereint

Cover Soweto Kinch

Vor einigen Jahren sandte der britische Fernsehsender Channel 4 den amerikanischen Tenorsaxofonisten Branford Marsalis aus, die Zukunft des Jazz zu ergründen. Aufmerksam lauschte er sich quer durch die Jazzwelt, von Skandinavien bis Südamerika. Eine rechte Antwort darauf, was das neue jazz thing sei, fand er nicht.

Als er den jungen Altsaxofonisten und Rapper Soweto Kinch in London interviewte, wurde er sogar ein bisschen wütend: „Du wirst dich entscheiden müssen, Rap oder Jazz, lass dir das gesagt sein“, erklärte er dem jungen Briten, der kurz zuvor seine erste Platte aufgenommen hatte. Der widersprach höflich, Marsalis blieb unversöhnt.

Hört man Kinchs Debüt Conversation With The Unseen aus dem Jahr 2003, hofft man, er möge sich nicht entscheiden. Die Platte ist eine selbstbewusste, elegante, gelegentlich explosive Wortmeldung. Leichte, witzige, swingende Raps, in denen er trockenen Humor beweist, stehen neben energiegeladenen, modernen Jazzstücken. Überzeugend verbindet er die alte und die neue schwarze Musik.

An vielen Stellen klingen die Vorbilder durch. Kinch nimmt Charlie Parkers melodiöse Wendigkeit auf, verarbeitet sie aber auf seine Art. Das Stück Snakehips ist eine Hommage an den wenig bekannten Jazzmusiker Ken Johnson er war der erste schwarze Swingband-Leader in Großbritannien und starb 1941 beim deutschen Luftangriff auf das Café de Paris im Londoner Westend.

Conversations With The Unseen gehört zu den bemerkenswertesten Jazzplatten der letzten Jahre. Es steckt voller Ideen und wird zusammengehalten von Kinchs ebenso kräftigen wie geschmeidigen Saxofonton. Im September 2006 soll seine nächste CD erscheinen, mit deutlich gesteigertem Rap-Anteil, heißt es. Es lohnt sich, die Ohren offen zu halten.

„Conversations With The Unseen“ von Soweto Kinch ist als CD erhältlich bei Dune

Hören Sie hier „Good Nyooz“

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(2) Syd Barrett: „The Madcap Laughs“ (1970)
(1) Fehlfarben: „Monarchie und Alltag“ (1980)

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Ein Stück Musik erfinden

Der Gitarrist Ralph Towner ist ein stiller Innovator. Seine Kompositionen prägten den Sound der Band Oregon, nun gibt es ein neues Soloalbum von ihm: „Time Line“

Cover Towner

Der Gitarrist Ralph Towner ist einer der wenigen eigenständigen Ideenentwickler des zeitgenössischen Jazz. Sein Spiel ist geprägt von stilistischer Offenheit und einem erstaunlichen improvisatorischen Erfindungsreichtum. Singbare Melodien, spontane Kompositionen und kollektive Erfahrung bestimmen auch den Klang der von Towner mitgegründeten Band Oregon, einer Band von „vier Typen, die ein Stück Musik erfinden”. Der amerikanische Komponist Aaron Copeland soll einst nach einem Oregon-Konzert gesagt haben, dass diese Band das improvisiere, was Luciano Berio zu komponieren versuche.

Sein klassischer Hintergrund als Komponist und Musiker klingt nicht nur in den kollektiven Improvisationen bei Oregon durch, sondern prägt auch Towners Solo-Aufnahmen. Auf seinem neuen Album Time Line benutzt er Material aus dem Jazz und der modernen klassischen Musik. Ein Unterschied zwischen notierter und spontan improvisierter Musik ist kaum auszumachen.

Towner hat zahlreiche Aufnahmen für die Plattenfirma ECM gemacht, seine drei bisherigen Gitarrensoloalben Solo Concert, Ana und Anthem sind allesamt herausragend. Ähnlich wie Keith Jarrett und Jan Garbarek nimmt er schon seit Jahrzehnten für das Münchner Label auf. Und er verdankt ihm einiges, ECM-Chef Manfred Eicher produzierte seine Band und holte sie aus den New Yorker Folkclubs auf die kammermusikalischen Off-Bühnen in Europa.

Time Line enthält Stücke für sechs- und zwölfseitige Gitarre, die er in den letzten Jahren auf seinen Solo-Konzerten häufig gespielt hat. Neben Eigenkompositionen befinden sich auch die beiden Jazz-Standards Come Rain Or Shine und My Man’s Gone Now auf dem Album, reinterpretiert im Stile des Pianisten Bill Evans. Für den 66-jährigen Towner geht es in dieser Musik um existenzielle Erfahrungen, die nicht mit Worten kommuniziert werden: „Der Sound reicht tiefer als eine gut erzählte Geschichte, er versetzt mich an einen magischen Ort.“

„Time Line“ von Ralph Towner ist als CD erschienen bei ECM.

Hören Sie hier „If“

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Die schwarz-orangene Revolution

45. Geburtstag oder 30. Todestag? Egal, die Plattenfirma Impulse! feiert die eigene, stolze Geschichte mit der Zusammenstellung „The House That Trane Built“

Cover Impulse

Eine Tonspur in orange und schwarz schlängelt sich durch die 1960er und 1970er Jahre. Als das Jazzplattenlabel Impulse! gegründet wurde, wollte man Signalfarbe bekennen, ein Ausrufezeichen setzen. Fünfzehn Jahre lang war es immer ganz dicht dran am unruhigen musikalischen Zeitgeist. Dass Orange und Schwarz später auch für „Feuer und Ebenholz“ oder „Zorn und Stolz“ standen, war vor allem einem Musiker zu verdanken: dem genialen und charismatischen Saxofonisten John Coltrane.

„Trane“ war bekannt geworden als Begleitung des Startrompeters Miles Davis. Mit seinem eigenen Quartett und einer Unmenge neuer Ideen im Kopf wurde er der erste und prägende Künstler bei Impulse!. Der Jazzhistoriker und Label-Biograph Ashley Kahn sieht in Impulse! sogar „das Haus, das ‚Trane‘ baute“.

Und was für ein Haus: eins mit tausend Türen, schiefen Ebenen, durchlässigen Wänden, wo sich Session scheinbar nahtlos an Session reihte, wo man stetig auf der Suche nach Neuem war, wo Jazz alles Mögliche sein konnte: eleganter Swing, rauer Hardbop, grooviger Funk, politisches Aussage, Happening, Gottesdienst. Coltrane engagierte junge, unbekannte Talente, schaffte die Freiräume, in denen dann alles möglich war – sogar das Harfenspiel seiner Frau Alice. Coltrane starb 1967, die Firma wurde neun Jahre später verkauft. Heute gehört sie zur Verve Music Group von Universal. Das reiche Erbe wird dort gepflegt, neue Einspielungen erscheinen äußerst selten.

Eine opulente, vier CDs umfassende Jubiläumssammlung erzählt nun die Geschichte der Jahre 1961 bis 1976. Die Aufnahmen sind lose chronologisch sortiert, viele bekannte – allen voran die Saxofonisten wie Coltrane, Sonny Rollins, Oliver Nelson, Archie Shepp, Pharoah Sanders – und auch ein paar weniger bekannte Jazzmusiker sind vertreten. Die Aufnahmen zeigen, dass Impulse! weit mehr war, als das leicht abgedrehte Freejazz-Label, als das es später galt. Sie zeigen auch, was künstlerischer Mut und eine liberale Aufnahmepolitik bewirken können. Die Musiker durften mitreden. Der Produzent Bob Thiele schlich sich noch in tiefer Nacht in die Studios, damit die Konzernführung nicht mitbekam, wie viele Platten tatsächlich eingespielt wurden.

Die vierstündige Reise durch die Impulse!-Geschichte ist bis auf wenige Missgriffe (das kitschige Chocolate Shake von Trompeter Freddie Hubbard, das zum Gähnen langweilige Gypsy Queen von Gitarrist Gabor Szabo) ein grandioses Hörerlebnis. Ein freier, schwebender Klang und ein abenteuerlustiger Geist verbinden die wegweisenden Aufnahmen. Wer Zusammenstellungen sonst ablehnt, sollte diese mal anhören.

„The House That Trane Built“ ist als 4-CD-Box erschienen bei Impulse!

Hören Sie hier „Mama Too Tight“ von dem Tenorsaxofonisten Archie Shepp

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Nach dem Sturm

Der Hurrikan Katrina zerstört sein Haus in New Orleans. Drei Wochen später nimmt der Saxofonist Kidd Jordan in einem New Yorker Studio eine neue Platte auf: „Palm Of Soul“

Cover Kidd Jordan

Als der Saxofonist Kidd Jordan in New York ankam, saß ihm der Schock noch in den Knochen. Seine Familie und er hatten gerade den Hurrikan Katrina überlebt, aber ihr Haus verloren. Er wohnte jetzt in einem Apartment in Baton Rouge, der Hauptstadt von Louisiana. Er war wütend und traurig. Wenn die Versicherungsfragen einmal geklärt sein werden, wird er sein Haus wieder aufbauen – vielleicht.

Der Tenorsaxofonist war auf Einladung des Bassisten William Parker und des Schlagzeugers Hamid Drake nach New York gekommen. Als er das Studio in Brooklyn betrat, stand ihm der Sinn nach einer explosiven, zornigen Aufnahme. Die aufgebauten Instrumente hatte er nicht erwartet: Vor allem waren da Gongs, Glocken, eine Talking Drum und eine Tabla – als sollte etwas Meditatives eingespielt werden. „Ich dachte nicht mehr an Katrina, sondern an das, was William und Hamid hinter mir für eigenartige Klänge machten“, erzählt Jordan über die Session.

William Parker und Hamid Drake sind gefragte Musiker, sie sind ständig auf Tour, meist in Europa. Kidd Jordan hingegen, über siebzig, ist ein bisschen in Vergessenheit geraten. Anders als mancher Kollege war er einst nicht nach Los Angeles gezogen, um dort mit Filmmusik sein Geld zu verdienen. Er blieb in seiner Heimatstadt, sein Name wurde zu einem musikalischen Markenzeichen von New Orleans. Aber er wollte nicht in den Kneipen Bebop oder Traditionals für Touristen spielen. Er wurde Free-Jazz-Saxofonist und sicherte sich sein Auskommen als Musiklehrer. Auch die Marsalis-Brüder gingen einst durch seine Schule.

Auf Palm of Soul sind Jordan, Parker und Drake zum ersten Mal in einem gemeinsamen Trio zu hören. Außer dem Termin und dem Ort war nichts abgesprochen, alle Stücke wurden improvisiert. Die Musik auf der CD klingt überraschend. Jordans Zorn ist einer improvisatorischen Tiefe und Schönheit gewichen. Vielleicht hört sich so die subversive Harmoniesehnsucht in einer Ära des kulturellen Niedergangs an. Oder ist das nur die kurze Ruhe nach dem Sturm?

„Palm Of Soul“ von Kidd Jordan ist als CD erschienen bei AUM.

Hören Sie hier „Resolution“

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Welche Lust am Klang!

Zwischen dem Jazz und der Elektronik klafft eine historische Wunde, die allmählich verheilt. Auf „Heaps Dub“ spielt das Quartett Root 70 die Kompositionen des Kölners Burnt Friedman – und alles wird gut

Cover Root70

Man hört die ersten Töne, Posaunenstöße, und sie klingen so samten, als kämen sie nicht aus metallenem Rohr, sondern aus dem gut gepolsterten Futteral, das es auf Reisen vor Beschädigung schützt. Man hört diese Töne, so rotzig-zart, so verlockend, Herr im Notenhimmel: was für ein Versprechen! Welche Lust am Klang!

Dann schnippt das Becken den Takt vor, die Trommel setzt ein, der Kontrabass hüpft in den Rhythmus, und jede Schwingung wird in der Lendengegend gezupft.

Sind wir mit der Klarinette komplett? Sie ertönt aus einem noch flauschigeren Futteral, sie lispelt, sie nuschelt, sie haucht, sie hat kaum was an: was für ein Start!

Posaune, Schlagzeug, Kontrabass, Klarinette – so weit wäre dies eine Jazzband, wenn auch in ungewöhnlicher Besetzung. Dabei bleibt’s indes nicht: Kaum sind alle vier im Spiel, tut sich nicht das Übliche. Kein obligates Solo, kein Refrain, diese Musik ist fast nur Klang und Rhythmus, Groove nennt man das wohl auch.

Eine Melodika – jenes an den Lippen hängende Akkordeon – verschiebt die Jazz-Ästhetik hin zu Dub, zu Reggae. Bongos mischen sich ein, beschwören den Busch, die tropische Nacht. Das Tempo ist der Hitze gemäß entspannt, aber wie dringt es ein in jede Faser!

Wer Get Things Straight, das erste Stück, gleich noch einmal hört, merkt überdies: Hier ist nichts so, wie es zunächst zu sein schien. Das Akustische erweist sich als untergründig perforiert; schon die ersten, so sinnlichen Posaunenstöße haben ein artifizielles, waberndes Echo.

Willkommen in der Welt von Burnt Friedman, der eigentlich Bernd Friedmann heißt und von einem Kölner Schlafzimmer aus zeitgemäßen Klang zu neuen Höhen führt. Es sind seine am Computer zusammengesetzten Kompositionen, dokumentiert auf etlichen Platten, die Root 70, das virtuose Quartett um den Posaunisten Nils Wogram, hier nachspielt. Hayden Chisholm, der Klarinettist, hat die Stücke adaptiert. Matt Penman und Jochen Rückert erzeugen von Hand den unwiderstehlichen Schub – als wären ihr Bass und ihr Schlagzeug an eine sehr elastische Steckdose angeschlossen.

Nach zwei Tagen im Studio hat Friedman die Aufnahmen mitgenommen und den Datensatz am Bildschirm nachbearbeitet; deshalb ist dieses Album kein „digital unplugged“, sondern eher ein Remix desselben – aber egal. Das Verfahren verblasst gegenüber seinem Ergebnis. Heaps Dub ist eine gekonnte Melange unterschiedlicher Stile, angenehm, inspirierend, grandios inszeniert. Sie kann den Hörer gleichermaßen ins nächste Konzert von Root 70 führen wie zu den rhythmischen Experimenten Friedmans, die sich übrigens auch in der eigentümlichen Struktur des Albums widerspiegeln: in zehn Stücken zu je genau fünf Minuten.

Die historische Wunde zwischen Elektronik und Jazz, zwischen Bits und Blues, die lange schmerzend klaffte und sich seit einigen Jahren allmählich schließt – hier ist sie kaum noch zu spüren.

„Heaps Dub“ von Root 70 ist als LP und CD erschienen bei Nonplace.

Hören Sie hier „Get Things Straight“

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Hauptsache, es swingt!

Dem Saxofonisten Hank Mobley kann man kaum andächtig lauschen, früher oder später fährt einem sein funkiger Jazz in die Beine. Jetzt ist sein Album „Dippin’“ wiederveröffentlicht worden

Cover Mobley

Der Tenorsaxofonist Hank Mobley war immer dabei, wenn sich im Hardbop-Jazz der 1950er Jahre etwas bewegte – so er nicht gerade wegen eines Drogenvergehens im Gefängnis saß. Er war Mitglied der Urformation von Art Blakeys Jazz Messengers und spielte regelmäßig mit Miles Davis. Stets stand er im Schatten der Saxofon-Giganten John Coltrane und Sonny Rollins, neben ihnen galt er bei aller Eleganz und Coolness immer als traditionell und altbacken. Zu Unrecht, Mobley erkundete neue Wege im Jazz, als Rock’n’Roll und Beatmusik populärer wurden und sich viele Innovatoren ins Free-Jazz-Nirwana verabschiedeten.

Er starb früh, 1986. Kurz darauf kam mit der Mojo- und Acid-Jazz-Welle der 1990er Jahre die Mobley-Wiederbelebung in Gang. Seine rhythmischen Stücke sind seitdem wieder gefragt, er wird als erfindungsreicher Improvisator, Mann des Funk und Autor eingängiger Melodien geschätzt. Seinem Jazz muss man nicht andächtig lauschen, man kann zu ihm sogar tanzen. Jeder Musiker sei ihm ein Vorbild, sagte Mobley einmal, solange die Musik swinge und etwas mitzuteilen habe. Das hört man seinen Aufnahmen an.

Die traditionsreiche Plattenfirma Blue Note bringt seit einigen Jahren seine wichtigsten Alben digital überarbeitet heraus. In der so genannten RVG Edition – benannt nach dem genialen Toningenieur Rudy Van Gelder, der bei Blue Note in den 1950er und 1960er Jahren für einen herausragenden Klang sorgte und die Meisterwerke heute eigenhändig auf Hochglanz bringt – erscheint nun Dippin‘. Es ist eine von Mobleys besten Platten. Aufgenommen wurde sie 1965, das Jahr zuvor hatte er hinter Gittern verbracht. Dippin‘ sollte nun endlich dafür sorgen, dass er seinen Ruf als „am häufigsten vergessener Saxofonist“ verliert.

Mit einem Trommelwirbel geht es los: Mobley und sein kongenialer Partner, der feurige Trompeter Lee Morgan, drehen schon im Auftaktstück The Dip ordentlich auf. Mobley durchschreitet geradezu sein Solo, selbstbewusst und locker, während die Rhythmusgruppe um den Pianisten Harold Mabern die schnelle Funknummer anheizt. Auch die anderen Kompositionen wie The Break Through, The Vamp oder Ballin’ atmen die typische Kombination aus Leichtfüßigkeit, blueshaltigem Sound und tanzbarer Energie. Dippin’ enthält außerdem die prächtige Jazzsamba-Nummer Recado Bossa Nova und die Ballade I See Your Face Before Me, bei der Morgan mit gestopfter Trompete ein besonders anrührendes Solo spielt. Dippin‘ ist grandiose Musik, nicht nur für lange, laue Sommernächte.

„Dippin’“ von Hank Mobley ist als CD erschienen bei Blue Note

Hören Sie hier „The Dip“

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Andrew McCormack: „Telescope“ (Dune 2006)
Nick Bärtsch’s Ronin: „Stoa“ (ECM 2006)

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Entführt auf einen funkelnden Planeten

Bisher war der Londoner Jazzpianist Andrew McCormack nur stiller Teilhaber der Erfolge anderer. Dank seines bemerkenswerten Debütalbums „Telescope“ wird sich das nun ändern

Cover McCormack

Das klassische Jazzpianotrio mit Kontrabass und Schlagzeug galt lange als ausgereizt. Lieber kauft man sich Platten der vielen Altmeister, als sich durch Neueinspielungen eines Nachwuchses zu hören, der oft nur manieriert an verstaubten Zitaten herumwerkelt.

Doch es gibt Ausnahmen. Zu den in London häufig erwähnten Lieferanten zukunftsweisender Jazzklänge zählt schon eine ganze Weile der Jazzpianist Andrew McCormack. Noch keine 20 Jahre alt, spielte er 1998 mit dem Saxofonisten Denys Baptiste dessen erste Platte Be Where You Are ein. Das Album wurde mit begehrten britischen Musikpreisen wie dem Mercury und dem Mobo überschüttet und machte Baptiste, den Mann mit dem kraftvollen Saxofonton und dem Pharaonenbart auf einen Schlag berühmt. Der jungenhaft wirkende McCormack begleitete uneitel und ideenreich und ließ fortan auch in anderen Formationen immer wieder seine technische wie musikalische Klasse aufblitzen.

Nun hat er mit Telescope sein Debütalbum vorgelegt. Begleitet von den vielbeschäftigten Talenten Tom Herbert am Kontrabass und Tom Skinner am Schlagzeug hat er das Genre nicht neu erfunden. Aber er zeigt, wie frisch und originell Jazz in dieser klassischen Besetzung klingen kann. Die CD besteht bis auf eine Ausnahme aus eigenen Kompositionen, nur das groovende Better Than People stammt aus der Feder von Kontrabassist Herbert. Schon das eingängige Titelstück schickt einen auf den funkelnden Planeten McCormack: elegant, mit Verve und Kraft geht es zur Sache, über einen funkigen Rhythmus breitet der Pianist seine rasanten Läufe aus.

Sein an Klangfarben reiches Spiel speist sich aus vielen Quellen der Jazztradition. Man hört den harten Anschlag und die schrägen Melodien eines Thelonius Monk heraus, die stimmungsvollen Klavierkaskaden eines Keith Jarrett, den Witz eines Vince Guaraldi (der vor allem als Charlie Brown-Soundtrackschreiber bekannt ist). Bei den ruhigen Stücken klingen selbst klassische Einflüsse wie Bach und Strawinsky durch. McCormack, der mit 14 Jahren verhältnismäßig spät zur Musik fand, studierte an der Londoner Guildhall School nicht nur Jazz, sondern auch Klassik.

Er formt daraus seinen Stil – eigen und urban, ohne völlig aus dem Rahmen zu fallen. Seine Spezialität sind gradlinige, eingängige Themen und überraschende, oft eng geführte Improvisationen. Telescope swingt vom ersten bis zum letzten Ton, ob das Trio rhythmisch anspruchsvolle Tempostücke spielt oder sich McCormack mit viel Gefühl und ohne Sentimentalität durch unbegleitete Balladen tastet.

Es seien „aufregende Zeiten für Jazzmusiker in London“, sagte er kürzlich in einem Interview, es gebe einen „Sinn für Abenteuer“. Danach klingt Telescope. Es ist ein erster Schritt, ein vielversprechendes Statement. Man darf gespannt sein, wohin es McCormack noch führt.

„Telescope“ von Andrew McCormack ist als CD erschienen bei Dune.

Hören Sie hier „Telescope“