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Das Ende der Ausreden

Wenn der Lissabon-Vertrag in Kraft tritt, womit beschäftigt sich die EU dann eigentlich?`

Dazu heute – ausnahmsweise – ein Audio-Kommentar (zu hören gewesen am vergangenen Samstag im Deutschlandfunk)

 

Problemkühe

Gestern Mittag, Brüssel, vorm Ratsgebäude: Die Polizei ist mit Wasserwerfern angerückt und hat Stacheldrahtbarrieren über die Straße gezogen. Ich hätte mir eine Straßenecke entfernt gerne ein Sandwich gekauft. Aber ein Beamter weist mich freundlich ab. „Zu gefährlich“, sagt er und weist mit dem Daumen hinter sich. Vorm dem Ratsgebäude steigt eine dicke, schwarze Rauchsäule in den Himmel. Erregte Rufe sind zu hören.

Bauern aus ganz Europa haben Autoreifen angezündet, sie werfen Feuerwerkskörper und, wie ich später erfahre, sogar Kastanien gegen das Ratsgebäude. Drinnen tagen die EU-Agrarminister. Wegen der, wie sie jetzt heißt, Milchkrise.

Die Bauern demonstrieren für einen bizarren Zweck: Sie wollen weniger Milch produzieren. Weil sie zu wenig Geld mit der Milch verdienen. Weil es zu viel Milch gibt in Europa. Wegen der Wirtschaftskrise, sagen sie, sei der Absatz eingebrochen. 20 Cent bekämen sie in Deutschland gerade einmal für einen Liter. Der Produktionspreis betrage 32 Cent.

Warum aber produzieren die Bauern dann nicht einfach weniger Milch? Warum funktioniert das preissteuernde Prinzip von Angebot und Nachfrage auf dem Milchmarkt nicht?

Wegen, klärt mich am Abend eine agrarpolitische informierte Kollegin auf, der Kühe. „Kühe wollen gemolken werden, Krise hin oder her.“ Und gefüttert. Und gestreichelt. Man könne sie nicht einfach abschalten wie eine Sprudelmaschine.

Man kann Kühe noch nicht einmal in Kurzarbeit schicken.

„Und schlachten?“, frage ich die Kollegin nach dem zweiten Bier.

„Na ja“, sagt sie, „aber wenn die Milch-Nachfrage wieder anzieht, dann fehlen sie. Es dauert zwei Jahre, bis eine Kuh Milch gibt.“

„Und warum“, frage ich „schließen sich die Bauern nicht zusammen und fordern Mindestpreise von Aldi und Lidl? Macht die Opec doch auch.“

„Ist kartellrechtlich verboten“, weiß die Kollegin.

„Aber warum kostet die Milch in belgischen Supermärkten dann doppelt so viel wie in Deutschland? Was machen die anders?“

Die Kollegin sagt etwas von anderen Genossenschaftsstrukturen, lokalen Vertriebsmöglichkeiten, mehr Anbietern, aber das überzeugt alles irgendwie nicht.

Am Ende der Tagung versprechen die EU-Agrarminister existenzgefährdeten Bauern Hilfszahlungen von 15 000 Euro bis 2010. Außerdem wollen sie die Exportbeihilfen für Milchprodukte für den Verkauf außerhalb der EU auf 600 Millionen Euro erhöhen.

Ich bin ja immer noch kein Milchexperte, aber wenn Bauern bei normaler Milchnachfrage gerade so über die Runden kommen und bei einbrechender Nachfrage sofort ins Minus rutschen, dann, muht mich aus, wenn ich falsch liege, gibt es vielleicht doch einfach zu viele Kühe in Europa.

Oder?

 

Koalition der Unwilligen

Ein Pakt zwischen London und Prag soll den Lissabon-Vertrag zu Fall bringen. Ein vordemokratischer Plan

Da dachten Europas Regierungen, mit den Iren seien die letzten Rebellen gegen den Lissabon-Vertrag niedergerungen. Morgen, am 2. Oktober, wird auf der Insel ein zweites Mal über die Europäische Verfassung (die nicht mehr so heißen darf, seit Franzosen und Holländer sie 2005 abgelehnt haben) abgestimmt. Und diesmal sieht es – Wirtschaftskrise sei dank – so aus, als sagten die Inselbewohner Ja. Endlich, nach fast acht Jahren Juristen- und Regierungskonferenzen, schien der Vertrag damit besiegelt. Bis zur vergangenen Woche. Da schließen plötzlich zwei Emporkömmlinge einen Gegen-Pakt.

Der Brite David Cameron, der im Falle von Neuwahlen im Mai der nächste Tory-Ministerpräsident werden könnte, bot dem tschechischen Präsidenten Vaclav Klaus in einem handgeschriebenen Brief eine Koalition der Unwilligen gegen die Euro-Zentralisten an. Wenn er, Klaus, die Unterschrift zum Lissabon-Vertrag in Tschechien noch ein paar Monate hinauszögere, dann werde er, Cameron, das Machwerk dem britischen Volk alsbald zum Fraße, pardon, zur Abstimmung vorlegen. Damit wäre das Reformwerk endgültig erledigt.

Dass Klaus auf genau diese Verschleppungs-Vernichtungs-Verabredung gewartet hat, ist kein Geheimnis. Seit Monaten lässt der glühende Regulierungsfeind mit Hilfe von Parteifreunden eine Klage nach der anderen gegen den Vertrag ins tschechische Verfassungsgericht schleudern, um die Ratifizierungsurkunde nicht unterzeichnen zu müssen. Bisher hofften Brüsseler Beobachter, der selbsternannte „EU-Dissident“ werde nicht die Kaltblütigkeit besitzen, Lissabon tatsächlich zu verhindern. Sie scheinen sich geirrt zu haben.

Es gibt gute Gründe, nicht nur die Art und Weise, wie der Lissabon-Vertrag zustande kam, zu kritisieren. Die neue Bedienungsanleitung für die Europäische Union ist keine Schraubendrehung der Integration. Sie ist ein qualitativer Schritt. Die EU-Staaten erhalten die Macht, per Mehrheitsentscheidung Gesetze für andere EU-Staaten zu erlassen, die in die Grundrechte von Bürgern eingreifen. Ein Zuwachs an Demokratie ist das nicht. Es ist ein Zuwachs an „Staatokratie“ und damit an Effizienz des 27er-Blocks. Das kann man wollen. Aber man muss es wissen. Die meisten Europäer wissen es nicht, denn das Zusammenwachsen Europas gilt so sehr als Naturgesetz, dass keine ernstzunehmende Partei, kein Wahlkampf und auch zu wenige Medien es sich anzutasten trauen. Diese mangelnde Kritik war und ist ein Fehler. Aber der macht die Klaus-Cameron-Intrige nicht richtig.

Es ist kein Zufall, dass jetzt ausgerechnet ein Brite und ein Tscheche wie zwei einsame Kampfpiloten das aufsteigende Raumschiff EU stoppen wollen. Großbritannien regierte noch zu Anfang des letzten Jahrhunderts das größte Imperium, das sich je über die Welt erstreckte. Einer historisch derart kraftvollen Nation erscheint der Gedanke, Souveränität in einen supranationalen Pool von Brüsseler Bürokraten zu kippen, bis heute schlichtweg als unnatürlich. Vaclav Klaus hingegen fühlte sich den Großteil seines Lebens als Opfer eines „evil empire“. Warum, fragte der Tscheche unlängst bei einem Besuch in Brüssel recht unverblümt, solle sich seine gerade erst befreite Nation als nächstes einer EUdSSR unterwerfen?

Mögen die Motive der beiden auch nobel sein, ihre Methode ist es nicht. Sie unterstellen der EU, sich undemokratisch zu gebaren. Aber was tun sie? Sie schwören sich einen Blutsbund wie zwei mittelalterliche Fürsten. Der Prinz von Westminster verbringt dem Herrn des Hradschin geheime Botschaft, die Brieftaube macht unterwegs (welch Zufall!) Pause in einer Zeitungsredaktion, und, hach, die Kunde macht die Runde. Und diese Herren wollen anderen vorwerfen, sie betrieben Hinterzimmerpolitik?

Der Lissabon-Vertrag wird den Europäern übergestülpt? Ja, mag sein. Aber was Klaus & Cameron sich erlauben, entlarvt eine geradezu vordemokratische Abgehobenheit. Cameron erdreistet sich, die Geschicke eines Kontinents zu wenden, ohne überhaupt in ein Kabinett gewählt zu sein. Und Klaus nutzt eben diese Anmaßung in der höchstpersönlichen Absicht, einen Beschluss sowohl der Prager Abgeordneten wie auch des Verfassungsgerichtes zunichte zu machen.

Der Lissabon-Vertrag enthält viel Falsches? Ja, mag auch sein. Aber 26 Regierungen und Parlamente (einschließlich des britischen Unterhauses) haben ihm zugestimmt, und auf dem Respekt vor diesen souveränen Institutionen ruhte bisher keine Kleinigkeit: Die Herrschaft des Rechts.

Wenn die Iren dem Vertrag zustimmen, müsste David Cameron die bereits hinterlegte britische Ratifizierungsurkunde zurückziehen, um eine Volksabstimmung lostreten zu können. Der Schaden, den er damit für Europa anrichtete, wäre größer als der, den ein Lissabon-Vertrag je bringen könnte. Es wäre der Bruch eines Siegels, auf das sich 26 Nationen verlassen haben. Warum sollten, wenn Cameron diese Präzedenz setzt, die europäischen Regierungen einander in Zukunft denn noch vertrauen? Die Europäische Union mag viele Webfehler haben. Die Rechtssicherheit, die bisher zwischen ihren Mitgliedern herrschte, ist keiner davon. Der Pakt des Briten und des Tschechen ist teuflischer als alles, was sie der EU vorwerfen.

 

Europas Guantánamos

Wissen wir, was wir diesen Sommer getan haben?

Ein Report

Die Tragödie schwappt an Europas Ufer wie alljährliche Gezeiten. Im Sommer erwärmt sich das Mittelmeer, und mit den Temperaturen steigt der Mut verzweifelter Afrikaner. Zu Tausenden machen sie sich von den Küsten auf Richtung Norden, in überfüllten Booten, oft von kriminellen Schleppern zusammengepfercht in lebensbedrohliche Enge. Die Migranten zieht die Hoffnung auf ein besseres Leben. Für viele besteht das schon aus einem Tag ohne Hunger. Oder aber sie flüchten vor politischer Verfolgung, vor Folter und Gefängnis.

Genauso regelmäßig wie der Zustrom übers Meer fehlt den Europäern das Interesse an den Dramen an ihren Flanken. In einer Nacht Ende März 2009 ertrinken auf dem Weg nach Italien über 300 Menschen vor der libyschen Küste. Ein Unglück, gewiss. Aber es gibt auch Schicksale, die noch grauenhafter sind, und an denen sich Europa durch Unterlassen mitschuldig macht.

Am 20. August entdeckt die italienische Küstenwache vor der Insel Lampedusa ein Schlauchboot mit fünf völlig entkräfteten Insassen. Ursprünglich waren 78 Menschen an Bord. Fast Drei Wochen lang driftete das Schlauchboot ohne Nahrung, Treibstoff und Trinkwasser übers Mittelmeer. Es handelt sich um Eritreer. Ihre Chancen, in Europa Asyl zu erhalten, stehen gut – vorausgesetzt sie erreichen das EU-Festland. Die Anerkennungsquoten für Eritreer sind hoch, denn sie kommen aus einem Land, das die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch  aufgrund von Folter, Zwangsarbeit und oft lebenslanger Wehrdienst als „gigantisches Gefängnis“ bezeichnet. 

Leichen in Italiens Fischernetzen

Die Überfahrt von der libyschen Küste nach Lampedusa ist die letzte Etappe einer tausende Kilometer langen Reise. Die Flüchtlinge haben Trinkwasser und Treibstoff für drei Tage an Bord. Doch erst geht der Sprit aus, dann der Proviant. Nach und nach, berichten die Überlebenden, hätten sie die Leichen ihrer verdursteten Landsleute über Bord geworfen.

Die Todesfahrt macht für einige Tage Schlagzeilen in Europa. Nicht nur das alptraumhafte Geschehen auf dem Schlauchboot bewegt die sommerlichen Zeitungsleser, sondern auch der Umstand, dass offenbar mehrere Handelsschiffe das driftende Boot sichteten, ohne zu helfen. Nur die Besatzungen zweier Fischkutter, erzählt ein Überlebender, habe ihnen Brot und Wasser gegeben, seien dann aber abgedreht.

Im Restaurant des Straßburger Europaparlaments sitzt, vor einem Tellerchen mit kunstvollen Desserttörtchen, Barbara Lochbihler. Sie kommt nicht dazu, das Besteck anzurühren. Immer wieder sausen ihre Hände beim Reden auf die Tischdecke nieder. „Die Dramen, die sich vor den europäischen Küsten abspielen, haben viele hier noch nicht richtig vor Augen. Dabei werden wir es durch den Klimawandel und die Versteppung in Afrika noch mit Flüchtlingsströmen zu tun bekommen, die alle bisherigen Dimensionen sprengen. Darauf kann Abschottung doch wohl nicht die Antwort sein.“

Doch die Europäische Union, schildert Lochbihler, sei einstweilen zu sehr damit beschäftigt, die Welt vorm Klimatod zu retten. Für Flüchtlinge bleibt da kaum Zeit.

Lochbihler ist die ehemalige Deutschland-Chefin von Amnesty International. Im Juli 2009 ist die 50jährige für die Grünen ins Europäische Parlament eingezogen. Zwei Monate und einen Flüchtlingssommer später, nach den ersten Ausschuss-Sitzungen, Kommissions-Anhörungen und Plenardebatten, hat sie eines gelernt: „Als Menschenrechtsfrau kommen Sie hier immer erst dran, wenn die großen Klima- und CO2-Debatten durch sind. Und dann dürfen Sie vielleicht eine Minute reden.“ Als unlängst der EU-Justizkommissar Jacques Barrot vor den Abgeordneten über Migrationspolitik sprach, berichtet Lochbihler, „kam der einzelne Mensch gar nicht vor.“ Ständig sei nur von „Flüchtlingsströmen“ oder „Kriminalität“ die Rede gewesen.

„Europa fehlt ein Konzept“

„Man muss sich doch mal klar machen, was an unseren Grenzen eigentlich geschieht“, empört sich die frischgebackene Europapolitikerin. Dann berichtet sie von italienischen Fischern, die Leichen in ihren Netzen finden und zur Warnung für sich und ihre Kollegen Leuchtbojen über gesunkenen Flüchtlingsbooten aussetzen. Bilder wie aus einem Horrorfilm steigen in den Kopf. „Das Problem ist, dass in Brüssel in der Sache eine Zuständigkeitszersplitterung herrscht“, sagt Lochbihler. „Legale Migration gehört in den Bereich Arbeitsmarkt, also in die Kommission. Flüchtlingsabkommen mit Libyen hingegen sind klassische Außenpolitik, mithin Angelegenheit der Mitgliedstaaten, da hat die EU keine Zuständigkeit.“ Das Ergebnis: „Es fehlt ein europäisches Konzept für eine Migrationspolitik.“ 

Infolge zunehmender Dürren, Trinkwasserknappheit und Bodenerosionen in Afrika könnte Europa schon bald vor Herausforderungen stehen, denen alle bisherige politische Koordination nicht gewachsen ist. Bis zum Jahr 2050, schätzt die Armutsbekämpfungs-NGO Germanwatch, könnte die Anzahl der „Umweltflüchtlinge“ weltweit auf 150 Millionen ansteigen. Die EU kann zwar von Finnland bis Malta die Glühbirne verbieten und Qualitätsnormen für Gurken verhängen, aber für eines der perspektivisch drängendsten Probleme des Kontinents bietet der Brüsseler Behördenapparat keine Schnittschnelle. Nicht einmal auf eine gemeinsame Grammatik in der Migrationspolitik können sich Europas Politiker bisher einigen.

 „Wir haben aber in der EU leider noch nicht einmal die ganz banale Frage geklärt, wer eigentlich ein Flüchtling ist“, sagt Manfred Weber, der für die CSU im Europaparlament unter anderem zuständig ist für Einwanderungfragen. „Irakische Christen werden in Schweden zu hundert Prozent anerkannt, in Griechenland zu hundert Prozent nicht anerkannt.“ Es wäre schon ein großer Schritt, glaubt Weber, wenn Europa sich auf gemeinsame „Spielregeln“ einigen könnte. Doch gerade dort, wo ein gemeinsames europäisches Handeln richtig und wichtig wäre, beim Asylrecht und bei der Migrationskontrolle, sind die EU-Mitgliedsstaaten Bastionen der nationalen Souveränität geblieben.

Solidarität? Vielleicht später

Die Folge sind zunehmende Spannungen nicht nur von außen, sondern auch im Innern. „Gerechte Lastenteilung“ heißt das Reizwort im Diplomatenjargon. Denn EU-Kernländer wie Deutschland sind geografisch von den Flüchtlingsströmen übers Meer abgeschottet. Um sie herum liegt eine Pufferzone europäischer Nachbarn, die den Andrang abfangen müssen. Die meisten Migranten und Flüchtlinge kommen auf Malta und Zypern, in Italien, Spanien, und Griechenland an. Der Staatenverbund hat sich bisher lediglich auf ein Prozedere geeinigt, das „Asyl-Shopping“ in verschiedenen EU-Staaten verhindert soll. „Verordnung (EG) Nr. 343/2003“ oder kurz „Dublin II“ heißt das EU-Abkommen, wonach jeder Flüchtling in dem Land seinen Asylantrag stellen muss, in dem er zuerst EU-Boden betreten hat. Doch das Problem bleibt die Verteilung der Flüchtlinge. Bisher gilt hier lediglich schwammiges „Solidaritäts-Prinzip“ unter den Staaten.

Einem verbindlichen Schlüssel zur Verteilung der Ankömmlinge auf alle EU-Mitgliedsländer verweigern sich vor allem die Regierungen in Berlin und Wien. Die mehr oder weniger unverhohlene Begründung: Deutschland und Österreich seien damals in den 90er Jahren mit Flüchtlingen aus dem Balkan allein gelassen worden. Die Integration von hunderttausenden Bosniern und Kosovaren erfordere noch immer außergewöhnliche Anstrengungen. 

UN: „verabscheuungswürdige Zustände“

Einigermaßen brachial gebärden sich in der Zwischenzeit die Anlaufläner im Süden gegenüber den Flüchtlingen aus Afrika. Im Sommer 2009 tritt in Italien ein so genanntes „Sicherheitsgesetz“ in Kraft, wonach illegale Einreise mit Geldbußen zwischen 5.000 und 10.000 Euro bestraft werden kann. Die Abschiebung soll auf dem Fuße folgen. Italienern, die illegale Einwanderer beherbergen oder beschäftigen, drohen Haftstrafen zwischen drei und sechs Jahren. Die Regelung schrecke Fischer ab, Flüchtlinge in Notlagen zu helfen, sagt die Ex-Amnesty-Chefin Lochbihler. „Die haben jetzt Angst, dass sie vor Gericht kommen, wenn sie Schiffbrüchige retten.“

In Griechenland, wo die Zahl der Flüchtlinge und Migranten von rund als 40 000 im Jahr 2005 auf 146 000 im Jahr 2008 empor geschnellt ist, setzt die Regierung ebenfalls im Juli 2009 neue Asylregeln in Kraft. Die Verfahren werden in die Polizeidirektionen in der Provinz verlagert, die Berufungsinstanz wird abgeschafft, und Flüchtlinge dürfen ab sofort statt bis zu drei bis zu sechs Monaten in Lagern interniert werden. In den wenigsten Polizeiquartieren gibt es Übersetzer und geschulte Beamte, die Asylanträge entgegennehmen können. Der Vertreter des UN-Flüchtlingswerkes in Athen kündigt einstweilen die Zusammenarbeit mit der griechischen Regierung auf. Bereits 2008 hatte der Europarat die Bedingungen in einem der größten griechischen Internierungslager als „verabscheuungswürdig“ und als „Gesundheitsrisiko für Betreuer wie für Internierte“ bezeichnet.

Anfang dieser Woche, während eines EU-Innenministertreffens in Brüssel, nutzt Wolfgang Schäuble die Gelegenheit, um harsche Kritik an Griechenland zu üben. „Die Einhaltung der menschenrechtlichen Grundsätze darf in keinem Teil Europas in Zweifel gestellt sein“, sagte der Bundesinnenminister. Was in Griechenland geschehe sei „nicht nur ein griechisches Problem, es ist ein Problem für die EU.“ Es ist besonders ein Problem für Deutschland. Denn am 9. September untersagte das Bundesverfassungsgericht einstweilen die Abschiebung eines Irakers nach Griechenland, wo er ursprünglich – und erfolglos – einen Asylantrag gestellt hatte.

Karlsruhe: „Erhebliche Überlastung“

Zur Begründung führten die Karlsruher Richter aus, sie sähen Klärungsbedarf hinsichtlich der Frage, „welche Auswirkungen der europarechtliche Grundsatz der Solidarität, der im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts auch für eine gemeinsame Asylpolitik Geltung beansprucht, bei einer erheblichen Überlastung des Asylsystems eines Mitgliedstaates auf die Rechte des einzelnen Asylantragstellers (…) hat.“ Kurzum, von einheitlichen europäischen Asylgarantien könne nicht im Ernst die Rede sein. Die Zustände im EU-Partnerland Griechenland erscheinen dem Bundesverfassungsgericht in juristischer Hinsicht als offenbar europaunwürdig.

Die Tatsache, dass Europas moralische Havarie außerhalb von Expertenkreisen kaum wahrgenommen wird, ist allerdings ist nicht so sehr einem vermeintlich trägen Brüsseler Behördenapparat geschuldet. Justizkommissar Jacques Barrot hat die Brisanz des Themas schon erkannt. „Die Länder der EU dürfen nicht die Augen verschließen vor solchen Trägodien wie im Mittelmeer“, appelliert der Franzose, und: „Asylpolitik ist eine Pflicht für Europa.“ Das bedeute, glaubt er, einerseits, kriminelle Schlepperbanden stärker zu verfolgen. Anderseits aber auch die Achtung der Menschenrechte. Doch was kann Kommissar Barrot, als suprastaatlicher Interessenwalter ohne Hoheitsmacht, tatsächlich tun, außer von Brüssel zu reden und zu mahnen? – Er kann ein wenig mehr zwischen den Mitgliedstaaten koordinieren.

Anfang September schlägt die EU-Kommission in Zusammenarbeit mit dem UNHCR ein gemeinsames „Resettlement-Programm“ vor. Gemeint ist nicht die Aufnahme von Menschen aus Athen oder Lampedusa, sondern von besonders Schutzbedürftigen aus Flüchtlingslagern in Kriegs-und Krisengebieten. Im vergangenen Jahr siedelte der UNHCR 66.000 Menschen im Rahmen dieses Programms um. Mitgliedsländer der EU nahmen lediglich 4.400 von ihnen auf, neben den 10.000 irakische Flüchtlinge, die nach einem EU-Beschluss von 2008 nach Europa geholt werden sollen – auch nach Deutschland. Die österreichische Regierung begrüßt den Vorschlag – und betont, das die Teilnahme am „Resettlement Programm“ freiwillig sei.

Maulkorb für den Justizkommissar

Was die humanitären Zuständen in Europas eigenen Flüchtlingslagern angeht, sagt Justizkommissar Barrot: „Ich werde nicht aufhören, die Regierungen auf ihre Pflichten als EU-Mitgliedstaaten hinzuweisen“, beteuert Barrot.

Wird er nicht?

Am 1. September erklärte ein Sprecher im Auftrag von Barrot, die Kommission erwarte von Italien eine Erklärung zu den Vorwürfen, es seien Migranten noch auf See nach Libyen zurückgeschickt worden. Silvio Berlusconi, der gerade den Gedenkfeierlichkeiten zum Ausbruch des 2. Weltkriegs in Danzig beiwohnte, feuerte daraufhin schwere Kaliber gen Brüssel. Kommissare und ihre Sprecher, die sich auf diese Weise in die italienische Innenpolitik einmischten, herrschte er, müssten „rausgeworfen“ werden. Sollte so etwas noch einmal vorkommen, werde er, Berlusconi, jede Einigung im Europäischen Rat blockieren.

Nach dieser Attacke fragte die ZEIT mehrmals bei Barrots Pressestelle nach, welche Mittel der EU-Kommission blieben, um bei den Mitgliedsstaaten Rechtsgehormsam einzufordern. Eine Antwort blieb aus. Unnachgiebiges Ansprechen? Das sähe anders aus.

Dabei begehen europäische Küstenwachschiffe unter Mitwirkung der EU-Grenzschutzagentur Frontex im Mittelmeer eklatante Völkerrechtsbrüche, wenn sie Flüchtlingsboote abdrängen. Zwar darf jeder Staat nach EU-Gesetzen Asylbewerber zurück- oder ausweisen. Dies hat aber „unter Wahrung der Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention“ zu geschehen. Und die statuiert ein Rückweisungsverbot. Wenn Leben oder Freiheit der Flüchtlinge im Ursprungsland gefährdet sind, dürfen sie nicht ohne ordentliche Asylprüfung abgewiesen werden.

Sanktionen gegen Griechenland?

Doch was kann die EU-Zentrale tun, um ihre Mitglieder zum Rechtsgehorsam zu bewegen? Sie besitzt nur eine Keule, den Artikel 7 des EU-Vertrages. Laut ihm kann einem EU-Mitglied, das „schwerwiegend und anhaltend“ gegen Menschenrechtsgrundsätze verstößt, das Stimmrecht im Brüsseler Rat entzogen werden. Das ist schon einmal geschehen, im Jahr 2000, als die Österreicher die rechtspopulistische FPÖ in die Regierung hoben. Das Resultat der Sanktion war vor allem eine lang anhaltende diplomatische Krise – und die Lehre, dass Artikel 7 im Zweifel mehr Ärger als Nutzen bringt.

In Wien sitzt mittlerweile eine EU-Behörde, die nach Ansicht der grünen Europaabgeordneten Franziska Brantner „genau die Aufgabe haben sollte, solche Menschenrechtsverletzungen wie sie Flüchtlingen geschehen, aufzudecken und anzuprangern.“ Brantner meint die 2007 gegründete „Agentur der Europäischen Union für Menschenrechte“. Doch diese EU-Zweigstelle ist ausdrücklich ohne die Intention ins Leben gerufen worden, Mitgliedsstaaten zur Ordnung zu rufen. „Die Agentur“, heißt es in ihrer Selbstdarstellung, „ist NICHT dazu ermächtigt (…) die Lage der Grundrechte in den Ländern der EU (…) zu überwachen oder sich mit der Rechtmäßigkeit von gemeinschaftlichen Rechtsakten und deren rechtlicher Umsetzung in den Mitgliedstaaten zu befassen.“ Mehr als „Papiere zu verfassen“, beklagt Brantner, dürfe man dort nicht leisten. Insider unken, die Agentur sei ohnehin nur gegründet worden, um Österreich, wie andere Mitgliedsstaaten auch, mit einem EU-Behördenableger zu versorgen.

Der FDP-Europaabgeordnete Alexander Alvaro findet am Ende dieses Sommers die Frage berechtigt, „wie ernst es einige Mitgliedsstaaten eigentlich mit der Garantie der Menschenrechte meinen.“ Aus seiner Sicht ist es höchste Zeit, das Thema Flüchtlinge von einem Saisonaufreger zu einem der grundlegenden „Top 3“-Thema auf der EU-Agenda zu machen. „Es ist ja tragischer Weise zur allsommerlichen Routine geworden, dass Menschen vor unseren Küsten ertrinken. Danach sorgt die Angelegenheit dann nicht mehr für besondere Aufmerksamkeit.“ Das strategische Ziel der EU-Politik, glaubt Alvaro, müsse sein, die Lebensbedingungen in Afrika zu verbessern, damit die Menschen gar nicht erst gezwungen seien, sich auf den gefährliche Seereise nach Norden zu machen. „Das heißt, dass wir die Afrikapolitik endlich ernst nehmen müssen“, sagt er. Warum ist das bisher nicht geschehen? Alvaro atmet tief aus. „Ehrlich gesagt: Der Politik fehlt manchmal der Weitblick über die aktuelle Legislaturperiode hinaus.“

 

Ach so, ein Spitzenposten

Gute Nachrichten aus Brüssel: Es gibt ein politisches Postenrennen, das noch langweiliger ist als der Wahlkampf in Deutschland. Es ist der um den Spitzenposten Europas. Der wurde am 16. September zu Straßburg wiederbesetzt. Manche Beobachter mögen von der „Wahl“ José Manuel Barrosos sprechen. Das ist leider übertrieben.

Barroso war der einzige Kandidat für die Präsidentschaft der Europäischen Kommission, den die Regierungen der 27 EU-Staaten aufzubieten hatten. Einstimmig war er während eines EU-Gipfels im Juni als ihr Kandidat nominiert worden. Richtig zufrieden war in den vergangenen fünf Jahren zwar niemand mit dem Portugiesen. Doch um das Amt des Brüsseler Kommissionschefs einen politischen Wettbewerb auszutragen, das war die Angelegenheit trotzdem keinem wert. Das hätte ja auch nach Streit aussehen können. Und damit kann dieses Europa leider ganz schlecht umgehen.

So bestätigte das Europäische Parlament in Straßburg mit 382 zu 219 Stimmen (bei 117 Enthaltungen) den 53jährigen Konservativen. Zähneknirschend sah der Vorsitzende der Europäischen Sozialdemokraten, der Deutsche Martin Schulz, zu, wie dem neuen und alten Kommissionschef die Glückwunschblumensträuße aufs blaue Pult gelegt wurden. „Die Zustimmung meiner Fraktion haben Sie nicht!“, hatte Schulz Barroso bei einer Aussprache am Vortrag noch entgegen gerufen. Die Sozialdemokraten und die Grünen halten Barroso „für den Vertreter einer Ideologie, die erst zu dieser (Wirtschafts-)Krise geführt hat“, so der grüne Fraktionschef Daniel Cohn-Bendit. „Sie wollen jeden Kommunalfriedhof in Europa privatisieren!“, herrschte Schulz Barroso an. Als Kommissionspräsident habe er „Europa Schaden zugefügt.“

Vielleicht wollte Schulz tief im Inneren einen Teil seines Zorns all den sozialdemokratischen Regierungschefs entgegenschleudern, die die Kandidatur Barrosos unterstützt hatten. Ihre Zustimmung zu Barroso hatte schließlich verhindert, dass es Gegenkandidaten gab. Da konnte Schulz im Parlamentsrund und in Pressekonferenzen noch so wüten und toben – letztlich war der fehlende Kampfeswille seine eigenen Parteigenossen in den Staatskanzleien Portugals, Spaniens oder Großbritanniens, verantwortlich dafür, dass die „Wahl“ zum Abnickungsritual verkam.

Nicht einmal Barrosos eigene konservative Parteifamilie war zufrieden mit der Leistung „ihres“ Kommissionschefs. Als viel zu zögerlich galt ihnen der Mann, als Behördenchef ohne Alpha-Elemente, als ideen- und konzeptlos in Zeiten der größten Wirtschaftskrise, die Europa je gesehen hat. „Es gibt, das sage ich ganz offen, keine Euphorie vorhanden. Bei der Finanzmarktregulierung hat die Kommission total versagt und damit die Krise verschärft“, richtete der Chef der CDU-Landesgruppe im EP, Werner Langen, kurz vor Barrosos Bestätigung.

Ein Mann, von dem niemand begeistert ist, wird auf den wichtigsten Posten gehoben, den Europa zu bieten hat. Was läuft da schief?

Etwas Grundlegendes: EU-Angelegenheiten werden von der nationalen Politik nicht als echte Politik betrachtet. Sie spielen im Wahlkampf keine Rolle (warum haben Merkel und Steinmeier eigentlich nicht um verschiedene Kandidaten gerungen?). Sie werden als verwalterisch betrachtet (supranationale Harmonisierung als Ziel, internationale Harmonie als Mittel). Die „Elite“ in Brüssel soll sie regeln (sie weiß schließlich am besten, was sie braucht).

Merke: Ebenso wenig wie sie dem Wähler die Wahl zwischen verschiedenen Integrationspolitiken zutrauen, trauen sich Europas Regierungsparteien die echte Wahl eines Integrationschefs zu.

Das Resultat ist eine allenfalls lauwarme Europadebatte in der Öffentlichkeit und das Gefühl vieler Bürger, Brüssel Angelegenheiten würden über ihre Köpfe hinweg entschieden. Im Fall von Barroso ist dieser Eindruck nicht einmal falsch. Die Scheu vorm politischen Wettkampf ist deshalb schädlich für die EU. Nach Innen, aber auch nach außen. Eine gesunde Demokratie sieht anders aus.

 

Ein Schlag auf die Birne

Die erste Stufe des EU-weiten Glühbirnenverbots tritt in Kraft. Wie genau kam es eigentlich in die Welt?

Ab heute dimmt Brüssel den Kontinent. Alle 100-Watt-Glühbirnen und alle matten Glühlampen müssen aus den Ladenregalen verschwinden. Nach und nach folgen auch schwächere Kolben. Ab September 2012 wird es innerhalb der Europäischen Union überhaupt keine herkömmlichen Edison-Glühlampen mehr zu kaufen geben.

Weithin überrascht stellen die Europäer dieser Tage fest, dass zum Ziele der CO2-Reduzierung per EU-Verordnung die Birne gebannt wird – und hamstern, was das Zeug hält, die gemütlichen Glimmlampen. „Brüssel“, das verdammt sich nun leicht. Aber wer genau war eigentlich wann verantwortlich?

Die Rekonstruktion des Glühlampenverbots, dies zur Warnung, ähnelt bisweilen dem Abtauchen in eine Wurstmaschine. Doch wer die politische Erleuchtung sucht, muss sich durch die Innereien europäischer Gesetzgebung wühlen. Der entscheidende Impuls allerdings kam aus Deutschland. Genauer gesagt von Bundesumweltminister Sigmar Gabriel. Ein Brief von ihm an die EU-Kommission stieß vor gut zwei Jahren den Prozess an, an deren Ende Europas Wohnzimmer kühler leuchten werden.

Denn mögen Energiesparlampen in der Erdatmosphäre für besseres Klima sorgen – daheim empfinden viele Menschen ihr Licht als so unangenehm wie eine kalte Dusche. Zudem steht es im Verdacht, ungesund zu sein. Der hohe Anteil von unruhigem Blaulicht, sagen Mediziner, sei schlecht für Schlaf und Psyche. Biorhythmisch sei der Mensch am Abend die thermische, gleichwellige Strahlung rötlichen Feuerscheins gewohnt. Außerdem verdampfen Energiesparlampen zur Lichterzeugung Quecksilber. Bei falscher Entsorgung gelangt das Gift in die Umwelt. Kurzum, über das Glühlampenverbot könnte man aus vielen Gründen streiten. Bloß, genau das ist nie geschehen.

Alles begann vor sechs Jahren, am 9. September 2003. Die EU-Kommission in Brüssel verkündet eine Idee für eine Richtlinie mit dem Zauberwort „Ökodesign“. Es geht darum, für „Elektro- und Elektronikgeräte oder Elektrowärmeanlagen“ wie Boiler, Kühlschränke oder Fernseher (Schluss mit dem Stand-by-Betrieb) Umwelt-Mindeststandards vorzuschreiben. Von der Glühbirne ist, damals jedenfalls, noch nirgendwo die Rede. Am 13. April 2005 segnet das Europäische Parlament die Ökodesign-Richtlinie ab. Doch damit legt es zugleich die gesetzliche Grundlage für das Glühbirnen-Verbot.

Australien preschte voran – da muss Europa mithalten

Das Aufeinandertreffen von zwei Ereignissen ist es, das knapp zwei Jahre später für ein sehr plötzliches Aus der Edison-Lampe in Europa sorgt. Am 20. Februar 2007 kündigt, erstens, die australische Regierung an, bis 2010 ein Glühbirnenverbot durchzusetzen. Wenige Woche zuvor hat, zweitens, die deutsche Bundesregierung in Brüssel die EU-Ratspräsidentschaft übernommen – und ein ambitionierter Umweltminister erkennt das Potenzial zum Durchregieren, das die Gesetzgebungsmaschine Brüssel eröffnet.

„Wir haben uns gefragt, warum die Australier das so schnell hinkriegen und wir nicht“, heißt es rückschauend im Bundesumweltministerium. „Ist die Europäische Union etwa zu schwerfällig für effektiven Klimaschutz?“ Noch im Februar 2007, nur wenige Tage nach der australischen Entscheidung, schreibt Gabriel einen Brief an den Brüsseler Umweltkommissar Stavros Dimas. Der Niedersachse macht Druck.

„Die durch die australische Regelung initiierte Diskussion um Energiesparlampen“, erscheine ihm, schreibt Gabriel, „durchaus interessante Möglichkeiten aufzuzeigen. (…) Durch die Umstellung von herkömmlichen Glühbirnen auf Energiesparlampen“ könnten in Europa 25 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr eingespart werden. „Der Standort Europa kann sich eigentlich keine Produkte mehr leisten, die wie herkömmliche Glühbirnen einen Effizienzgrad von nur 5% aufweisen.“ Gabriel bittet den Kommissar „rasch“ für entsprechende „Durchführungsmaßnahmen“ zu sorgen. Als Vehikel für das Verbot, schlägt Gabriel vor, soll die Ökodesign-Richtlinie dienen.

Auf den Fluren der EU-Hauptstadt entwickelt der Vorschlag eine ungeahnte Dynamik. Gabriel hat eine Kugel abgestoßen, die mit ungebremster Wucht durch die Büros der Kommission rollt. Das ehrgeizige Ziel, den CO2-Ausstoß Europas bis 2020 um 20 Prozent zu drosseln, hat die EU erreicht, wenn es gelingt, jährlich 780 Millionen Tonnen CO2 einzusparen. Das Verbot der Glühbirne würde etwa 15 Millionen Tonnen bringen, rechnen Kommissionsbeamte aus. Nicht viel, aber immerhin ein Beitrag. Auf der anderen Seite steht der Verlust des wohligen Lichtes, das viele Menschen an der Glühlampe schätzen.

Ob die 500 Millionen Europäer bereit sind, dieses Opfer für einen vergleichsweise geringen Beitrag zum Klimaschutz zu bringen, wird niemals in irgendeinem Parlament oder öffentlichem Forum diskutiert. Die Entscheidung treffen wenige Regierungsvertreter, Beamte und Auschussvertreter. Das Glühbirnenverbot ist ein Spiel über Bande, vorbei am Souverän.

„Es lief eher informell an“

„Es lief eher informell an“, erinnert sich ein Mitarbeiter von Sigmar Gabriel. „Aber nach dem Brief an Dimas war die Sache ein Selbstläufer. Wir waren überrascht, wie schnell die EU funktionieren kann.“ Schon auf Europäischen Frühjahrsgipfel am 9. März 2007 bekommt – unter Federführung von Bundeskanzlerin Angela Merkel – die Kommission das formale Mandat, die Glühbirne aus dem Verkehr zu ziehen. Die Staats- und Regierungschefs der 27 Mitgliedsländer beschließen einstimmig einen „Aktionsplan Energiepolitik“.

Ob sie wussten, was sie damit genau taten, ist fraglich. Unscheinbar, im Kleingedruckten des 25-seitigen Gipfelkommuniqués, ersuchen die Staatschefs die Kommission, „rasch Vorschläge vorzulegen, damit strengere Energieeffizienzanforderungen (…) für Glühlampen (…) bis 2009 festgelegt werden können.“ Zu klein, zu knapp, zu verschwurbelt – die Glühbirne schafft es auch diesmal nicht, zum kontroversen Politikum zu werden. „Ich erinnere mich während unserer Ratspräsidentschaft nicht an eine einzige Pressenachfrage dazu“, sagt ein deutscher Diplomat. „Das war während der wilden sechs Monate nur eines von vielen Lichtern, die kurz aufflackerten und dann unter dem Laub weiter glühten.“

Nach dem Okay der Staatschefs macht sich die EU-Kommission an die Normenarbeit. Dazu dient ein Prozess, der sich „Komitologie“ nennt. Um sich später keine Kritik aus den Mitgliedsstaaten anhören zu müssen, beteiligt die Kommission bei der Umsetzung von Ratsbeschlüssen möglichst viele Vertreter von Interessengruppen und nationalen Fachexperten – Komitees eben.

Halogenlampen stehen auf der Kippe

Es schlägt die Stunde der Glühfädenmesser. Fachleute aus mehreren EU-Ländern, unter anderem Mitarbeiter des Hamburger Instituts für Ökologie und Politik, kurz Ökopol, machten sich daran, Effizienzgrade zu diskutieren und nach sinnvollen technischen Alternativen zur Edison-Birne zu suchen. Dabei ging es letztlich darum, Hilfe für die politische Entscheidung zu leisten, wann welche Lampenart aus dem Verkehr gezogen werden sollte.

„Die Auswahl zu treffen ist ein zähes Tauziehen, besonders mit den Herstellern“, berichtet der Ökopol-Mitarbeiter Dieter Großmann, ein promovierter Physiker. „Philips und Osram waren natürlich nicht besonders erfreut, dass sie ganze Produktionslinien stilllegen müssen.“ Um jede Birne, um jedes Watt, so Großmann, sei gerungen worden. „Eine Frage war auch: Sollen Halogen-Lampen mit auf die Verbotsliste?“ Das Ergebnis: ja. Ab 2012 werden auch sie aus dem Verkehr gezogen – es sei denn, die Industrie verpasst ihnen bis dahin einen besseren Wirkungsgrad.

Ein „Knackpunkt“, sagt Großmann, sei in der Tat die Frage gewesen, ob Energiesparlampen angesichts ihres Quecksilberanteils wirklich die bessere Ökobilanz aufwiesen. Immerhin bringen laut deutschen Studien bisher nur 20 Prozent aller Verbraucher alte Energiesparlampen zum Sondermüll, und jede von ihnen enthält ungefähr 5 Milligramm des Schwermetalls.

Doch die EU-Kommission gelangt zu dem Schluss, das sei immer noch ein Fortschritt: „Selbst im ungünstigsten Fall“, versicherte Energiekommissar Andris Piebalgs auf eine Anfrage der FDP-Europaabgeordneten Silvana Koch-Mehrin, „wenn eine Kompaktleuchtstofflampe zur Mülldeponie gebracht würde, hat sie während ihrer Funktionsdauer bereits mehr Quecksilberemissionen aus der Stromproduktion in Kohlekraftwerken eingespart als ihrem eigenen Quecksilbergehalt entspricht, so dass die Quecksilberverschmutzungsbilanz insgesamt positiv ist.“

Aber was passiert, wenn Energiesparlampen daheim zu Bruch gehen?

Am 28. März 2008 tritt in Brüssel ein weiterer beratender Ausschuss der Kommission zusammen. Das Gremium nennt sich „Konsultations-Forum“ und ist besetzt mit etwa 80 Vertretern von Regierungsbehörden, Umweltschutzgruppen und Industrie. Besser beschrieben wäre die Gruppe allerdings als supranationales Abnickungsorgan. Mit im Zimmer sitzt Christoph Mordziol vom Umweltbundesamt, als weitläufiger Vertreter des Umweltministeriums. Auch das von Michael Glos (CSU) geführte Bundeswirtschaftsministerium hat (in Gestalt eines Vertreters der Bundesanstalt für Materialforschung und –prüfung) einen Beauftragten zu dem Treffen geschickt. Beide Beamten erklären erwartungsgemäß, sie „heißen die Einführung von umweltgerechten Pflichtanforderungen für allgemeine Beleuchtung willkommen und unterstützen sie.“ Überhaupt, niemand spricht sich während der Sitzung gegen die Abschaffung der Glühbirne aus. „Alle Interessenvertreter stimmen darin überein, dass Kompaktleuchtstofflampen die derzeit effizienteste (…) Technik darstellen, um Glühlampen zu ersetzen“, hält das Protokoll fest.

Nicht einmal die „Vereinigung professioneller Lichtdesigner“ (PLDA) widerspricht dem Glühlampenbann. Ihre Mitglieder hatten zwar zuvor in der Öffentlichkeit und im Europaparlament massiv gegen das Birnenverbot opponiert. Und auch nun, in der entscheidenden Fachsitzung in Brüssel, fragt die PLDA noch einmal kritisch nach, ob die medizinischen Bedenken, die immer wieder vorgebracht werden, hinreichend in Rechnung gestellt worden seien. Doch am Ende beschließt das Konsultations-Forum, mögliche Gesundheitsrisiken erst einmal abzuwarten: „Die Kommission willig ein, dass Alternativen zu Kompaktleuchtstofflampen erörtert werden müssen, falls sich bestätigt, dass Gesundheitsprobleme mit der verwendeten Beleuchtungsart zusammenhängen.“

Arbeitsgruppen ohne Opposition

Die Tatsache, dass auch viele gesunde Bürger das Kunstlicht schlicht als eklig und ungemütlich empfinden, bringt keiner der Teilnehmer auf. War den Arbeitsgruppen-Mitgliedern damals überhaupt klar, wie emotional viele Europäern an der herkömmliche Glühbirne hängen? Dass sich eine Wut auf die „Beglückungsgesetzgeber“ in Brüssel bahnbrechen würde wie seit der Gurkenkrümmung nicht mehr? Christoph Mordziol überlegt eine Weile. „Puh“, sagt er dann. „War mir das klar? Ich weiß offen gesagt nicht mehr, ob ich die Sache damals so emotional eingeschätzt habe. Klar, dieses Licht kann auf das Unterbewusstsein und auf den Hormonhaushalt wirken. Aber es bleibt ja womöglich die Halogenlampe.“ Dann redet Mordziol in unverfolgbarem Tempo über ungerichtetes und gerichtetes Licht, über Wärmespektren und Strahlungsradien. Der Mann ist Ingenieur, kein Politiker.

Am 8. Dezember 2008 passiert das Glühbirnenverbot die letzte Hürde der „Komitologie“, eine Anhörung im semi-national besetzten Regelungsausschuss. Was jetzt noch fehlt, ist ein Plazet durch das Europaparlament (EP). Genauer gesagt, durch den Umweltausschuss des EP.

Das Europaparlament will die Sache nicht debattieren

Am 17. Februar 2009 eröffnet sich dessen Mitgliedern die Chance, das Glühbirnenverbot endlich dorthin zu ziehen, wo es hingehört. Heraus aus den Dunkelkammern von Regierungstreffen und oppositionslosen Fachgremien, hinein in die öffentliche, politische Arena. Doch die 58 Mitglieder des Ausschusses beschließen, die Chance nicht zu nutzen.

Mit 44 zu 14 Stimmen entscheiden sie sich dagegen, die veränderte Verordnung noch einmal dem Parlaments-Plenum zur Debatte vorzulegen. Die Sozialdemokraten stimmen bis auf einen Abgeordneten mit nein. Die Grünen sind geschlossen dagegen. Von den 22 Vertretern der Konservativen wollen 12 die Sache über die Bühne bringen, 10 votieren für eine Plenumsbefassung. Von den acht liberalen EU-Abgeordneten stimmt lediglich einer für einen Einspruch, der Deutsche Holger Krahmer aus Leipzig.

„Mein Argument war: Es ist nicht richtig, wenn die EU per Verwaltungsakt eine so weitreichende Entscheidung trifft“, erinnert sich Krahmer. „Das Argument der Sozialdemokraten und der Grünen war: Es geht um den Klimaschutz! Ich solle aufhören, populistisch daher zu reden.“

Krahmer reiht das Glühbirnenverbot in eine besorgniserregende Entwicklung ein. In die eines zunehmend administrativen Politikstils innerhalb der EU. „Die Kommission versucht immer häufiger, trickreich und versteckt scheinbar technische Entscheidungen im Komitologie-Verfahren zu treffen. Das ist kein gesunder Trend.“ Warum, fragt der Liberale, darf bei der Glühbirne nicht eintreten, was bei Kühlschränken längst funktioniert – dass die Verbraucher ganz selbstverständlich das sparsamere Modell wählen, falls es genau so gut aussieht und sich über die Stromkosten rechnet.

Doch weitere Diskussionen sind nicht erwünscht. Am 17. April 2009 tritt Verordnung 244/2009 in Kraft. Das Ende der Glühbirne ist besiegelt. Das Ende des Ökodesigns ist es noch lange nicht. Nur eine Woche später, am 24. April 2009, beschloss das Europäische Parlament eine Ausweitung der Energieeffizienz-Richtlinie, und zwar auf alle „energieverbrauchsrelevanten Produkte.“ – „Ich habe eine Vision“, erklärte Energiekommissar Günter Verheugen (SPD) im Europaparlament. „Eine Vision, wie das europäische Produkt der Zukunft aussehen soll. Das europäische Produkt der Zukunft, gekennzeichnet durch ein Made in Europe, sieht so aus, dass es das innovativste, das sicherste und zugleich das energieeffizienteste und das ressourcenschonendste Produkt ist.“

Im Klartext: Als nächstes kümmert sich die EU um den Duschkopf.

 

Mit Charme und Orangen

Seit einem halben Jahr jagen EU-Schiffe Piraten am Horn von Afrika. Doch die zeigen sich bisher wenig beeindruckt

– 2 Videobeiträge inklusive –


Das Schicksal der Besatzung auf dem kleinen Holzschiff hängt jetzt an einer Handvoll Eis. „Ich will das Eis sehen“, gibt Fregattenkapitän Ulrich Brosowsky energisch übers Funkgerät durch. Der braungebrannte, sonst eher ruhige Mittvierziger und studierte Pädagoge steht von seinem Kommandanten-Drehstuhl auf. Durch die Fenster der Brücke sticht sein Blick hinaus aufs Wasser, wo, etwa dreihundert Meter entfernt, das Marine-Beiboot mit seinen Soldaten neben einem bunt bemalten Fischerkahn dümpelt. Ein paar Meter von Brosowsky entfernt, draußen an der Schiffswand, haben Maschinengewehrschützen die Szene im Visier. Bei knapp 40 Grad Hitze und sengender Sonne rinnt den stämmigen Matrosen der Schweiß in Bächen unter die Splitterschutzwesten. Noch einmal greift der Kapitän zum Funkgerät. „Lasst euch jetzt das Eis zeigen!“

Video von Bord der „Emden“

Brosowsky und seine Besatzung auf dem Bundeswehr-Kriegsschiff „Emden“ sind im Auftrag der Europäischen Union unterwegs. Mitten im Golf von Aden, zwischen der afrikanischen und jemenitischen Küste, hat die Fregatte aus Wilhelmshaven eine der vielen Hundert so genannten Dhows gestoppt, die in den Gewässern kreuzen. Die meisten der traditionellen Holzkutter gehören harmlosen Thunfisch-Fischern. Doch diese spezielle Schaluppe, so schien es den Wachoffizieren der „Emden“ schon durch die Ferngläser, könnte auf andere Beute aus sein. Dutzende Fässer Treibstoff liegen auf dem Kutter verzurrt, viel zu viel für ihn allein.

Der Verdacht liegt nahe, dass das Boot als schwimmende Nachschubbasis für Piraten dient – also eines jener „Mutterschiffe“ sein könnte, von denen aus Seeräuber das viel befahrene Meer vor dem Suezkanal seit Monaten in das reinste Kriegsgebiet verwandeln. Aufgekratzt geht Kapitän Brosowsky auf der Brücke auf und ab. Wenn die zehn Somalis Eisbarren zur Kühlung an Bord haben, will er ihnen die Erklärung abnehmen, dass sie bloß zu einer Fischerflotte gehören. Wenn nicht, verspricht dieser Vormittag ungemütlich zu werden.

Interview mit dem Kommandanten

Auf der Brücke beobachtet die Wachmannschaft, junge Männer und eine Frau, kaum einer älter als 35 Jahre, mit angespannten Mienen, was sich vor dem schlanken Bug der „Emden“ abspielt. Das graue 130-Meter-Schiff mit der gewaltigen, drehbaren 76-Millimeter-Kanone auf dem Vordeck muss auf den verlorenen Kutter so bedrohlich wirken wie ein Kampfstern. Über eine Kamera zoomt ein Soldat mit Sonnenbrand auf den Armen ein Wärmebild der Dhow heran. Bläuliche Schatten von Menschen bewegen sich über die Holzaufbauten.

111 Mal griffen im Jahr 2008 Piraten in der Gegend Frachtschiffe an, 42 mal gelang es ihnen, mithilfe von Kalashnikows, Enterhaken und Raketenwerfern Schiffe zu kapern. Ganze Öltanker haben sie schon in ihre Gewalt gebracht. Volle vier Monate dauerte das Martyrium der Besatzung auf dem deutschen Frachter „Hansa Stavanger“. Im April von Piraten geentert, kam das Schiff diese Woche für 2,75 Millionen Dollar Lösegeld frei. Doch acht weitere Schiffe mit 157 Menschen an Bord halten Piraten noch immer besetzt. Es sind längst keine armen Fischer mehr, die aus Verzweiflung Containerriesen entern. Am Horn von Afrika entsteht vielmehr eine hochgerüstete maritime Mafia.

Diesem Spuk, beschloss die Europäische Union im Herbst 2008, müsse ein Ende gemacht werden. Und tatsächlich, die Mission „Atalanta“ war für Brüsseler Verhältnisse geradezu in Speedboat-Geschwindigkeit auf den Weg gebracht. Schon zum Jahreswechsel 2009 dampften die ersten Marine-Schiffe mit blauem Sternenbanner am Schornstein Richtung Afrika. Heute patrouillieren ein gutes Dutzend Boote aus Spanien, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Italien und Schweden durch das Einsatzgebiet, dessen Größe einem Viertel der Fläche der EU entspricht. Zwei deutsche Fregatten, einen Einsatzgruppenversorger und ein Aufklärungsflugzeug hat Deutschland geschickt.

Der Schifffahrtskorridor zwischen Arabien und Afrika ist die Achilles-Ferse des Welthandels. Etwa 90 Prozent des globalen Warenverkehrs quetschen sich durch die Meerenge. Rund 20 000 Schiffe pro Jahr befördern Öl aus Iran, Turnschuhe aus Bangladesh oder DVD-Spieler aus China über diese Route gen Westen. Ein einziges von ihnen kann Ladungswerte von einer Milliarde Dollar an Bord haben.

Mit der Schutzmission „Atalanta“ hat Europa, so scheint es jedenfalls, ein sicherheitspolitisches Traumprodukt für das 21. Jahrhundert entwickelt: einen vorbildlich vernetzten, rundum sinnvollen, allseits akzeptierten Militäreinsatz. Anders als beim ungeliebten Afghanistan-Einsatz der Nato versteht in Europa jedes Kind, warum es gut ist, Soldaten gegen Piraten in See zu schicken. Und bei genauem Hinsehen werden die Gründe gar noch nobler. Denn Europas blaue Jungs eskortieren nicht nur Handelschiffe. Sie schützen vor allem die Transportschiffe des UN-Welternährungsprogramms, deren Kornladungen hungernden Somaliern das Leben retten. Methodisch besteht bei all dem wenig Gefahr, unschuldige Frauen und Kinder zu bombardieren oder selbst Soldaten zu verlieren.

Besser geht’s kaum, wenn man, wie die EU, zur smarten Militärmacht der Zukunft aufsteigen will. Hektisch bemüht sich derweil die deprimierte Nato, einen eigenen Flottenverband zu entsenden, die Operation „Ocean Shield“. „Der reinste Schönheitswettbewerb ist das hier“, sagt ein Offizier hinter vorgehaltener Hand.

Doch die EU-Mission zeigt auch, wie vorsichtig-tastend sich Europa trotz aller Erfolge (kein von ihr eskortiertes Schiff wurde bisher von Piraten angegriffen) in die Welt der harten Sicherheitspolitik hineinwagt. Auf entscheidende Fragen der Piratenbekämpfung nämlich liefert „Atalanta“ – in der griechischen Mythologie eine jungfräuliche Jägerin – noch keine klaren Antworten. Wie viel Milde etwa kann man Seeräubern gegenüber sinnvoller Weise walten lassen? Was geschieht mit ihnen, wenn man sie festnimmt? Und vor allem: Wie lange lässt sich die Ursache der Piraterie politisch umschiffen, die Staatsruine Somalia?

Was die erste Frage betrifft, können sich, soweit ein erster Eindruck aus der Praxis, die Gejagten über mangelnde Herzlichkeit der Europäischen Seestreitkräfte nicht beschweren. „Habt ihr das Obst schon übergeben?“, fragt Kapitän Brosowsky das Einsatzteam im Beiboot. Anders als andere Schiffe der Atalanta-Flotte hat die Emden noch keine der für diese Fälle eigentlich vorgesehenen Geschenkrucksäcke an Bord. „Consent Winning Gifts“, heißen die eigens designeten Taschen in der Bürokratensprache, frei übersetzt etwa Fürchtet-euch-nicht-Beutel. Sie sollen, so will es die EU, bei Annäherungen an verdächtige Bootfahrer überreicht werden. Gefüllt sind sie mit Kugelschreibern, Taschenlampen, Notizblöcken und anderen „Souvernirartikeln“ (Brosowsky) mit EU-Logo, nebst Informationsmaterial über den Atalanta-Einsatz. Die „Emden“ hilft sich einstweilen mit Bordmitteln. „Mit Charme und Orangen“, sagt der Kapitän, ließe sich auch oft eine entspannte Amtosphäre schaffen. „Und die lockert hoffentlich die Zungen.“

Genau diese Lockerung ist infolge der Obstübergabe zwischen der Dhow und dem Marinebeiboot offenbar soeben eingetreten. „Der Schiffsführer lädt uns ein, an Bord zu kommen und die Kühlkammer anzusehen“, meldet der Einsatztrupp übers Walkie-Talkie. Brosowsky überlegt. – Was, wenn das eine Falle ist? Soll er eine Auseinandersetzung riskieren? Festnahmen gar? Letztere nämlich könnten den Deutschen im Zweifel ungelegener kommen als den Delinquenten selbst. Als vor wenigen Wochen eine schwedische Marineeinheit sieben Piraten aufgriff, berichtet eine Presseoffizierin des Königreiches, seien diese recht entzückt gewesen über den nordischen Lebensstil auf dem Versorger: „Sie haben gesagt, das sei ja der reinste Luxus hier, vor allem das Essen. Wir könnten sie solange festhalten, wie wir wollten. Das einzige Problem schien zu sein, dass wir weder Zigaretten noch Khat (ein in Somalia verbreitetes Rauschmittel, d.Red.) an Bord hatten.“

Zigaretten gibt es Bord der Emden reichlich, eine Stange für knapp fünf Euro abends im kleinen Shop auf dem klaustrophobisch-engen Mannschaftsdeck. Eine kleine Linderung der Härten, die ein Auslandseinsatz zur See mit sich bringt. „European Warship F 210“ lautet seit dem Atalanta-Einsatz die kuriose Funkkennung der „Emden“. In Dienst gestellt worden ist das Schiff 1983, in der Hochphase des Kalten Krieges. Die Luken aufs Außendeck machen ein saugendes Geräusch, wenn man sie öffnet. Das Schiffsinnere steht unter Überdruck. Im Falle von – damals einkalkulierten – ABC-Angriffen sollte er verhindern, dass Kampfstoffe ins Boot eindringen. „Ist für hier aber auch nicht schlecht“, sagt ein Matrose und drückt kräftig gegen die Stahltür, „hält das Ungeziefer draußen.“

2014 Jahren soll die Emden durch einen neuen Fregattetyp (F125) ersetzt werden, einen, der für die „assymetrischen“ Herausforderungen, wie Terror und Piraterie im Militärsprech heißen, besser geeignet ist. Die neuen Schiffe sollen andockfähig für Spezialkräfte und vier Speedboote werden, ein Tarnkappen-Design bekommen und länger auf See bleiben können.

An der „Emden“ erscheint dagegen vieles schon etwas nostalgisch. Die 12-Mann-Schlafräume, zum Beispiel. Die Duschen mit dem Papp-Pfeil an der Tür, der sich auf „Mann“ oder „Frau“ drehen lässt. Oder der Bordingenieur, der zwar noch keine 30 ist, aber Gasturbinen und Frischwassergewinner erklären kann als sei er im Maschinenraum aufgewachsen. Er ist einer der beschäftigtsten Männer an Bord. Statt mit Sonnencreme ist er mit Öl beschmiert, und sein Lieblingswort lautet „normaler Verschleiß“. Gerade ist der Backbord-Diesel ausgefallen. Letztes Jahr war es die Antriebswelle. „Für die Piratenjagd heißt das aber gar nicht“, beschwört der blasse Techniker.

Nur nach Hause, nach Wilhemshaven, würden seine Kameraden schon gerne pünktlich kommen. Nach fast einem halben Jahr auf See wirken viele von ihnen erschöpft. Auch deswegen ist die Neigung gering, jetzt noch Gefangene zu machen.

Auf der „Emden“ reisen für den Fall solcher Einquartierungen zwei Feldjäger mit. Die Militärpolizisten würden, so schildern sie es, festgenommene Piraten zunächst einmal nach demselben Ablauf behandeln würden wie Verdächtige auf einem deutschen Polizeirevier. Sie würden Fotos machen, Fingerabdrücke nehmen, eine ärztliche Untersuchung abwarten, Dusch- und Waschgelegenheiten stellen und den Beschuldigten Gelegenheit geben, einen Anwalt anzurufen. Falls sie einen kennen.

Danach allerdings wäre Schluss mit deutscher Strafprozessrechtsordnung. Die Festgenommenen würden in nummerierte blaue Overalls gesteckt und mit Handschellen unter einer Sonnenschutzplane auf Deck angekettet. Einer der Feldjäger hebt ein armdickes, gelbes Kunststofftau vom Decksboden auf. An ihm entlang würden die Piraten aufgefädelt. Betretenes Schweigen zwischen Crew und Reporter. Weht da ein Hauch von Guantánamo über die „Emden“? Der Soldat zuckt mit den Schultern. Tja. Arrestzellen gibt es an Bord nun einmal nicht. Was soll man machen?

Gemäß einem Abkommen mit der EU müssten Festgenommenen einstweilen in Kenia vor Gericht gestellt werden. Im März hat die deutsche Fregatte „Rheinland-Pfalz“ dies schon mit neun Piraten getan. Doch bis der Hafen von Mombasa erreicht ist, können ein paar Tage vergehen. Zu lange eigentlich, nach deutschen Standards, um Menschen ohne Haftbefehl festzuhalten. Aber sollen deswegen Richter an Bord mitfahren? Und müssten die Festgesetzten nicht eigentlich auch in Deutschland vor Gericht gestellt werden? All das, sagen die Feldjäger an Bord, seien berechtigte Fragen. Aber über die müßte Politiker entscheiden, nicht sie.

Eine Idee, die die deutschen Justizminister diskutieren, lautet, den Internationalen Seegerichtshof in Hamburg um eine Strafrechtskammer zu erweitern; ein Den Haag für Piraten, gewissermaßen. Dann wäre bloß noch die Frage, wo dieses Gericht am besten seinen Sitz haben sollte. Vielleicht doch eher in Afrika? Bisher sind 68 mutmaßliche Piraten nach Kenia in Landhaft überführt worden.

Die derzeit heikelste Frage aber lautet, wie weit die Bundesregierung gehen würde, um ein entführtes Schiff zu befreien. Am 4. April fiel die „Hansa Stavanger“ in die Hände von Piraten, seitdem lagen deutsche Marineschiffe in der Nähe, um die Szene zu beobachten. Die Soldaten auf der „Emden“ sind dabei in den vergangenen Wochen Zeugen geworden, wie sich die GSG9 für eine Erstürmung des Schiffes erst rüstete – und dann unverrichteter Dinge wieder abzog. Die deutsche Marine brachte dem Vernehmen nach nicht genügend Hubschrauber auf, um eine Befreiungsaktion starten zu können. Und die amerikanische Navy weigerte sich, die heikle Mission zu unterstützen.

Manch einer an Bord fragt sich nach der unnützen Warterei, ob Berlin, gerade im Wahljahr, überhaupt den erforderlichen politischen Willen besitzt, „auch mal ein klares Zeichen zu setzen.“ Schließlich würden die Piraten-Banden mit jeder Lösegeldforderung gestärkt. „Wir sehen doch gerade, dass die in die Glasfaser-Klasse aufsteigen“, sagt ein Marine-Mann. Moderne, schnellere Boote gehören mittlerweile ebenso zum Arsenal der Seeräuber wie Schiffserkennungsgeräte, Panzerfäuste und Satellitentelefone – sie rüsten schneller auf als die deutsche Marine. Nach einem halben Jahr „Atalanta“ haben die Angriffe zudem keinesweg abgenommen; seit Jahresbeginn wurden 130 Attacken (Quelle: International Maritime Bureau) gezählt, schon mehr also als im gesamten Vorjahr. Andere Soldaten sind skeptisch, ob „Eskalationen“ weiter helfen würden. „Wir lernen hier schließlich auch noch dazu“, heißt es in der Offiziersmesse über einem Stück heimatlichem Schweinebraten.

Ein historischer Vergleich macht klar, was Seemacht auch bedeuten kann: Als die britische Regierung 1807 beschloss, die Sklaverei zu beenden, schickte das Königreiche seine Navy, um vor der Westküste Afrikas Menschenhändler von ihrem Tun abzuschrecken. Bis zu 240 Schiffe waren dafür im Einsatz, mit 40 000 Mann Besatzung. Bis 1840, schildert der britische Historiker Niall Ferguson (in „Empire“) habe die Royal Navy 425 Sklavenschiffe aufgebracht und nach Sierra Leone eskortiert, wo den Kapitänen der Prozess gemacht wurde.

Kapitän Brosowsky entschließt sich, jedenfalls heute, lieber zum defensiven Rückzug. Das Eis hat er zwar nicht gesehen. Aber seine Soldaten sollen die Dhow trotzdem nicht betreten. Schließlich habe sich deren Besatzung „kooperativ“ gezeigt. Er befiehlt dem Beiboot zur „Emden“ zurückzukehren – auch wenn Zweifel bleiben, wie er zugibt. „Aber es ist nicht Aufgabe von Atalanta, Piraterie mit allen Mitteln zu verhindern“, sagt er. Und: „Allein von See aus läßt sich das Problem ohnehin nicht lösen.“

Dazu müsste, das ist hier allen Beteiligten klar, vielmehr die Piraten-Heimat Somalia stabilisiert werden. Doch dort tobt seit Monaten ein Krieg zwischen einer schwachen Übergangsregierung und Clanmilizen, die sich nebenbei auch gegenseitig terrorisieren. Zudem gewinnen Islamisten an Boden, nachdem bereits mehrere Interventionen – unter anderem mit Hilfe Amerikas – blutig scheiterten. Nach UN-Schätzungen sind 1,2 Millionen auf der Flucht aus der Staatsruine. Es ist ein Afghanistan in Afrika, mit anderen Worten. Und damit keine Aufgabe, die Europas Militär sich zutrauen würde.

 

Alle mal herhören

Das Sommerloch besitzt in Brüssel eine besondere Qualität. Die Stadt, weil weitgehend entleert von ihren Beamten-Belagerern, wird zur Echokammer. Statt des gewohnten Akustik-Breis aus Tausenden brabbelnder Europäer werden plötzlich, vor allem in Bars und Restaurants, einzelne Sprachen identifizierbar.

Schön ist das nicht, denn nicht alle Kontinent-Genossen benehmen sich so ohrenfreundlich wie wir Deutschen. Da es in diesem Jahr den ZEIT-Korrespondenten verboten worden ist, per Dienstwagen in den Urlaub zu entfleuchen, bleibt zur Notwehr nur die Schelte an dieser Stelle.

Also, im Ernst und der Reihe nach. Spanier: Wir in Nordeuropa glauben daran, dass es möglich ist, nacheinander zu reden. Also hört auf, alle durcheinander zu schreien. Das gilt auch für euch, Italiener. Amerikaner: Dass ihr uns vom Totalitarismus befreit habt, heißt nicht, dass ihr allein auf der Welt seid. Also gewöhnt euch den Kasernenhofton ab und lernt, wie alle anderen, bitte und danke zu sagen.
Rumänen: Ruft weniger oft „Fuck!“ und ihr geht als Portugiesen durch. Polen: Natürlich fühlen wir, weil ihr historisch die Iren des Kontinents seid, romantisch mit euch. Euren Damen gehört der Wodka trotzdem verboten.

Apropos Iren: Deren Ausrufe werden nicht laut, sondern breiiger, je später der Abend. Daran nehmen wir uns jetzt alle mal ein Beispiel, bitte. Danke.

 

Mit einem SWIFT ist alles weg

Wie in der EU über Bürgerrechte verhandelt wird, ist Europa unwürdig

Es ist ein typischer Sommersaison-Nachmittag in Brüssel. Die Amts- und Redaktionsstuben der EU-Hauptstadt sind weitgehend geleert. Der politische Betrieb läuft aus, rund um den sonst so hektischen Place Schuman schweigen jetzt sogar die Baustellen. In diese Stille hinein fliegen am Montag die 26 Außenminister der Europäischen Union ins Justus-Lipsius-Gebäude ein, zu einem Rat über Allgemeine Angelegenheiten (RAA).

Sie reden über das Aufnahmegesuch Islands (die Kommission soll Beitrittsverhandlungen aufnehmen), über das Chaos in der Staatsruine Somalia (die EU soll eine Erkundungsmission entsenden), und beim Mittagessen debattieren sie über den Iran (man zeigt sich sehr besorgt über die Behandlung der gefangenen Oppositionellen, im übrigen soll mit Teheran weiter umgegangen werden wie bisher).

Und dann gibt es da noch einen vorverhandelten Punkt auf der Tagesordnung, dem die Minister ohne weitere Aussprache zustimmen. Schließlich scheint es nur um eine Kleinigkeit zu gehen: die Kooperation mit den USA in der Terrorbekämpfung, eine Formsache der Zeitgeschichte, wenn man so möchte. Einstimmig, nebenbei, nickten die Außenminister das Vorhaben ab: Die Europäische Union soll ein Abkommen schließen, das die Weitergabe von Bankdaten europäischer Bürger an die amerikanische Regierung erlaubt.

Die Außenminister erteilen auf diese Art ein Placet für einen Eingriff in Freiheitsrechte, der, würde er in den politischen Arenen der einzelnen Mitgliedsstaaten geplant, Wogen der Empörung auslösen würde. Was, anders gesagt, in Deutschland als Gesetz den Bundestag und eine geharnischte öffentliche Debatte passieren müsste, wird in Brüssel als Konferenzpunkt abgehakt. Es ist dieser Webfehler im politischen System der EU, der so vielen Menschen (und Verfassungsrichtern) Bauchschmerzen bereitet.

Und so lautet der Beschluss: Die Vereinigten Staaten sollen künftig über eine europäische Behörde Anfragen richten können, um die Daten von Swift-Überweisungen zu erhalten. Swift, die Society for Worldwide Interbank Financial Telecommunications, ist eine Genossenschaft mit Sitz in Belgien, die für mehr als 8300 Banken und Finanzdienstleister in 208 Ländern internationale Transaktionen abwickelt. Jeder, der schon einmal eine Auslandsüberweisung getätigt hat, kennt die speziellen Swift-Codes, mit deren Hilfe die Empfängerkonten zugeordnet werden.

Was kaum jemand weiß, ist hingegen, dass die amerikanische Regierung seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 völlig unkontrolliert die Daten von Swift-Benutzern, also Name, Betrag, Bankkontakte und Verwendungszwecke überprüft und gespeichert hat. Denn Swift unterhält einen so genannten Spiegel-Server im US-Bundesstaat Virginia. Auf Grundlage einer Executive Order, also einer Anweisung des Präsidenten, hat sich das US-Finanzministerium bis Ende 2006 ohne jede Einschränkung aus dem Speicher bedient.

Dann flog die Abzapf-Aktionen auf, und auf Drängen der EU verpflichtete sich das US-Finanzministerium die Daten wenigsten nicht länger als fünf Jahre zu speichern sowie eine jährliche „Evalution“ der Sammelei durch einen europäischen Richter zuzulassen.

Schon an dieser Stelle wäre freilich die Frage erlaubt gewesen, warum die Europäische Union nicht wesentlich entschlossener reagiert hat. Die Swift-Daten erlauben es immerhin, ein umfängliches Profil europäischer Wirtschaftsbeziehungen zu erstellen. Wer handelt mit wem? Welche Umsätze machen welche Firmen? Wer exportiert wohin? Wie stark entwickelt sich Firma X? Wie geht es Konkurrent Y? 15 Millionen Transaktionen werden jeden Tag über Swift abgewickelt. Glauben die europäischen Regierungen allen Ernstes, das Interesse der US-Regierung an diesem Informationsschatz sei auf Terrorfinanzierung beschränkt geblieben?

Schon 2006 also, nach Bekanntwerden der Datenabschöpfung, hätte die Europäische Union mit den Amerikanern eine, um es vorsichtig zu sagen, ernsthafte Diskussion über dreisten Informationsklau führen können. Stattdessen sollen in Zukunft, wie es der Europa-Staatsminister Günter Gloser (SPD) am Montag in Brüssel formulierte, „Leitplanken“ eingezogen werden, um den Datenschutz zu stärken und Europäern den Rechtsweg gegen illegale Abschöpfung zu eröffnen.

Denn mittlerweile hat Swift gehandelt. Die Firma will ihren Server von Virginia in die Schweiz zu verlegen. Im Herbst soll der Umzug bewerkstelligt sein. Dem allzu leichten Zugriff der amerikanischen Behörden wären die Bankdaten damit entzogen.

Statt aber nun erst einmal in aller Ruhe – und vor allem unter Beteiligung der nationalen Parlamente – zu diskutierten, wie in Zukunft unter Abwägung aller Interessen verfahren werden sollten, wird aus dem „Pull-System“, so ein europäischer Diplomat, schlicht ein „Push-System“ gemacht. Die Amerikaner fragen nach Swift-Daten, die Europäer liefern – unter Voraussetzungen, die bis Dezember zwischen Kommission und USA ausgehandelt werden sollen.

Die Hauptfrage indes haben die Minister in Brüssel nicht diskutiert. Trägt die Datensammelei überhaupt in verhältnismäßiger Weise zur Terrorbekämpfung bei? Fragt man EU-Diplomaten, wie viele Anschläge denn bisher durch die Daten-Überprüfungen verhindert worden seien, verweisen sie auf einen Bericht des Richters Jean-Louis Bruguière vom Februar diesen Jahres. Nach Ansicht des Franzosen hat die Datenüberprüfung „maßgeblich zur Terrorismusbekämpfung in den Vereinigten Staaten, in Europa und in anderen Erdteilen“ beigetragen. Mehr als diese wertende Zusammenfassung des Bruguière-Berichts ist der Öffentlichkeit allerdings nicht zugänglich. Das Papier ist als geheim eingestuft. Mit anderen Worten: Wie sinnvoll der Datenscan ist, kann kein Parlamentarier, kein Journalist, kein Bürger nachvollziehen.

Jean-Louis Bruguière, soviel läßt sich allerdings sagen, ist kaum der beste Gewährsmann für die Verhältnismäßigkeit von Anti-Terror-Maßnahmen. Der Ermittlungsrichter hat sich seinen Fachruhm bisher weniger als neutraler Gutachten denn als hartgesottener Terroristenjäger erarbeitet. In europäischen Polizei- und Geheimdienstkreisen gilt Bruguière neben seinem spanischen Kollegen Balthazar Garzon als einer der Richter, an die man sich vertrauensvoll wenden kann, wenn er eines schnellen, unkomplizierten Haftbefehls gegen wandernde Dschihadisten bedarf.

Und Swift selbst gehört, nach allem was man weiß, kaum zu den bevorzugten Geldtransfermethoden von Islamisten. Sie bedienen sich vielmehr oftmals dem jahrhundertealten so genannten „Hawala“-System, auch bekannt als Underground Banking. Das funktioniert so: Möchte jemand aus dem Jemen Geld nach Pakistan überweisen, wendet er sich an eine Hawala-Wechselstube und gibt dem Betreiber den entsprechenden Geldbetrag. Im Austausch erhält er ein Codewort oder eine Zahlenkombination. Jedem, der den Code, einen persönlich überlieferten PIN gewissermaßen, kennt, wird der Betrag am Zielort ausgezahlt.

Wie viele Fälle von Terrorismus bisher durch den Swift-Überprüfung verhindert worden seien, konnte am Montag auch Staatminister Gloser nicht sagen. Ob das Bundeskabinett je mit der Angelegenheit befasst war und welche Meinungen sich dort bildeten, wusste Gloser ebenfalls nicht. „Wir stehen“, warb er vor den Journalisten um Verständnis, „erst am Anfang eines Verhandlungsprozesses.“
Bis der abgeschlossen ist, saugen die Amerikaner weiter weidlich Daten vom Swift-Server ab. Es wäre, sagt der EU-Justizkommissar Jacques Barrot, „extrem gefährlich, zum jetzigen Zeitpunkt die Überwachung des Informationsflusses zu stoppen.“

Beschlossen zur Sommerzeit in diplomatischen Hinterzimmern, beraten von einem Hardliner, abgeschirmt gegen jede inhaltliche Opposition – die Art, wie die EU über Bürgerrechte verhandelt, ist Europa schlicht unwürdig.

 

Bäh, Fisch!

Die europäische Fischereipolitik ist ein einziger Skandal.
Warum traut sich trotzdem kein Politiker an sie heran?

Markus Knigge und Mike Walker haben den vielleicht depremierendsten Job aller Brüsseler Lobbyisten. Aber dafür dafür erscheinen sie recht gut gelaunt.

In einem indischen Restaurant im Schatten des Kommissions-Gebäudes sitzen mir die beiden jungen Männer, ein Deutscher und ein Ire, gegenüber – und strahlen.

„Wir sind die Fisch-Retter!“, sagen sie.

Markus und Mike arbeiten für den PEW Environment Trust, einer Umweltschutzorganisation mit Stammsitz in den USA. In Brüssel hat die Organisationen vor gut einem Jahr eine Büro gegründet, und was Mike, Markus und ein halbes Dutzendes weiterer Mitarbeiter von dort aus versuchen, erscheint als ebenso nobler wie aussichtsloser Kampf gegen ein Bündnis von 26 sturköpfigen Regierungen.

Mike, Markus & Co. möchten Europa davon abbringen, pro Jahr mehr als vier Milliarden Euro auszugeben, um die Fischbeständen in den Meeren zu vernichten. Diesen Effekt, kurz gefasst, attestieren die beiden nämlich der Fischereipolitik der Europäischen Union.

„Die Details sind sehr technisch und kompliziert“, sagt Markus und bestellt ein vegetarisches Curry. „Aber das Grundproblem ist ganz einfach: Wir fischen zu viel. Es gibt zu viele Boote für zu wenige Fische.“

Jedes Jahr legen die Landwirtschaftsminister der EU-Mitgliedstaaten Fangquoten für Nord- und Ostsee fest. Und jedes Jahr, beklagen Kritiker wie Markus und Mike, überziehen die Minister die Grenzwerte, welche nicht nur die EU-Kommission, sondern auch Wissenschaftler gerne sähen. Zwar bemüht sich die EU-Verwaltung, die Fangquoten möglichst niedrig zu halten, doch den meisten Regierungen, klagen Umweltschützer, gehe das kurzfristige Wohlergehen ihrer Fischer vor den langfristigen Bestandschutz der Schwärme.

In den vergangenen Jahre haben laut PEW-Angaben die Fanggrenzen im Durchschnitt 48 Prozent über den wissenschaftlichen Empfehlungen gelegen. Die Quote für den schottischen Schellfisch allein sei 2007 achtmal höher festgesetzt worden als Meeresbiologen angemahnt hatten.

Schleppnetz-Trawler würfen außerdem zwischen 70 und 90 Prozent ihres Fanges zurück ins Meer, weil die Fische entweder zu klein sind oder schlecht verkäuflich. Immer wieder dokumentieren Umweltschützer mit Kameras von Booten aus, wie tonnenweise toter Beifang über Bord gespült wird – es ist eine unfassbare Vernichtung von Meeresleben. Der Kabeljau, eine vor wenigen Jahren noch stark verbreitete Art, ist in Nord- und Ostsee mittlerweile bestandgefährdet.

Allen voran Spanien, Italien, Portugal und Polen, berichten Mike und Markus, verlangten trotz alledem regelmäßig eine Erhöhung der Quoten. Denn erstens sichere die Fischerei Arbeitsplätze in den Küstenregionen, und zweitens würden die Fangtechniken immer moderner – nicht zuletzt infolge reichlicher Subventionen, welche die Fischer in neues Gerät investieren können. 4,3 Millionen Euro schüttet die EU im laufenden Sieben-Jahres-Haushaltsplan an Fischereisubventionen aus (Details hier). Ergebnis: Die Ausbeutung der Meere wird immer leichter – und leichtsinniger.

„Die technisch hochgerüstete Fischereiflotte von Schweden zum Beispiel braucht ganze zwei bis drei Wochen, um die erlaubte Fangmenge für ein ganzes Jahr aus dem Wasser zu ziehen“, sagt Mike und bestellt ein Hühnchen-Gericht. Dabei sei doch absehbar, welche langfristigen Folgen die Überfischung haben müsse: „Ohne Fisch gibt’s irgendwann keine Fischerei mehr. Ist doch eigentlich logisch, oder?“

Das Problem liegt also auf der Hand. Selbst die EU-Kommission räumt ein, dass die gemeinsame Fischereipolitik gescheitert sei, weil sie die Fischbestände bedrohe statt sie zu schützen. Warum also ändert die EU nicht den Kurs?

Weil sich zunächst einmal die Frage stellt, wer „die EU“ in diesem Fall eigentlich ist. Und es sind natürlich vor allem diejenigen Staaten, denen das Thema Fischerei aus geografischen Gründen am Herzen liegt. Warum sollten sich schon die Regierungen von Tschechien, Österreich oder Slowenien für niedrigere Fangquoten ins Zeug legen? Das verspricht nur politischen Streit. Die Initiativhoheit bleibt damit bei jenen Regierung, die ein Eigeninteresse an hohen Fangquoten haben. Daran, mit anderen Worten, die Fischer nicht als Wähler zu vergrätzen. Zwischen 1994 und 2006, rechnet PEW vor, habe allein Spanien die Hälfte aller EU-Fischereisubventionen bezogen. Warum sollte Madrid ein Interesse daran haben, diesen Zufluss zu stoppen, wenn dies das schnelle Aus für viele, viele Fischer bedeuten würde?

Dabei verspräche das Thema Überfischung jedem Politiker, der sich traute, es anzufassen und in die Öffentlichkeit zu tragen, potentiell breite Zustimmung. Grüne könnten den Umwelt-Skandal anprangern. Liberale den Subventionswahnsinn geißeln. Und Konservative beides. Warum trotzdem nichts passiert, dafür hat Mike seine eigene Erklärung:

„Fische sind einfach nicht so niedlich wie Pandabären. Sie riechen ziemlich komisch, und keiner will sie knuddeln.“

Stimmt. Wir essen sie lieber. Die Frage ist bloß: Wie lange noch?