Lesezeichen
 

Abbey singt Abbey

Sie gilt als sozialkritisch, dabei singt sie einfach von ihrem Leben. Mit 77 Jahren hat die amerikanische Sängerin Abbey Lincoln nun einige ihrer Lieder noch einmal aufgenommen.

Abbey Lincoln

Abbey Lincoln wohnt nahe dem Duke Ellington Boulevard in New York. Blumen und Gardinen versperren den Blick aus ihrer geräumigen Wohnung im Erdgeschoss, die Ruhe und Einsamkeit ausstrahlt. In ihrem Arbeitszimmer hängt ein großes selbst gemaltes Porträt von Miriam Makeba, auf deren Einladung sie einige Zeit in Afrika lebte. In der Diele zeugen Urkunden von einem bewegten Leben. Eine Auszeichnung des Washingtoner Presse-Clubs preist ihr Engagement für afroamerikanische Belange, die meisten Fotos in Abbey Lincolns kleinem Privatmuseum stammen aus den sechziger Jahren.

In ihrem Kampf um Anerkennung und Selbstfindung als schwarze Frau in der amerikanischen Gesellschaft orientierte sie sich an Billie Holiday. Ihre Aufnahmen seit Ende der fünfziger Jahre kann man als musikalischen Ausdruck dieses Kampfes hören. Kompromisslos wie die Musiker, mit denen sie arbeitete – ihr langjähriger Lebenspartner Max Roach und auch Eric Dolphy, Coleman Hawkins, Sonny Rollins, Stan Getz, all die großen Individualisten.

Vor zwei Monaten war Abbey Lincoln wegen einer Herzoperation im Krankenhaus. Ein Foto in den New York Daily News zeigte sie zusammen mit dem 88-jährigen Pianisten Hank Jones, der im selben Hospital ebenfalls gerade am Herzen operiert worden war. Dabei hatte sich die im Jahr 1930 geborene Sängerin für dieses Jahr so viel vorgenommen.

Gerade erschien ihre neue CD, Abbey Sings Abbey. Darauf interpretiert Abbey Lincoln – mit Ausnahme des Eröffnungsstücks Blue Monk – ausschließlich ihre eigenen großen Lieder. Eine changierende Leichtigkeit zwischen Chanson, Country Music und Delta Blues durchzieht die neuen Arrangements. Sie glaubt, dass der amerikanische Markt sie wegen ihrer sozial engagierten Texte übergangen habe – der französische Verve-Produzent Jean-Philippe Allard habe ihr Leben verändert, sagt sie, ohne Europe wäre es sehr schwer für sie gewesen. Auch die neue CD ist von der französischen Verve-Abteilung produziert worden.

Tatsächlich sei Abbey Lincoln an sozialen Themen interessiert, doch bis vor 30 Jahren habe sie noch nicht mal gewählt. Sie sei so sozialkritisch, wie Billie Holiday und Bessie Smith es waren, sie singe einfach von ihrem Leben, erklärt sie. Im Gespräch schwankt sie zwischen Stolz und Traurigkeit.

Ihre Komposition Love Has Gone Away ist ein sehr positives Stück, in dem es darum geht, alle Streitigkeiten und Konflikte hinter sich zu lassen und es stattdessen mit Liebe zu versuchen, Down Here Below hingegen ist die Klage über ein Leben. Sie habe von ihren Eltern gelernt, dass man sich schützen muss, indem man alles lernt. Ihr Vater konnte sein Auto selbst reparieren und später konnten ihre Brüder das auch. Ihre Mutter setzte zwölf Kinder in die Welt, doch als sie alt war, habe sich keines um sie gekümmert.

„Abbey Sings Abbey“ von Abbey Lincoln ist erschienen bei Verve/Universal

Weitere Beiträge aus der Kategorie JAZZ
Ulrich Gumpert: „Quartette“ (Intakt Records 2007)
Joshua Redman: „Back East“ (Nonesuch/Warner 2007)
Jazzland Community: „Jazzland Community: Live“ (Jazzland Recordings 2007)
Andile Yenana: „Who’s Got The Map?“ (Sheer Sound/Rough Trade 2007)
Arve Henriksen: „Strjon“ (Rune Grammofon 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Immer so weitergehen

Ulrich Gumpert und das Zentralquartett schrieben Jazz-Geschichte. In der Einflugschneise des Flughafens Schönefeld feierten sie die Freiheit der Musik. Jetzt gibt's eine neue Platte

Ulrich Gumpert Quartette

Für seine neue CD Quartette hat der Pianist Ulrich Gumpert auch einige Stücke aus den großen Tagen des Zentralquartetts neu eingespielt. Das habe nicht nur historische Gründe, sagt er. Es seien Stücke, die ihm besonders gut gefielen, und er habe seinen jungen Musikern auch die Geschichten erzählt, die sich hinter den Titeln verbergen. Im Unterschied zu früher gibt es heute statt der Posaune einen Bass.

Besonders bei den Konferenzen des Zentralquartetts ging es in den siebziger Jahren hoch her – man soff, man redete viel, man stritt auch und genoss die Freiheit der Musik. Man warf sich Hausnummern zu – „kennst du die Stelle, wo der Pianist sich verspielt?“ – und hörte sich die entsprechenden Stücke an. Später dann ging man zusammen proben. Der Posaunist Conny Bauer und der Schlagzeuger Günter 'Baby' Sommer wohnten damals nebeneinander in der Christburger Straße in Prenzlauer Berg, Ernst-Ludwig 'Luten' Petrowsky lebte weit draußen in der Einflugschneise des Flughafens Schönefeld. Man traf sich abwechselnd zur jeweiligen Conference at... bei Baby, Conny oder Luten.

Aus seinem Musikzimmer blickt Ulrich Gumpert auf das Theater am Schiffbauerdamm. In den Regalen stehen unzählige Tonträger, teilweise alphabetisch sortiert, teilweise nach Plattenfirmen. Die Platten von Blue Note sind ihm wichtig, er hat sie chronologisch aufgestellt. Auch die alten Scheiben von Fontana und Impulse! findet er auf Anhieb. Gumpert mag LPs, er hat noch einige 10-Zoll-Platten mit Dixieland aus den osteuropäischen Bruderländern, „damit fing alles an“, sagt er. Einige LPs, die John Tchicai für Fontana aufnahm oder Ornette Coleman für Impulse!, wurden wegen unklarer Rechtslage oder fehlender Bänder nie auf CD veröffentlicht. Fragt man ihn nach Colemans Crisis, springt er zum LP-Regal und sagt „bitte!“. Unlängst hat er das Original von seinem Saxofonisten Ben Abarbanel-Wolff bekommen, der hatte zwei.

Anders als im klassischen Jazz werden die Themen bei Ulrich Gumpert von Klavier und Saxofon unisono gespielt, auch auf Quartette. So spielt er seit den Siebzigern, in einer Übersetzung dessen, was er einst von Don Cherry und Ornette Coleman gehört hatte. Von Hier und Anderswo beschreibt er als ein einfaches Liedchen, sechzehn Takte, eine Stimmung wie in den Achtzigern. Damals hatte er es schon einmal für eine Solo-LP aufgenommen. Circulus Vitiosus klingt nach Thelonious Monk, wieder sechzehn Takte, immer die gleichen Harmonien. Acht plus acht Takte, nur das Thema wird einen Ton nach oben versetzt. Das sei der Trick, der dafür sorge, dass man nie genau wisse, wo der Anfang ist, verrät Gumpert. Und Miles Davis habe das mit Wayne Shorters Komposition Nefertiti noch viel besser hingekriegt: Sechzehn Takte Thema, achtzehn Mal gespielt, und das Gefühl, es könnte immer so weitergehen.

„Quartette“ von Ulrich Gumpert ist erschienen bei Intakt Records

...

Weitere Beiträge aus der Kategorie JAZZ
Joshua Redman: „Back East“ (Nonesuch/Warner 2007)
Jazzland Community: „Jazzland Community: Live“ (Jazzland Recordings 2007)
Andile Yenana: „Who's Got The Map?“ (Sheer Sound/Rough Trade 2007)
Arve Henriksen: „Strjon“ (Rune Grammofon 2007)
Cor Fuhler: „Stengam“ (Potlatch 2006)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Das Jazz-Gen

Mit „Back East“ kehrt der Saxofonist Joshua Redman zu seinen Anfängen zurück. In kleiner Besetzung mit Bass und Schlagzeug swingt er dabei fast zu perfekt

Joshua Redman Back East

Joshua Redman trägt es in sich, das Jazz-Gen. Warum wäre er sonst Musiker geworden? Sein Vater, der in den Sechzigern an der Seite Ornette Colemans als Free-Jazzer bekannt gewordene Saxofonist Dewey Redman, war wenig erpicht darauf, den Sohn in seine Fußstapfen treten zu sehen. Brav schloss Joshua Redman sein sozialwissenschaftliches Studium an der Elite-Universität Harvard ab – mit Auszeichnung! – und erhielt einen Platz an der Yale Law School. Seine Karriere als Jurist hätte beginnen können.

Doch das Jazz-Gen setzte sich durch. Redman ließ sein Studium ruhen. Er gewann einen renommierten Nachwuchswettbewerb und spielte sich – unter anderem als Sideman seines Vaters – quer durch New York. Im Jahr 1993 veröffentlichte er sein Debütalbum; da war er 24. Fortan spielte er mit etlichen der Musiker, die im zeitgenössischen Jazz Rang und Namen hatten. Gelegentlich trat er auch mit Größen der klassischen Musik auf, so mit dem Cellisten Yo Yo Ma und dem Dirigenten Sir Simon Rattle.

Redman – inzwischen 38 – hat viel um die Ohren. Er war in Robert Altmans Film Kansas City zu sehen, tritt in Fernsehshows auf, schreibt Filmmusiken. Seit dem Jahr 2000 ist er künstlerischer Leiter bei San Francisco Jazz, einer Initiative, die den Jazz an der amerikanischen Westküste fördert. Auf seinem jüngsten Album Back East kehrt er zu seinen Anfängen zurück, geografisch wie musikalisch. In New York nahm er das Album im Trio mit Schlagzeug und Kontrabass auf. Das ist die kleinste Form für einen Saxofonisten.

Als er begann, Musik zu machen, konnte sich kaum ein Veranstalter mehr als drei Musiker leisten. Sonny Rollins hatte in dieser Besetzung im Jahr 1957 seine Platte Way Out West eingespielt. Joshua Redman – abwechselnd begleitet an Bass und Schlagzeug von Christian McBride/Brian Blade, Larry Grenadier/Ali Jackson und Reuben Rogers/Eric Harland – hat Back East als Vexierbild dieses fünfzig Jahre alten Vorläufers angelegt.

Die Band spielt präzise arrangierten, quirligen Jazz, der trotz Redmans eher geschmeidigem Saxofon-Ton mit viel Energie und Swing daherkommt. Die Aufnahmetechnik ist perfekt, stellenweise macht sie den Klang zu glatt. Ein Schuss Rauheit hätte den Stücken gut getan.

Back East ist mehr als eine Hommage an Sonny Rollins. Redman weist in Richtung Osten, Indian Song von Wayne Shorter sowie seine eigenen Kompositionen Mantra #5 und Indonesia bestechen durch ihre Melancholie und die orientalisch angehauchten Rhythmen. Die Höhepunkte des Albums sind die Gastauftritte anderer Saxofonisten. Mit dem virtuosen Joe Lovano spielt Redman ein kühles Duett, mit seinem Vater Dewey Redman liefert er sich in John Coltranes Komposition India eine wahre Saxofonschlacht. Bei der emotionalen Ballade GJ übernimmt der Senior ganz – Back East klingt mit seinen Tönen aus.

Dewey Redman starb am 2. September 2006 in Brooklyn, drei Monate nach der Aufnahme. GJ hatte er seinem Enkelsohn gewidmet. Ob auch der das Jazz-Gen in sich trägt?

„Back East“ von Joshua Redman ist erschienen bei Nonesuch/Warner Music

Weitere Beiträge aus der Kategorie JAZZ
Jazzland Community: „Jazzland Community: Live“ (Jazzland Recordings 2007)
Andile Yenana: „Who’s Got The Map?“ (Sheer Sound/Rough Trade 2007)
Arve Henriksen: „Strjon“ (Rune Grammofon 2007)
Cor Fuhler: „Stengam“ (Potlatch 2006)
Metheny/Mehldau: „Quartette“ (Nonesuch 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Vergiss New York

Die Jazzwelt schaut nach Norwegen, von dort kommen derzeit die spannenden Töne. "Jazzland Community: Live" ist einer von vielen Beweisen

Jazzland Community Live

Im vergangenen Jahr feierte Bugge Wesseltofts Label Jazzland Recordings seinen zehnten Geburtstag. Aus diesem Anlass sollte es ein paar Jubiläumsauftritte in Norwegen geben, schließlich wurde daraus eine Konzertreise durch ganz Europa. Die Auftritte in Hamburg, Köln und Oslo wurden mitgeschnitten, Teile davon erscheinen jetzt auf der CD Jazzland Community: Live. Mit dabei sind neben Wesseltoft die Sängerin Sidsel Endresen, der Gitarrist Eivind Aarset, der Saxofonist Hakon Kornstad, der Bassist Marius Reksjo und der Schlagzeuger Wetle Holte.

Wesseltofts New Conceptions of Jazz hatten ihm und der Firma gleich zu Beginn großen Erfolg und internationale Beachtung beschert. Der junge norwegische Jazz ist seitdem auf den europäischen Festivals präsent, sicher nicht nur, weil der norwegische Staat seine Künstler bei Auslandstourneen finanziell unterstützt. Talentierten Nachwuchs gibt es in der norwegischen Metropole offenbar zuhauf. Die letzten kreativen Töne aus den USA seien mindestens vierzig Jahre alt, behauptet Wesseltoft. Das Zentrum für neue spannende Musik habe sich seitdem mehr und mehr nach Europa verlagert. Gerade in Skandinavien gibt es eine Menge guter Musiker, die an Klängen basteln, die einst vom Label ECM groß und bekannt gemacht wurden. Wesseltoft interessiert besonders die elektroakustische Welt, jene Mischung aus Jazz und elektronischer Musik, die als sehr europäische Kunstform gilt.

Er schwärmt von den Künstlern, die einst mit zeitgenössischer Musik und frühem Techno experimentierten und berichtet, dass Berlin in jener Entwicklung eine maßgebliche Rolle gespielt habe. Höhepunkte auf Jazzland Community: Live sind die Stücke mit Wesseltofts langjähriger musikalischer Partnerin Sidsel Endresen. Ihre Stimme betört, sie ist sehr weit entfernt von der Tradition des Jazz. Auch sie begrüßt es, dass die amerikanische Dominanz des Jazz in der öffentlichen Wahrnehmung bröckelt. Sie mag Billie Holiday und Chet Baker, doch die zahlreichen stilistischen Klischees, die es im Jazzgesang gibt, gefallen ihr nicht. Trotz großem Respekt für Ella Fitzgerald und Scat-Gesang habe sie diese Musik eigentlich nie wirklich hören mögen, gesteht Endresen. Deshalb schaute sie sich nach anderen Quellen um und nach neuen Wegen, ihre Stimme als Instrument einzusetzen. Das ethnische Segment wurde ihr zu einer großen Inspirationsquelle, Jan Garbarek ebnete da schon vor über dreißig Jahren Wege.

Die New Yorker Szene fühle sich keineswegs rückständig, auch wenn neue Töne von ihr zurzeit nur sehr spärlich kommen. Ihr sei wohl das Widerstandspotenzial abhanden gekommen, vermutet Endresen. Für sie ist klar, dass sich die Dinge auch wieder ändern werden. Bis dahin genießt sie das starke Interesse an der norwegischen Szene.

„Jazzland Community: Live“ ist erschienen bei Jazzland Recordings/Universal

Zur Veröffentlichung der CD startet die Jazzland Community ihr sogenanntes Sommercamp in Berlin. Vom 27.5. bis 17.7. spielen jeden Sonntag die Jazzland-Künstler auf dem Badeschiff. Hakon Kornstad eröffnet die Reihe am 27.5., Sidsel Endresen tritt zusammen mit Jan Bang am 3.6. auf, Bugge Wesseltoft spielt am 10.6. ein Soloklavierkonzert. Die Konzerte beginnen um 20 Uhr, der Eintritt beträgt 3 Euro.

Sidsel Endresen tritt auch beim Moers-Festival auf. Christian Broecking berichtet darüber in unserem Festival-Blog ZELT online
...

Weitere Beiträge aus der Kategorie JAZZ
Andile Yenana: „Who's Got The Map?“ (Sheer Sound/Rough Trade 2007)
Arve Henriksen: „Strjon“ (Rune Grammofon 2007)
Cor Fuhler: „Stengam“ (Potlatch 2006)
Metheny/Mehldau: „Quartette“ (Nonesuch 2007)
Grunert: „Construction Kit“ (Hongkong Recordings 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Wo geht’s lang?

Einer der bekanntesten jungen Pianisten in Südafrika ist Andile Yenana. Durch die Stücke auf „Who’s Got The Map?“ klingt die Zuversicht der Menschen in seinem Land

Yenana Map

Auch 13 Jahre nach dem Ende der Apartheid steht Südafrika vor großen Problemen. Arbeitslosigkeit, Armut und Aids sind schwer in den Griff zubekommen, akzeptabler Wohnraum fehlt für die Mehrheit der Bevölkerung, das Ausbildungssystem entwickelt sich nur schleppend. Doch die jungen Menschen im Land verbreiten Zuversicht. Ob in den Stadtzentren von Johannesburg und Kapstadt oder in den Townships Soweto und Langa – viele Südafrikaner sind optimistisch.

Auch der Pianist Andile Yenana ist zuversichtlich, die mangelnde Orientierung der Menschen und fehlende Transparenz in der Politik geben ihm jedoch zu denken. Who’s Got The Map? fragt er auf seiner aktuellen Platte, die in Südafrika schon vor zwei Jahren erschien und jetzt endlich auch in Deutschland erhältlich ist. Der Vertrieb Rough Trade hat sich der Platten des südafrikanischen Labels Sheer Sound angenommen.

Es wird auch Zeit. Seit Abdullah Ibrahim hat die südafrikanische Jazzszene keine großen Namen mehr exportiert. Dabei sei Südafrika ein Land, in dem Jazz das ganze Jahr über ein Thema ist, berichtet der 1968 geborene Andile Yenana. Die Zeitungen seien voll davon, die Leute hören sich zusammen mit Nachbarn und Freunden Jazzplatten an, meist altes Blue-Note-Zeug aus den sechziger Jahren. Das hätten schon seine Eltern so gemacht, sagt er.

Noch habe der südafrikanische Jazz keine eigene Ästhetik gefunden, die dem Leben nach der Apartheid entspricht, sagt Yenana. Doch die Musiker seien inspiriert, und es gebe viele Festivals. Nun müsse man sich auf die Entwicklung kleiner Clubs konzentrieren.

Andile Yenana möchte die Menschen ermutigen. Die Aktivisten der sechziger Jahre, die Kämpfer für schwarzes Selbstbewusstsein um Steve Biko, sind tot. Die erste Generation nach der Apartheid sei ein Phänomen, findet Yenana. Zum ersten Mal gebe es in seinem Land nun Musik, die von jungen Leuten dominiert wird. Doch ihre Strukturen sind unterentwickelt, bemängelt er. Die Mehrheit der Südafrikaner lebt außerhalb der großen Städte, die Apartheid hat die Leute davon abgehalten, sich öffentlich zu treffen.

Yenana studierte Klavier bei Dave Brubecks Sohn Darius, der schon lange Professor in Durban ist. Zwölf Jahre lang spielte er in der Band des virtuosen südafrikanischen Saxofonisten Zim Ngqawana. Dass Yenanas eigene Musik sich nicht ausdrücklich von den amerikanischen Vorbildern entfernt, verwundert nicht. Er hat auch gar nicht das Problem, sich davon befreien zu wollen. Denn selbst wenn er die Nervosität des New Yorker Bop mit Township-Klängen mischt, bleibt das für Yenana doch afrikanische Musik. Sein Kontinent ist für ihn der Ursprung guter Musik, Mutter Afrika gibt ihm Halt.

„Who's Got The Map?“ von Andile Yenana ist erschienen bei Sheer Sound/Rough Trade

...

Weitere Beiträge aus der Kategorie JAZZ
Arve Henriksen: „Strjon“ (Rune Grammofon 2007)
Cor Fuhler: „Stengam“ (Potlatch 2006)
Metheny/Mehldau: „Quartette“ (Nonesuch 2007)
Grunert: „Construction Kit“ (Hongkong Recordings 2007)
Thomas Quasthoff: „Watch What Happens“ (Deutsche Grammophon 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Fjord Bop

Die Landschaft seiner norwegischen Heimat hat den Trompeter Arve Henriksen geprägt. Die Natur klingt mit in jedem Ton des Albums „Strjon“.

Arve Henriksen Strjon

Als der norwegische Trompeter Arve Henriksen einige der Stücke wiederhört, die er 20 Jahren zuvor in seinem Heimstudio aufnahm, wird er neugierig. Bei einem Stück hatte er zum ersten Mal einen DX-21 Synthesizer von Yamaha benutzt, damals war er 19. Er spielt es seinem Produzenten Helge Sten vor, der ist begeistert. Gemeinsam hören sich die beiden unzählige Kassetten, DATs und Mini-Discs aus Henriksens Anfangszeit an und suchen Material aus, mit dem sie weiterarbeiten können. Als eine Kombinationen aus diesen improvisierten elektronischen Sequenzen aus den vergangenen 20 Jahren und einigen Neuaufnahmen entsteht Henriksens dritte CD: Strjon.

Henriksen begann mit Folklore, später spielte er in einer Marching Band und studierte Jazzimprovisation. Die japanische Bambusflöte lernte er durch eine Kassette kennen, die ihm der norwegische Trompeter Nils Petter Molvær gab. Mit Helge Sten erforschte Henriksen nun seine Einflüsse und Prägungen. Er fand heraus, wie wichtig ihm die Natur ist. Besonders in seinen frühen Aufnahmen spüre er diese Beziehung in jedem Ton, sagt er. Das drückt sich auch in den Titeln aus. Glacier Descent erinnere ihn an das Besteigen eines Gletschers, an eine lange Reise. Die grüne Färbung, die die Seen seiner Heimat im Frühjahr durch die Schneeschmelze bekommen, beschreibt er in Green Water. Black Mountain sei inspiriert von dem Moment, in dem sich die Sonne hinter den Bergen verstecke, wenn sie fast schwarz aussehen.

Käme er aus New York, würde er anders spielen, sagt Henriksen. Die nervösen Rhythmen einer Metropole, der Bebop und der Post Bop, passten nicht zu Norwegen. Dort lebten vier Millionen Menschen zwischen Fjorden und Bergen – es sei klar, dass man den Raum in der Musik höre. Der amerikanische Saxofonist Branford Marsalis sagte deshalb einmal, der norwegische Jazz sei eine neue Art von New-Age-Musik. Henriksen stört die Wucht der Natur nicht. Modernen Komponisten der E-Musik wie György Ligeti, György Kurtág und Olivier Messiaen stehe er kulturell und musikalisch näher als den Amerikanern und ihrer Jazztradition. Über Jazz könnten er und seine norwegischen Musikerfreunde in Büchern lesen, aber es sei nicht ihr kulturelles Erbe.

„Strjon“ von Arve Henriksen ist erschienen bei Rune Grammofon/Cargo

Weitere Beiträge aus der Kategorie JAZZ
Cor Fuhler: „Stengam“ (Potlatch 2006)
Metheny/Mehldau: „Quartette“ (Nonesuch 2007)
Grunert: „Construction Kit“ (Hongkong Recordings 2007)
Thomas Quasthoff: „Watch What Happens“ (Deutsche Grammophon 2007)
Michael Wollny: „Hexentanz“ (ACT 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Klavierstimmers Tipp

Mit Supermagneten verändert Cor Fuhler die Klänge seines Instruments. Nun hat er auf diese Art ein ganzes Album improvisiert: „Stengam“.

Cor Fuhler Stengam

Magnetfelder überlagern sich und erzeugen Spannung, Dichte und Töne. Sie bewegen das Universum, bestimmen die Gezeiten und Strömungen, die geheimnisvollen Wellenmuster auf dem Meeresboden, walten zwischen den Polen, zwischen Nord und Süd. Metalladern ziehen sich rund um den Globus durch den Erdboden.

Magnetfelder sind auch das Thema des Pianisten und Klangforschers Cor Fuhler auf seinem Album Stengam. North-South heißt das erste Stück darauf, ein anderes heißt Ferrous, Eisen. Herzstück der Aufnahmen ist das Stück Stengam, das rückwärts geschriebene Wort für Magnets, Magnete. Rund einhundert davon verwendete Fuhler zur Verfremdung der Klänge seines Klaviers.

Seit über zwanzig Jahren experimentiert der 1964 geborene Holländer mit solchen Klangerweiterungen. Auf die Idee mit den Magneten brachte ihn sein Klavierstimmer. Die besonders starken Magnete, sogenannte Supermagnets, werden auf die Klaviersaiten gelegt, um ihre Schwingungseigenschaften zu verändern. Fuhler hat etwa einhundert dieser Magnete zu Hause, zehn bis zwanzig davon nimmt er zu seinen Konzerten mit. Die Schwingungen der angeschlagenen Saiten verlängert er mit Hilfe von E-Bows, speziellen Effektgeräten, die in den siebziger Jahren für Gitarren entwickelt wurden.

Stengam ist ein ungewöhnliches, experimentelles Album. Eingespielt wurde es rein akustisch, neben dem Klavier kamen nur E-Bows und Magneten zum Einsatz. Doch es klingt wie ein ganzes Ensemble aus Bläsern, Streichern und Perkussionisten, erweitert durch das Rauschen von Sinuswellen und Obertongesänge einsamer Bergmönche. Die Musik ist vollständig improvisiert, aus dem Moment entstanden. Viele der Klänge muten elektronisch an, es entstehen sparsame, düster urbane Klanglandschaften. Fuhler betont, dass die Klänge für ihn nichts Maschinelles haben, sondern etwas Leichtes. Und dass er es schätzt, wenn sich die Rezeption der Hörer von seiner eigenen unterscheidet.

Im Jahr 1995 nahm er sein erstes Solo-Album mit einem elektronisch präparierten Klavier auf. Er spielte unter anderem mit George Lewis, John Zorn und Roswell Rudd, seine eigenen Projekte sind ein Trio mit dem Schlagzeuger Han Bennink und dem Bassisten Wilbert de Joode, das Corkestra mit zwei Schlagzeugern und diversen Streichinstrumenten und das Cortet mit dem Saxofonisten John Butcher.

Fuhler ist Teil einer neuen Bewegung reduzierter improvisierter Musik, die geografisch weit verzweigt ist und sich über das Internet organisiert. Es gibt für die Musiker kaum regelmäßige Auftrittsorte, die Konzerte werden auf den musikereigenen Internetplattformen angekündigt oder auf kleinen Festivals für experimentelle Musik präsentiert.

Stengam hat er selbst aufgenommen und produziert. Sein Conundrum-Studio ist ein selbstgebauter Schuppen in seinem Garten in Amsterdam, gerade groß genug für den Flügel und zwei Computer. Viele Musiker aus der Szene würden heute so arbeiten, erzählt er. Das kleine französische Label Potlatch bietet seiner Musik nun ein Forum, auch wenn die Aufnahmen nur in kleinen Auflagen erscheinen. Für diese Musik gäbe es eben kaum Publikum, sagt er, sie werde vor allem von den Musikern selbst gehört.

„Stengam“ von Cor Fuhler ist als CD erschienen bei Potlatch Records

Weitere Beiträge aus der Kategorie JAZZ
Metheny/Mehldau: „Quartette“ (Nonesuch 2007)
Grunert: „Construction Kit“ (Hongkong Recordings 2007)
Thomas Quasthoff: „Watch What Happens“ (Deutsche Grammophon 2007)
Michael Wollny: „Hexentanz“ (ACT 2007)
Gil Evans: „The Complete Pacific Jazz Sessions“ (Blue Note 2006)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Harmoniesüchtig

Pat Metheny trifft das Brad Mehldau Trio: eine Erzählung aus perlenden Tönen in einer Filmmusik ohne Film

Ein Klang wie Sonnenstrahlen, die aus einer Wolke brechen. Wie eine Kaskade hauchzarter Tröpfchen, die sich aus dem feuchten Nebel eines Wasserfalls materialisieren. Eine Harfengitarre lässt die Töne über ihre 42 Saiten perlen; Pat Metheny hat dieses Instrument entworfen und sammelt dessen Klänge in der Komposition The Sound Of Water.
Auf dem aktuellen Album Quartet trifft Metheny auf das Trio Brad Mehldaus. Die Aufnahmen entstanden im Dezember 2005, ein Teil ist bereits im vergangenen Jahr als Duo-Album erschienen. Metheny/Mehldau war 2006 das erfolgreichste Jazzalbum bei iTunes. Jetzt sind auch die zu viert eingespielten Stücke zu hören.

Metheny erklärt, er habe seine Harfengitarre entwickelt, um zu erforschen, was sie als orchestrierendes Element leisten könne.Gerade im Zusammenspiel mit Brad Mehldau habe es sehr viel Raum für Klangexperimente gegeben. Die Harfengitarre habe sich da ganz natürlich eingefügt.

Auffallend sind die durchgängig sanften und weiträumigen Kompositionen. Metheny hat wie Brad Mehldau großes Interesse an Formen. Beiden sei das Musikschreiben ebenso wichtig wie das Spielen. Er versteht sich und seinen Partner vor allem als klangvolle Geschichtenerzähler.

Die Musik auf Quartet erzählt Geschichten, die wie Filmsequenzen vorbeiziehen. Metheny verehrt Ennio Morricone. Und so passen auf diese Platte auch die Stücke Silent Movie und Marta´s Theme, ein Ausschnitt aus Methenys Filmmusik Passagio Per Il Paradiso.

Leider hat die sonst sehr engagierte Plattenfirma Nonesuch den Plattentitel unglücklich gewählt, denn es gibt bereits ein Metheny-Album gleichen Namens aus dem Jahr 1996. Warum nach dem sehr konzentrierten Duo-Album noch die Quartett-Einspielungen veröffentlicht werden mussten, ist auf Anhieb nicht nachzuvollziehen: Der Bassist Larry Grenadier und der Schlagzeuger Jeff Ballard halten sich streng im Hintergrund. Längere Passagen intensiver Auseinandersetzungen finden sich im Quartett-Kontext nicht; auch schaffen die Hinzugekommenen kein Gegengewicht zur manchmal extremen Harmoniesucht der Melodien. Aber vielleicht wollten die Musiker gerade darauf hinaus. In der ruhigen Schönheit liegt die Kraft, im Klang des Wassers.

Hören Sie hier „The Sound Of Water“

„Quartet“ von Pat Metheny & Brad Mehldau ist erschienen bei Nonesuch

Lesen Sie im Interview, was Pat Metheny über Ennio Morricone, Barack Obama und die Avantgarde des Jazz erzählt.

Weitere Beiträge aus der Kategorie JAZZ
Grunert: „Construction Kit“ (Hongkong Recordings 2007)
Thomas Quasthoff: „Watch What Happens“ (Deutsche Grammophon 2007)
Michael Wollny: „Hexentanz“ (ACT 2007)
Gil Evans: „The Complete Pacific Jazz Sessions“ (Blue Note 2006)
Sonny Rollins: „Sonny, Please“ (Doxy 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Täuschend unecht

Der Musiker als Bastler: Auf „Construction Kit“ verfugt Jakob Grunert Elemente aus Jazz, Funk, Soul und HipHop zu einem verblüffenden Ganzen.

Grunert Construction Kit

Jakob Grunert aus Berlin, später Lüneburg, heute Hamburg, erst Blockflöte, zwischendurch Geige, letztlich schwarz-weiße Tasten, hat dann doch nicht Musik studiert. Sein Fach ist das Kommunikationsdesign, da lernt man auch was und muss hinterher nicht von dem Horn in den Mund leben. Er wird dieses Jahr 27, da wird’s bald ernst.

Vorher noch Construction Kit, seine zweite Platte, zu Deutsch Bausatz. Passend ist die Hülle in jener Optik gehalten, die jeder kennt, der als Kind Flugzeuge, Schiffe oder Panzer zusammengeleimt und bemalt hat.

Um maßstabgetreue Modelle bekannter Musiken geht es Grunert indes nicht. Er verfugt Elemente aus Jazz, Funk, Soul und Hip-Hop zu etwas täuschend Unechtem. Gestopfte Trompete wie von Miles, warmer Bass wie bei Mingus, Fender Rhodes wie zu Zeiten Herbie Hancocks, kraftvolle Rhythmen nach Art seiner jüngeren Vorbilder Medeski, Martin und Wood, Bit-Folklore à la Four Tet, dazu Plattendrehen und Rillenknacken, als wäre die CD aus Vinyl.

Nach dem ersten Hören, der ersten Verblüffung wehrt sich der Kenner. Kennt man doch alles von damals, hat man als digitalen Aufguss schon vitaler gehört vom Kölner Frickler Burnt Friedman oder dem elfköpfigen Tied & Tickled Trio aus Weilheim. Zu harmlos, diese Platte, ein Plättchen!

Aber dann, beim zweiten, dritten, vierten Durchgang, lugen die vielen kleinen Feinheiten, Leimheiten, Gemeinheiten aus den Ritzen des Kunstkörpers hervor. Eben erklang da noch das seelenvolle Baritonsaxsolo mit strömendem Bläsergeschwitz nach Art verehrter Meister, als plötzlich eine Spur eine ednukeS gnal rückwärts läuft. Hier frieeert ein Ton kurz ein, da wiederholt er sisisisich, aber nie so lang, dass man auf seinen Player klopfen wollte.

Natürlich ist das verspielt, mehr 13- als 26-jährig, aber so schön verspielt, dass es schon Spaß macht. Außerdem muss man die Platte beim Wort nehmen. Deconstruction Kit heißt sie eben nicht. Grunert lässt die Musik nie zerfasern, nie zerplatzen; er führt sie nicht vor. Er führt nur vor, was es bedeuten kann, Tonkonserven vieler Jahrzehnte schon mit der Muttermilch eingesogen zu haben. Wer über dem Klanggewirr in unseren Köpfen nicht zum Puristen oder Kostverächter geworden ist, setzt sich zu Jakob ins Zimmer und freut sich am Druck auf die Tube.

„Construction Kit“ von Grunert ist erschienen bei Hongkong Recordings

Hören Sie hier „Intro“ und „The Cosmic Pigeon“

Weitere Beiträge aus der Kategorie JAZZ
Thomas Quasthoff: „Watch What Happens“ (Deutsche Grammophon 2007)
Michael Wollny: „Hexentanz“ (ACT 2007)
Gil Evans: „The Complete Pacific Jazz Sessions“ (Blue Note 2006)
Sonny Rollins: „Sonny, Please“ (Doxy 2007)
Schlippenbach Trio: „Winterreise“ (Psi Records 2006)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Weich gebettet

Der klassische Bassbariton Thomas Quasthoff betritt Neuland: Er hat mit dem Trompeter Till Brönner ein sehr vorsichtiges Jazz-Album aufgenommen

Quasthoff - Watch What Happens

Ruhig hebt sich die tiefe Stimme, schlägt einen weiten Bogen und schwebt für einen Moment dort, wo die Welt in ihrer Ganzheit sichtbar wird. Der Horizont ist aufgehoben, Grenzen überwunden. Ein flüchtiger Moment der Utopie. Dann sind die Begrenzungen wieder da, der enge Raum der Verletzlichkeit.

Der Bassbariton Thomas Quasthoff ist Contergan-geschädigt und mit dieser Behinderung durch sehr enge Räume gegangen, durch Räume der Zurückweisung, des Spottes und der Scham. Für sein erstes Jazz-Album hat er eine sehr persönliche Stückauswahl getroffen.

Neben They All Laughed von George und Ira Gershwin, Smile von Charlie Chaplin und In My Solitude von Duke Ellington singt er Ac-Cent-Tschu-Ate The Positive oder Stevie Wonders You And I. Seine Themen sind Einsamkeit, Freundschaft, Liebe und das Prinzip Hoffnung. Quasthoff hat Ernst Blochs Bücher gelesen und gelebt. Auch davon handelt die CD.

Gefühlswelten werden durchschritten, und doch lässt sich niemand wirklich fallen. Es ist für beide Seiten – den Sänger und auch seine Musiker – ein langsames Ertasten fremden Terrains. Der große gegenseitige Respekt, aber auch die Vorbehalte sind da. Wie wird einer wie Thomas Quasthoff dem Jazz begegnen? Zu häufig sind derartige Projekte gescheitert, an der Überheblichkeit, aber auch an der mangelnden Kompetenz vieler Klassiker gegenüber dem Jazz. Die freie, nicht notierte Musik hat kein Sicherheitsnetz.

Schon oft hat Thomas Quasthoff Jazz gesungen, zu Schulzeiten mit seinem Bruder und eigenen Bands, später auch auf großen Konzertbühnen. An eine Jazz-Studioaufnahme hat er sich bisher noch nicht gewagt. Das ist Neuland für ihn und seine Plattenfirma, die Deutsche Grammophon.

Der Jazz-Trompeter und Produzent Till Brönner ermutigte ihn. Brönner engagierte den Pianisten Alan Broadbent für die Aufnahme und die Arrangements. Broadbent, Teil von Charlie Hadens Quartet West und musikalischer Leiter Diana Kralls, ist bereits mit zwei Grammys für seine Arrangements ausgezeichnet worden. Früher spielte er mit Chet Baker. Er liebt den sanften West-Coast-Stil. Mit seinen sparsamen und flächigen Bearbeitungen der Standards aus dem Great American Songbook hat er Quasthoffs Album geprägt. Es ist die Ästhetik der Melancholie, der scharrenden Lack-Scheiben eines Grammophons, ein Stück eingefrorene Zeit.

Auch Brönner spielt professionell und weiß seine Klangfarben einzusetzen. Schön und eingängig sind seine rauchigen Akzente bei Smile. Doch sein Solo erstickt beinahe unter dem Streicherteppich des Deutschen Symphonie-Orchesters. Insgesamt folgt die Musik dem Gesang Quasthoffs, umspielt und akzentuiert ihn, ohne ihm eine Reibungsfläche zu bieten. Das ist schade, denn das hätte seine reiche und wandlungsfähige Stimme weiter herausfordern können.

Der Sänger wird weich gebettet von Till Brönner und Alan Broadbent. Auf der CD bleibt kein Raum zum Improvisieren, alles ist vorgegeben. Das hätte nicht sein müssen. Quasthoff ist, über Genregräben hinweg, vor allem ein Virtuose. Es wäre spannend zu hören gewesen, wie er mit den sich öffnenden Räumen umgeht, wie er die Grenzen überschreitet. So bleiben es nur Momente, die erahnen lassen, was noch kommen könnte.

„Watch What Happens“ von Thomas Quasthoff ist als CD erschienen bei Deutsche Grammophon

Hören Sie hier „Watch What Happens“

Lesen Sie hier, was Thomas Quasthoff im Interview zu seiner neuen Platte sagt.

Weitere Beiträge aus der Kategorie JAZZ
Michael Wollny: „Hexentanz“ (ACT 2007)
Gil Evans: „The Complete Pacific Jazz Sessions“ (Blue Note 2006)
Sonny Rollins: „Sonny, Please“ (Doxy 2007)
Schlippenbach Trio: „Winterreise“ (Psi Records 2006)
Grant Green: „Live At Club Mozambique“ (Blue Note 2006)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik