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Falsch verbunden

Europa sollte mit dem Lissabon-Vertrag eine „Telefonnummer“ bekommen. Jetzt zeigt sich: Diese Hoffnung wird sich nicht erfüllen

Es war eine vielsagende Szene, die sich vor knapp einem Jahr in Brüssel abspielte. Barack Obama war gerade als neuer US-Präsident inthronisiert worden, und der German Marshall Fund hatte die Planungsstabchefin des US-Außenamts, Anne-Marie Slaughter, zu einer Podiumsdiskussion in die EU-Hauptstadt geladen. „Wie werden sich die EU-USA-Beziehungen unter der neuen Regierung entwickeln?“, lautete das Thema der Runde. Bekomme Europa, wollte der Moderator von Slaughter wissen, mit dem Lissabon-Vertrag endlich die lang ersehnte, eine Telefonnummer? Den klaren Anschluss, den sich schon Henry Kissinger gewünscht hatte?

„Oh, natürlich“, entfuhr es der US-Diplomatin eher spontan als überlegt, „Europa hat sogar viele Telefonnummern!“ – Das Publikum brach angesichts dieser Freudschen Fehlleistung in schallendes Gelächter aus. Doch die Intuition der Frau sollte Recht behalten.

Der Lissabon-Vertrag, zeigt sich, löst eines seiner Hauptversprechen nicht ein. Europa beschallt die Welt auch weiterhin nicht mit einer Stimme. Sondern mit einem ganzen Chor. Die beiden Spitzenämter, die dies ändern sollten, der permanente Ratspräsident sowie die „EU-Außenministerin“ bündeln nicht, wie erwartet, Europas außenpolitische Vertretungsmacht. Sie vergrößern vielmehr die Vielgesichtigkeit der EU.

Die Verschlimmerung der Euro-Schizophrenie infolge von Lissabon äußert sich in einem bizarren Vorgang, der sich dieser Tage zwischen Washington, Brüssel und Madrid abspielt. Im Mai, so plant es die derzeitige spanische Ratspräsidentschaft, soll ein EU-USA-Gipfel stattfinden. Solche Drittstaaten-Gipfel gab es schon immer im internationalen Terminkalendar. Bisher fanden sie im so genannten Troika-Format statt. Das heißt, die EU wurde vertreten von 3 Figuren. –  1. vom Hohen Beauftragten für Außenpolitik (bisher Javier Solana, jetzt Catherine Ashton). 2. vom Kommissionspräsidenten (Jose Barroso). 3. vom jeweiligen Land, das gerade den Ratsvorsitz innehatte. Natürlich würde man nun erwarten, dass statt der rotierenden EU-Geschäftsführer (3)  der neue permanente Ratspräsident Herman Van Rompuy diesen Job übernimmt. Das allerdings sehen die Spanier nicht so. Deren Ministerpräsident José Luis Zapatero wollte Barack Obama gerne in seiner Hauptstadt die Hand reichen.

„Die permanente Ratspräsidentschaft war [in die Vorbereitung des Gipfels] nie involviert“, bestätigt der Sprecher Van Rompuys, Dirk De Backer. 

Hat auch jemand allen Ernstes erwartet, dass die Alpha-Tiere dieses Kontinents sich die besten Außenpolitik-Shows von einem unbekannten Belgier stehlen lassen würden? Schon die Wahl Herman Van Rompuys entlarvte, dass der Lissabon-Vertrag  in der Frage der europäischen Sprachgewalt ambitionierter war als seine Autoren. Van Rompuy war eine gewollt kleinliche Lösung für eine große Gelegenheit. Die Hauptqualifikation des 61jährigen konservativen Flamen war seine Unauffälligkeit. Der praktizierende Katholik, hieß es vor seiner Kür in europäischen Regierungskreisen, sei uneitel, verschwiegen, zurückhaltend unter Großen und scheinwerfer-avers.

In einem vertraulichen „Persönlichkeitsbild“, welches das Auswärtige Amt Bundeskanzlerin Merkel über den damaligen belgischen Regierungschef erstellte, hieß es: „Herman Van Rompuy gilt als Ministerpräsident wider Willen. (…) Durch seine Glaubwürdigkeit und Verschwiegenheit („die Sphinx“), hat er sich 2007 als königlicher „Erkunder“ großes Vertrauen erworben. Er gilt als kompetent und durchsetzungsfähig. (…) Trotz Eloquenz sucht er nicht die Mikrophone und das Scheinwerferlicht.“

Gesucht und gefunden, kurzum, hat die EU  eine graue und verlässliche Maus, die keinem die Kameras klaut. Alles andere widerspräche auch den Interessen der EU-Staatschefs. Sie sind  es schließlich, die daheim (auch für außenpolitische Erfolge) wieder gewählt werden müssen. Das Schicksal des Ratspräsidenten hingegen hängt nach zweieinhalb Jahren allein von der Gnade der Staatschefs ab.

In Washington schüttelt man angesichts dieser Unklarheiten in Europa nur den Kopf. Ob angesichts der „Konkurrenz in Europa“ Barack Obama selbst zum geplanten Gipfel reisen werde, sagten US-Diplomaten vor zwei Tagen dem Wall Street Journal, „wird davon abhängen, wer das Treffen einberuft. Wir haben ihnen [den Europäern] gesagt: ,Werdet auch einig und gebt Bescheid’.“

Mittlerweile teilte das Weiße Haus mit, Obama werde nicht zum Gipfel reisen. Er habe dies nie geplant.

Der Sprecher des US-Außenministeriums, Philip J. Crowley, begründete die Absage ausdrücklich mit der Unklarheit, welche die Lissabon-Reform geschaffen habe.  “Bis jetzt hab es alle sechs Monate ein Treffen, eines in Europa und eines hier“, sagte er vor Journalisten in Washington. „Jetzt gibt es eine neue Struktur. Es gibt nicht nur die rotierenden Präsidentschaften, sondern auch noch einen EU-Ratspräsidenten und einen Kommissionspräsidenten. Wir versuchen uns dadurch zu arbeiten.“ Die Frage, wann es Treffen gäbe, wo sie stattfänden und wer der Gastgeber sei, „wird im Lichte der neuen Architektur gerade neu bewertet.“

Ganz abgesehen von den Querelen in Brüssel, ist diese Entscheidung nachvollziehbar. Europa ist der amerikanischen Regierung nicht halb so wichtig wie es glaubt. Warum auch? Wahre Chancen und Risiken der Weltpolitik warten anderswo. In China, in Afghanistan, in Indien und Lateinamerika. Statt Gipfel zu besuchen, bei denen nicht viel mehr besprochen wird als die Tatsache, dass es eigentlich nichts zu besprechen gibt, hat Obama weiß Gott Wichtigeres zu tun.

Die schmerzhafteste Erkenntnis über ihre Rolle in der Welt  könnte der Lissabon-EU noch bevorstehen: Stell‘ dir vor,  Europa redet mit einer Stimme und keiner hört zu.

 

„Ich bin nicht der deutsche Kommissar“

 Günther Oettinger versprüht bei seinem ersten Brüsseler Auftritt tatsächlich Energie

Anhörung OettingerNatürlich hat Angela Merkel den Mann nicht in erster Linie wegen seiner europapolitischen Kompetenzen nach Brüssel verfrachtet. Aber wer die Anhörung des künftigen EU-Energiekommissares Günther Oettinger heute vormittag im Europaparlament verfolgte, gewann dann doch einen überraschenden Eindruck. Der Begriff des schnellen Brüters, schien es nach dem dreistündigen Kandidatentest, muss ganz neu definiert werden.

Oettinger, so viel wusste man schon vorher, ist ein Fleißmensch. Doch der Schwabe versteht es offenbar nicht nur, sich binnen kurzer Zeit erhebliches Faktenwissen anzutrainieren. Die neue Materie, die er über die Weihnachtstage verinnerlicht hat, erreichte offenbar auch die kritische Masse, die notwendig ist, um Leidenschaftsreaktionen auszulösen. Mit Verve versprach der Noch-Ministerpräsident von Baden-Württemberg den Brüsseler Abgeordneten eine „offensive Politik“. Er wolle „neue Möglichkeiten ausloten“ für das Energieressort der Europäischen Union. Dazu gehöre es zum einen, die neuen Gesetzgebungsbefugnisse, die der Lissabon-Vertrag der Kommission übertragen hat, zu nutzen. Europa als einheitlichen Block gegenüber Öl- und Gaslieferanten aufzustellen, sei die zweite Herausforderung. Und schließlich wolle er die europäischen Leitungsnetze „ertüchtigen“, um die Bürger von liberalisierten Energiemixen profitieren zu lassen, so Oettinger.

Das Energiekommissariat ist, entgegen anderslautenden Gerüchten, eines der wichtigeren Brüsseler Ressorts. Es kann, in seiner marktwirtschaftlich Dimension, den Bürgern echten Mehrwert bringen, indem es den Wettbewerb unter den europäischen Anbieter anheizt. Es muss, in seiner strategischen Dimension, für Versorgungssicherheit sorgen, indem es der Erpressbarkeit Europas durch ausländische Anbieter entgegentritt (die EU bezieht über 50 Prozent ihres Energiebedarfs aus dem Ausland, einen Großteil davon aus Russland). Beides hat Oettinger erkannt. Sein Leitmotiv als Kommissar, machte er dem Parlament klar, lautet Vielfalt im Inneren und Einigkeit nach außen.

„Ich habe die Vision eines intelligenten europäischen Netzes“, beschwor Oettinger.  Und: „Die EU braucht eine gemeinsame Energieaußenpolitik statt nationaler Insellösungen.“

Auf Visionen springen Europaparlamentarier an. Auf den Verdacht, dass da nur jemand das Lehrbuch für Kommissionsanwärter studiert hat, weniger. Mehrfach flog Oettinger in Nachfragen der Verdacht entgegen, er könne sein Amt als Lobbyist der deutschen Energiekonzerne missbrauchen. Zu diesem Eindruck trug die anhaltende deutsche Medien-Diskussion darüber bei, ob Oettinger wohl in der Lage sei, auch  „deutsche Interessen“ in Brüssel zu vertreten. Tatsächlich müssen EU-Kommissare bei ihrem Amtsantritt allen nationalen Blickwinkeln abschwören. 

„Die Kommission übt ihre Tätigkeit in voller Unabhängigkeit aus. Die Mitglieder der Kommission dürfen (…) Weisungen von einer Regierung, einem Organ, einer Einrichtung oder jeder anderen Stelle weder einholen noch entgegennehmen. Sie enthalten sich jeder Handlung, die mit ihrem Amt oder der Erfüllung ihrer Aufgaben unvereinbar ist.“ So will es der Lissbaon-Vertrag(Artikel 17 Abs. 3 Sätze 2 und 3 EU-Vertrag).
 
Oettinger sah sich aufgrund der wiederholten Nachfragen gezwungen, hier besonders klar zu werden.

„Ich bin nicht der deutsche Kommissar“, entgegnete er auf entsprechende Vorhaltungen aus dem Lager der Sozialisten und der Grünen, „ich bin der von Deutschland vorgeschlagene Kommissar. Ich habe nicht die Absicht, Partei von deutschen Interessen zu sein.“ Und versicherte weiterhin: „Ich besitze keine Aktien von Eon, RWE oder Vattenfall. Trauen Sie mir die notwendige Objektivität und Unabhängigkeit bitte zu.“

Ob und welche Länder in die Atomenergie investierten, stellte Oettinger klar, sei deren Sache. Auch wenn er selbst die Kernkraft als „Brückentechnologie“ betrachte, es gehe die EU nichts an, welche demokratischen Entscheidungen in den Nationalstaaten getroffen würden. Die Frage der sicheren Endlagerung von Brennstäben indes sei sehr wohl eine, um die sich die Union kümmern müsse.

Noch glüht der Mann für seinen Stoff. Die Frage ist bloß, welche Halbwertszeit Oettingers Begeisterung für Europa hat. Der energiezehrende Brüsseler Apparat hat, nach leidenschaftlichen Starts, schon andere helle Köpfe ermattet.

 

Charmante Realistin

Europas neue Außenministerin Catherine Ashton macht dem Brüsseler Parlament die Grenzen ihrer Macht klar. Ein guter  StartAshton Anhörung für die Britin

Das Europäische Parlament hat heute die designierte EU-Außenministerin Catherine Ashton zur Anhörung geladen. Frau Ashton erschien. Die EU-Außenministerin nicht. Fünf Wochen nach der Benennung der Britin durch die 27 Staatschefs der Europäischen Union stellt sich heraus: Europa hat den visionärsten Posten aller Zeiten mit einer Realistin besetzt. In einer drei Stunden langen Anhörung ließ Ashton, durchaus charmant, die Abgeordneten die Grenzen europäischer außenpolitischer Ambitionen spüren. Je größer die Fragen der Brüsseler Parlamentarier, desto kleiner fielen ihre Antworten aus.

Kein Wunder. Die neue „Hohe Beauftragte“ der Union wird zwar künftig die Treffen der europäischen Außenminister leiten und einen eigenen Diplomatischen Dienst bekommen. Aber trotz all der Reformen, die der Lissabon-Vertrag bringt, wird Ashton ebenso wenig die Vorgesetzte der 27 nationalen Außenminister werden wie es ihr Vorgänger Javier Solana war. Die Entfaltung institutioneller Macht, das weiß Ashton, braucht Zeit. Mehr als eine, mehr als ihre Amtszeit, wahrscheinlich sogar.

Was denn ihre strategische Vision für Europa sei, wollte ein Abgeordneter von der ehemaligen Handelskommissarin wissen. „Das“, antwortete Ashton, „ist eine sehr, sehr wichtige Frage.“ Vielleicht, erkärte sie dann, diese: „Wer auch immer (für Europa, Anm. JB) redet, es sollte dieselbe Stimme sein. Die Stimme der 27 Minister, der Kommission, des Europäischen Parlamentes und meine eigene.“

Dieser Wunsch nun ist so alt wie die Europäische Union selbst. „Gibt es außer Lyrik auch Projekte?“, hakte der deutsche Grünen-Abgeordnete Reinhard Bütikofer nach. „Zum Beispiel zur Wiederbelebung der transatlantischen Beziehungen?“ Antwort Ashton: Nein. Wiewohl: „Die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten sind von ganz besonderer Bedeutung.“ Das galt auf entsprechenden Nachfragen freilich auch für Indien, Afrika, Asien und Russland. Sie alle sind, wie könnte es anders sein, von besonderer Bedeutung für Europa.

Im Minutentakt und ohne Pause hagelte es Fragen auf die 53-jährige, die Spannbreite der Themen umfasste den gesamten Globus. Ashton überstand diese Tortur mit Einfühlungsvermögen, Humor und einer Mischung aus gekonnten Plattitüden und echter Sachkenntnis.

Hat sie eine Vorstellung, wie Europa in einem reformierten UN-Sicherheitsrat vertreten sein soll? „Ganz ehrlich? Nein, habe ich nicht.“

Wäre sie bereit, militärische Maßnahmen gegen den Iran zu unterstützen, falls er an seinen Bombenplänen festhält? „Darüber brauchen wir Diskussionen. Wir müssen überlegen, welche anderen Maßnahmen, insbesondere wirtschaftliche Maßnahmen, angebracht sind.“

Wie will sie Russland davon überzeugen, Gas nicht mehr als politische Waffe einzusetzen? „Wir brauchen eine Diversifizierung unserer Energieversorgung. Und notfalls müssen wir Druck ausüben.“

Was fällt ihr zu Afghanistan ein? „Wir müssen mehr Polizeiausbilder entsenden.“

Die Frau, so viel wurde heute klar, besitzt zwei große menschliche Qualitäten, Sensibilität und eine schnelle Auffassungsgabe. Zu letzterer gehört aber eben auch, dass sie keine Illusionen verbreitet über ihre Wirkmacht. „Ich will Sie ja wirklich nicht enttäuschen“, beschwor sie die Abgeordneten mehrfach. Aber es ging nicht anders. Der Frage etwa, ob die EU aktiv die Opposition im Iran unterstützen sollte, wich sie aus. Alles andere hätte auch deutliche Reaktionen der EU-Regierungen nach sich gezogen. Für solche Fragen hat Ashton schlicht kein Mandat. Der Lissabon-Vertrag definiert ihre Rolle als Ideengeberin und Besorgerin von Gemeinschaftsbeschlüssen. Diesen Bogen hat Ashton offenbar nicht vor zu überspannen.

„Ich habe den Eindruck, wir wollen mehr für Sie als Sie für sich selber wollen“, bemerkte zum Abschluss der Anhörung der deutsche liberale Abgeordnete Alexander Graf Lambsdorff. „Müssten Sie als erste Inhaberin dieses wichtigen Amtes nicht mehr Ehrgeiz zeigen?“

„Ich bin in meinem Ehrgeiz realistisch“, entgegnete die Britin. „Ich muss auch fragen, was ich physisch überhaupt leisten kann.“ Und zu guter Letzt erinnerte sie die versammelten Politiker vor sich daran, was der Unterschied zwischen einem freien Abgeordneten und ihr sei: „Sie sind demokratisch gewählt, ich bin es nicht.“

 

Europas neue Tops Jobs

Was der neue EU-Präsident und der  „Außenminister“ dürfen, können und sollen – und was nicht

Ein Abendessen soll es klären. Um 18 Uhr kommen heute abend die 27 Regierungschefs der Europäischen Union in Brüssel zusammen, um im hermetischen Granitbau des Justus-Lipsius-Gebäudes die vornehmsten Ämter zu vergeben, die der Kontinent je zu bieten hatte. Ein permanenter Präsident des Europäischen Rates und ein Hoher Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik, kurz „EU-Außenminister“ sollen dem weltgrößten Demokratienverbund mehr Zusammenhalt im Innern und mehr Schlagkraft nach außen verschaffen.

So will es der Lissabon-Vertrag, der zum 1. Dezember in Kraft tritt. Aber welche Macht besitzen die Erwählten tatsächlich – und welche nicht? Was, tatsächlich, nutzen sie Europa?

Zur Stunde ist noch völlig unklar, welcher Herr oder welche Dame das Rennen machen wird. Umso klarer sind seit langem die Ambitionen, die den neuen Ämtern anhaften. Sie sollen, kurz gesagt, die Antwort auf Henry Kissingers legendäre Frage liefern, wie Europas Telefonnummer lautet. Diese Hoffnung auf Anschlussklarheit, so viel lässt sich allerdings schon sagen, wird das neue Reform-Europa nicht erfüllen.

Die EU bleibt ein schizophrener Gesprächspartner. Sie lädt sogar sich ein paar Anschlüsse Ämterpersönlichkeiten mehr auf. Den oder die eine Mr. oder Mrs. Europa wird es auch künftig nicht geben. Dafür steckt in den Personal-Paragrafen des Lissabon-Vertrages zu viel Widersprüchliches. Und im Ernennungsverhalten der 27 EU-Staatschefs, soweit dies abzusehen ist, zu wenig Mut.

Um mit dem Präsidenten zu beginnen: Er wird eben kein „Europäischer Präsident“ sein, sondern der Präsident des Europäischen Rates, also der vierteljährlichen Zusammenkunft der EU-Staatschefs. Er, so will es der Lissabon-Vertrag, „führt den Vorsitz und gibt Impulse.“ In der Praxis wird dies zunächst einmal heißen, dass er den Ministerpräsidenten bei ihrer Ankunft am Brüsseler Ratsgebäude die Hände schüttelt und sie zum Sitzungssaal geleitet. Was dann dort drin passiert, dürfte weniger von den Impulsen des Vorsitzenden abhängen als von den Egos der versammelten Alpha-Tiere aus Frankreich, Deutschland, Italien oder Großbritannien.

Mehr Kontinuität bei der Themensetzung, so will’s die Lissabon-Theorie, soll der neue, auf zweieinhalb Jahre ernannte Sachwalter herbeikoordinieren. Doch die Praxis lehrt, dass Regierungschefs nicht geneigt sind, sich von Zeremonienmeistern die Butter vom Brot nehmen zu lassen. Sie müssen schließlich daheim wieder gewählt werden – der Ratspräsident hingegen von ihnen.

Entsprechende strategische Bescheidenheit haben die Kontinentaleuropäer mit den Kandidaten demonstriert, die sie in den vergangenen Monaten –  halböffentlich oder öffentlich – ins Rennen schickten. Juncker, Schüssel, Balkenende hießen die häufigsten genannten Euro-Prinzen.

Als aussichtsreichster und auch von Deutschland unterstützter Kandidat gilt derzeit – bei allen Überraschungen, die das heutige Gipfeltreffen bieten kann – der belgische Ministerpräsident Herman Van Rompuy. Der 61jährige Konservative steht in seiner Unauffälligkeit als primus inter pares der Zwergen-Riege. Der praktizierende Katholik, heißt es in europäischen Regierungskreisen, sei uneitel, verschwiegen, scheu unter Großen und scheinwerfer-avers. Eine graue und verlässliche Maus, die keinem die Kameras klaut, kurzum.

Nennenswerte Erfahrung im Umgang mit 27 nationalen Egos und Interessen in der Brüsseler Arena sind für den neuen Präsident ebenfalls kein Muss. Denn unterhalb der Staatschefs-Ebene, im Maschinenraum der EU, laufen die rotierenden Präsidentschaften weiter wie bisher. Alle sechs Monate reicht ein Land den Staffelstab für europäische Gesetzes- und Projektinitiativen weiter ans nächste. Derzeit haben ihn noch die Schweden in der Hand, im Januar folgt Spanien. Unter deren Ägide, im Ministerrat, wird der allergrößte Teil der europäischen Integration geschmiedet.

„Der neue Präsident hat keine Befugnisse für Rechtssetzung im Ministerrat“, stellt der deutsche EU-Abgeordnete Elmar Brok (CDU) klar. „Das Amt soll nicht für Operationelles gebraucht werden.“

Der mit so viel Hoffnung erwartete EU-Präsident ist, mit anderen Worten, ein König Ohneland, der möglichst unsichtbar bleiben und zum laufenden EU-Geschäft brav den Mund halten soll. Der neue Hausherr (oder die neue Hausfrau) des Justus-Lipsius-Gebäudes, sagt der liberale Brüsseler Abgeordnete Alexander Graf Lambsdorff voraus, dürfte sich deshalb alsbald „unterbeschäftigt“ vorkommen. „Pfusch am Bau“, lautet Lambsdorffs Fazit zu den Kompetenzregeln des Lissabonvertrags. „Was Europa bekommt, dürfte ein besserer Frühstückdirektor sein.“ Oder einen Sündenbock.

Ein hoffnungsvollerer Vergleich freilich wäre der mit einem „europäischen Bundespräsidenten“. Immerhin ist nicht ausgeschlossen, dass der Neue sich Nischen sucht, in denen er ungestört und unstörend wirken kann. Er könnte sich etwa des Problems der wachsenden Bürgerferne der EU annehmen. Die Wahrnehmung Brüssels als politisches Raumschiff wird sich mit dem Macht- und Geschwindigkeitszuwachs, den der Lissabon-Vertrag bringt, aller Voraussicht nach verschärfen. Für mehr Bodenhaftung zu sorgen, wäre womöglich keine schlecht Idee für die Kommando-Brücke.

Zwar soll der Ratspräsident laut Vertrag auch die „Außenvertretung der Union“ wahrnehmen. Doch wenn er den Außenauftritt Europas nicht unnötig chaotisieren möchte, wäre er gut beraten, sich nicht als Gegenpart des amerikanischen, russischen oder chinesischen Präsidenten, von Obama, Medwedjew oder Hu Jintao zu sehen. Ein Mann vom Profil eines Van Rompuy tut das nicht. Damit wäre die Gefahr gebannt, dass der neue „EU-Generalsekretär“ dem künftigen „EU-Außenminister“ ins Gehege kommt.

Dieser (oder diese) dürfte, verglichen mit dem Präsidenten, zur weitaus mächtigeren Figur der EU heranwachsen. Denn erstens wird der „Hohe Vertreter“ zugleich Vizepräsident der EU-Kommission. Zweitens wird er als solcher vom Europäischen Parlament bestätigt, was ihm mehr demokratische Legitimität verleiht als dem Ratspräsidenten. Drittens wird er über einen eigenen, vermutlich 7000 Diplomaten starken Auswärtigen Dienst verfügen.

Solche institutionellen Fakten können, das lehrt die Baustelle Brüssel, echte Einflussgewinne gegenüber den Nationalstaaten nach sich ziehen. Der Noch-Amtsinhaber Javier Solana wirkte politisch oftmals wie ein gerupftes Huhn – kaum eine Feder, mit der die nationale Außenämter sich schmücken konnten, ließen sie dem EU-Chefdiplomaten. Der neue Amtsinhaber dagegen kann mithilfe seines Apparats eigene Pflöcke einschlagen – und zwar auch innerhalb der Kommission, deren Ressorts (ob in der Entwicklungs-, Nachbarschafts-, oder Erweiterungspolitik) bisher eine Menge zerstückelte Mini-Außenpolitik betrieben.

Diesen Top Job für Deutschland zu sichern, hatte die Kanzlerin allerdings nie im Sinn. Um den in Europa durchaus geachteten Frank-Walter Steinmeier ins Gespräch zu bringen, hätte sie über den schwarz-gelben Schatten springen müssen. Andere Länder schafften das, etwa Italien mit der Aufstellung des Sozialisten Massimo D’Alema.

Doch wer die Besten für die neuen Top Jobs gewesen wären, darüber sollten Europas Öffentlichkeiten nicht mitdiskutieren. Die EU mag der größte Demokratienverbund der Welt sein, doch ihre Spitzenämter vergab sie – diesen Vergleich gestattete sich die frühere lettische Präsidentin und Eigenkanditatin für die EU-Außenministerin Vaira Vike-Freiberga – „wie in der Sowjetunion, im Dunkeln und hinter verschlossenen Türen“. Über baldige Alternativen für dieses Gekungel nachzudenken, auch das könnte eine ehrenwerte Aufgabe für Europas neue hohe Repräsentanten sein.

 

Der Lissabon-Vertrag kommt. Aber was bringt er eigentlich?

Nun ist auch der letzte Rebell eingeknickt. Gestern unterzeichnete der tschechische Präsident Vaclav Klaus den Lissabon-Vertrag für die EU. Das Reformwerk kann jetzt am 1. Dezember in Kraft treten. Es ist keine kleine Schraubendrehung, die der Vertrag an der europäischen Integration vornimmt. Es ist ein qualitativer Schritt. So viel Macht haben Staaten noch nie auf eine supranationale Instanz verschoben.

Der Lissabon-Vertrag werde Europa effzienter und demokratischer machen, lautet die Brüsseler Werbeparole. Effizienter macht er die EU-Gesetzgebung sicherlich. Die größte Neuerung besteht grob gesagt darin, dass die 27 EU-Mitgliedsländer sämtliche Politikbereiche mit Ausnahme der Außen- und Steuerpolitik einer Mehrheitsentscheidung im Ministerrat unterwerfen. Das bedeutet, dass künftig Staaten für andere Staaten Gesetze machen können. Und zwar in Feldern, die bisher streng der nationalen Souveränität vorbehalten waren. Das hat es in der Menschheitsgeschichte noch nicht gegeben.

Besonders gewichtig kann sich diese Neuerung in der Justiz- und Innenpolitik auswirken. Die abgesandten Diplomaten der EU-Staaten in Brüssel beziehungsweise ihre Minister werden künftig nicht mehr nur über technische Normen, Binnenmarkt- und Verbraucherrechte entscheiden können, sondern auch über Eingriffe in Grundrechte. Wann und unter welchen Voraussetzungen zum Beispiel Personen, die illegal Dateien aus dem Internet herunterladen, der Netzzugang gesperrt werden kann, wird künftig auf EU-Ebene entschieden.

Wird dieser Machtzuwachs durch einen Zuwachs an demokratischer Kontrolle ausgeglichen? Formal ja, denn das Europaparlament erhielt auf den sensiblen Gebieten Mitbestimmungsrechte. Die Frage lautet aber, ob das Europaparlament dieselbe demokratische Kontrollqualität besitzt wie etwa der Bundestag. Davon kann keine Rede sein.

Das Europaparlament wählt und kontrolliert keine Regierung. Seine Mitglieder kommen aus 27 Staaten, sie sind also nicht einer Öffentlichkeit und einer Wählergemeinschaft verantwortlich, sondern de facto nur der jeweils ihren. Im Europaparlament finden sich die nationalen Parteien zudem zu europäischen Bündelfraktionen zusammen. In ihnen werden die gewohnten nationalen Parteienprofile und -positionen oft verwischt. Die checks and balances, wie sie aus der nationalen Demokratie gewohnt sind, funktionieren im Europaparlament also nur sehr begrenzt.

Die zweite große Neuerung des Lissabon-Vertrages soll darin bestehen, dass die EU mehr Gewicht und mehr Gesicht auf der Weltbühne erlangt. Dafür sollen ein permanenter EU-Ratspräsident sowie ein EU-Außenminister mitsamt einem 6000 Mann starken diplomatischen Dienst sorgen. Bisher ist allerdings nicht klar, wie sich die Kompetenzen zwischen diesen beiden Top Jobs genau voneinander abgrenzen sollen. Zudem zögern die großen Mitgliedsstaaten, dem neuen Europäischen Auswärtigen Dienst nennenswerte Kompetenzen zu übertragen.

Das Wichtigste am Lissabon-Vertrag dürfte letztlich nicht das sein, was er Europa bringt. Sondern das, was Europa durch ihn verliert. Es verliert die Ausrede, sich zunächst einmal an Haupt und Gliedern straffen zu müssen, bevor es schlagkräftiger in der Welt wirken kann. Die Zeit der Vertragsdebatten ist endgültig vorüber. Die Europäische Union muss jetzt zeigen, was sie kann – und vor allem will.

Bisher deutet allerdings nichts darauf hin, dass das Lissabon-Europa zu neuer Form findet. Im Gegenteil. Die Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners wird selbst in Europas Aufbruchstunde fortgesetzt. Als ernsthafter Kandidat für das Amt des ersten ständigen Ratspräsidenten ist der derzeitige belgische Ministerpräsident Herman Van Rompuy im Gespräch, ein nobody auf der Weltbühne. Dafür hat Europa also acht Jahre Lissabon-Debatten, endlose Regierungskonferenz und wertvollste politische Energie investiert? Bravo, Staatschefs.

 

„Eine glückliche Fügung“

So beschreibt der neue Außenminister sein erstes Brüsseler EU-Treffen. Eine tapfere Haltung

Guido Westerwelle steigt am Brüsseler Ratsgebäude aus der schwarzen Staatslimousine, stellt sich vor die Kameras und sagt, es sei „eine glückliche Fügung“, dass er gleich an seinem ersten Tag als Außenminister so viele seiner europäischen Kollegen treffen könne. Wenn bloß sein Gesichtsausdruck zu diesem Glück passen würde. Westerwelles Physiognomie besiegt seine Psychologie an diesem ersten Amtstag. Alles andere wäre allerdings auch merkwürdig.

Als gerade erst ernannter Außenminister ein EU-Gipfeltreffen absolvieren zu müssen, dürfte in Wahrheit ungefähr eine so glückliche Fügung für Westerwelle sein wie  für einen Nichtschwimmer der Sturz in ein Wettkampfbecken.

Natürlich hat ihn sein Stab noch gebrieft auf dem Weg nach Brüssel, über die Kollegen, die er treffen wird, und über die Themen, die auf ihn warten. Aber Europa, dieses Gehege aus 27 Regierungen, Temperamenten, Positionen und Politiken, erschließt sich nicht aus Unterlagen. Das weiß Westerwelle. Und er weiß auch, dass die Brüsseler Journalisten das wissen. Deswegen versucht er gar nicht erst, Ahnung zu markieren. Statt dessen gibt er den demütigen Newcomer.

Er lässt die Kanzlerin reden vor der Presse. Er nickt beflissen, wenn sie über Institutionelles redet, über Klimaschutz oder über Europas künftige politische Spitzenposten. Er fügt Plattitüden hinzu. Es sagt in ihnen nichts Falsches, aber auch nichts Eigenes. Er stellt zum Beispiel – etwas zu länglich – fest, dass es bei der Afghanistan-Politik nicht mehr nur um Afghanistan geht, sondern auch um Pakistan, „denn es ist natürlich zusammenhängend, was wir da zu besprechen haben.“

Er sitzt vor einer blauen Europa-Wand, mit einem zusammengerissenem Gesicht, das nichts von seinem inneren Spagat verraten soll. Er ist einer, der horchen muss. Und gleichzeitig schon antworten soll. Auf der Abschlusspressekonferenz stellen drei ausländische Kollegen Fragen auf Englisch, sie möchten etwas über die Beitrittsverhandlung mit Albanien wissen. Westerwelle greift zaghaft nach dem Kopfhörer mit der Dolmetscherstimme. Dann scheint er zu merken, dass er die Frage auch so versteht, legt den Ohrclip wieder zurück. Man spürt, dass er zwischen zwei Entscheidungen schwankt: Der Wichtigkeit, jedes Wort zu verstehen. Und Fotos von einem Guido mit Knopf im Ohr. Von einem Außenminister, würden diese Bilder sagen, der mit dem Englischen kämpft. Die Kanzlerin rettet ihn. Sie sagt, Albanien habe nicht auf der Tagesordnung gestanden.

„Mit großer Freundlichkeit und großen Interesse“, betont Westerwelle mehrfach, sei er von Kollegen empfangen worden.  Wenn es bloß freudiger klingen würde. Aber es klingt wie eine auswendig gelernte Floskel, wie ein Versatzstück aus dem Außenminister-Vokabular, das er sich für die ersten Tage zurecht gelegt hat.

Wie er sich nach dem zweiten Tag im Amt fühle, möchte ein Kollege zum Schluss wissen. „Man ist erschöpft“, sagt Westerwelle, „aber man ist auch zufrieden mit den Ergebnissen.“ Der erste Teil klingt ehrlich. Der zweite wieder wie aus dem Vokabelheft für junge Außenminister. Noch, sicher, ist nicht die Zeit für viel Eigenes. Noch ist Zeit für möglichst wenig Falsches. Doch schon beim nächsten EU-Gipfel wird der Anfänger-Bonus nicht mehr gelten.

Dann werden sich die Journalisten nicht mehr für sein Englisch, seine Krawatten und seinen Gesichtsausdruck interessieren. Sondern tatsächlich für seine Meinung.

 

Alle für keinen

Europa baut sich einen gemeinsamen Diplomatischen Dienst. Und vergibt eine Chance

Baustelle1

Baustelle Europa-Viertel

Hunderte Beamte, Parlamentarier und Diplomaten schrauben dieser Tage an etwas Großem auf Brüssels Behördenfluren. An etwas, das dem Kontinent eine ganz neue Gestaltungsmacht verleihen soll. Die Vision ist niedergeschrieben in Paragraf 27 Absatz 3 des Lissabon-Vertrages. Ein „Europäischer Auswärtiger Dienst“, heißt es dort, soll dem künftigen Europäischen Außenminister zuarbeiten. Noch bleiben die Dossiers zum europäischen Botschafter-Corps politische Verschlusssachen, der Vertrag muss schließlich erst Anfang nächsten Jahres in Kraft treten. Dann aber soll Europas Außenpolitik endlich zu jener Größe finden, die ihr  – nach verbreiteter Brüsseler Ansicht – schon längst zusteht.

Mittagszeit im Europa-Viertel. Trennschleifer jaulen durch die Häuserschluchten. Platz muss her für neue Gebäude. Europa ist von 15 auf 27 Ländern und 495 Millionen Bürger angewachsen in den vergangenen fünf Jahren, und immer selbstbewusster versteht sich der alte Kontinent als neuer Global Player. Denn weltweit steigt die Nachfrage nach Krisenmanagement, sei es an Rändern Russlands, im Herzen Afrikas oder auf den Schifffahrtswegen der Meere. Gleichzeitig fallen die traditionellen Sicherheitsdienstleister immer öfter aus. Die Vereinten Nationen? Chaotisch. Die Vereinigten Staaten? Brutal. Bleibt das Vereinte Europa.

Und hat diese EU nicht einen guten Vermittlerjob geleistet, vergangenes Jahr in Georgien? Dieses Jahr in der Weltfinanzkrise? Darf’s nicht ein bisschen mehr sein von Konfliktbewältigung à la Brüssel?

Am Bürgersteigtischchen eines italienischen Restaurants sitzt eine junge Deutsche und gerät ins Schwärmen. „Der multinationale Diplomat! 27 Länder vertreten!“, sagt sie und macht große Augen, „das wäre doch eine ganz andere Hebelkraft!“ Attraktive Karriereoption sehen derzeit viele Attachées im neuen EU-Dienst. Energisch schneidet die Dame ihre Pizza in Stücke. „Die Ersten, die da rein kommen, können ziemlich stolz sein.“

Doch wäre ein EU-Botschafter in Peking oder Neu-Delhi tatsächlich ein Vertreter aller 27 EU-Länder? Oder eher einer für keines? Welches EU-Land, anders gefragt, würde seine Botschaft zugunsten einer EU-Vertretung aufgeben?

„Ich sehe noch lange nicht, dass das passiert“, gesteht Benita Ferrero-Waldner, die EU-Kommissarin für Auswärtige Beziehungen. Schon heute kümmern sich 130 Delegationen der EU in aller Welt um Entwicklungshilfe, Außenhandel und Nachbarschaftspolitik, sprich: um klassisch weiche Außenpolitik. Etwa 6500 der rund 25 000 Kommissionsbeamten arbeiten für diese Abteilung, im Brüsseler Jargon Relex, Relations Extérieures, genannt. Ab dem nächsten Jahr könnte die Relex mit dem Posten des EU-Außenbeauftragten (derzeit Javier Solana) verschmelzen und die EU-Delegationen rund um den Globus in EU-Botschaften umgewidmet werden. Doch wo genau die Grenzen verlaufen sollen zwischen nationaler und supranationaler Diplomatie, das sei, so Ferrero-Waldner, „noch überhaupt nicht klar.“

Und genau hier beginnt der Traum von der europäischen Diplo-Offensive zu bröseln. Die EAD-Pläne entfalten keineswegs die Gravitationskraft auf die Außenämter der Mitgliedstaaten, die sich seine Brüssel Architekten erhofft haben. Zu eifersüchtig wachen die einzelnen EU-Länder über ihre Botschafter und Interessen. Schließlich bleibt die Außen-Repräsentation in möglichst vielen Staaten entscheidend für nationale Schlagkraft. Wenn es um Stimmgewichte in internationalen Organisationen geht, zum Beispiel. Oder darum, Geschäfte für die heimische Wirtschaft einzufädeln. Welches Land würde sich dabei auf die EU verlassen? Allen Absichtserklärungen zum Trotz droht der EAD in der Praxis schon jetzt das Gegenteil dessen zu produzieren was beabsichtigt war: Konkurrenz statt Kohärenz.

„In den Planungsrunden geht es derzeit vor allem um hochprotokollarischen Wer-sitzt-wo-Fragen“, sagt die Europaabgeordnete Franziska Brantner, die das Projekt EAD für die Grünen begleitet. „Eine der Hauptsorgen scheint zu sein, wer bei internationalen Konferenzen vor wem sprechen darf.“ Und natürlich die, wer welchen Posten bekommt. Die Bundesregierung ist vor allem darauf bedacht, sich gegen die Kandidatenlisten aus Kommission und Rat zu behaupten. „Wir wünschen uns natürlich schon eine unserem Gewicht angemessene Vertretung im EAD“, heißt es. Die entsprechenden Vorbereitungsseminare und EU-Kurse beim Auswärtigen Amt seien „intensiviert“ worden. Aber um bloß keinen Zweifel aufkommen zu lassen, wo Schluss sein muss mit europäischem Corpsgeist, stellt ein Sprecher des Auswärtigen Amtes klar: „Die Kompetenzen der Nationalstaaten im außenpolitischen Handeln bleiben absolut gewahrt.“

Die mit einem Sitz im UN-Sicherheitsrat ausgestatten Briten beäugen den EAD mit noch größerer Skepsis. William Hague, der in einer neuen Tory-Regierung Außenminister werden will, umwirbt offen andere Bundesgenossen. Das Commonwealth, sagte Hague unlängst, sei in letzter Zeit „vernachlässigt und unterbewertet“ gewesen. Großbritannien solle besser die Verbindungen zu Indien und anderen traditionellen Verbündeten stärken, statt sich an die Heilsversprechen eines Lissabon-Europas zu ketten.

Wie viel außenpolitische Harmonie kann ein Brüssel Diplomatiecorps bei so viel Argwohn und zementiert scheinenden Nationalinteressen realistischerweise erzeugen? Spanien, Griechenland und Rumänien werden demnächst wohl kaum – wie es der Rest der EU getan hat – das Kosovo anerkennen, bloß weil eine Brüsseler Zentrale möchte. Unwahrscheinlich auch, dass Italien, Österreich und Ungarn aufhören, die russische Gaspipeline South Stream zu unterstützen, bloß weil es eine hübschere „Koheränz“ schaffen würde, wenn sie sich an der europäischen Nabucco-Röhre beteiligten.

Ach, sagt Elmar Brok. Fehlender Gemeinschaftssinn sei nicht das Problem. Der entstehe schon in einer „Wertegemeinschaft“ wie Europa. Und zwar auf bewährter Brüsseler Art: Man nehme eine Idee, gieße sie in eine Institution, und lasse sie reifen. Notfalls Jahrzehnte lang. Das sei schon immer so gewesen. Trifft man Brok, den Brüsseler CDU-Veteranen, in seinem Büro im Europaparlament, bekommt man tatsächlich einen staubigen Respekt vorm langfristigen Integrationspotenzial europäischer Einzelspieler. Die Arbeitsstube besitzt die gefühlte Größe eines Schuhkartons, aber die Fotos an den Wänden künden von gesprengten Grenzen und neuen Horizonten. Helmut Kohl Hand in Hand mit Francois Mitterand. Willi Brand beim Kniefall. Adenauer bei Ben Gurion. „Was Europa jetzt braucht“, ist Brok überzeugt, „ist ein Außenbeauftragter, der sich seine Aufträge selbst erteilen kann, und der über einen Apparat verfügt, der es ihm erlaubt, diese Positionen auch umzusetzen.“ Einen Adenauer-Gründervater mit Brand-Visionen und Kohl-Kraft, sozusagen.

Aber gebe es vielleicht auch eine modernere Methode, um die schlummernden Kräfte Europas zu wecken? Jüngere Europapolitiker wie die Grüne Franziska Brantner denken ebenfalls groß. Aber anders. Die 30jährige glaubt an die Chance, den EAD zu einem Aushängeschild für effizienten Multilateralismus zu machen. „Europa braucht kein verstaubtes und überholtes Diplomatiekonzept aus dem 18. Jahrhundert, sondern einen Außendienst für eine smart power“, sagt Brantner. Dazu müssten die „drei großen Ds“ im Europäischen Dienst vernetzt werden: Diplomacy, Defense und Development. Mit dem EAD, glaubt Brantner, biete sich die Gelegenheit, das klassische Ressortdenken in den Hauptstädten zu überwinden. Herauskommen könnten Geschwindigkeiten und Ergebnisse, die die Nationen anzögen. Doch leider, klagt die Grüne, sei sie mit ihren Vorschlägen – etwa für eine gemeinsame europäische Diplomatenakademie – in der Bürokratie nicht recht durchgedrungen.

Und dass obwohl im Ratssekretariat der EU die Angst umgeht, einige EU-Staaten könnten versucht sein, den EAD als Halde für abgeschriebene Beamte zu nutzen. Nicht alle Länder schließlich bedienen sich so verfeinerter Auswahlverfahren wie Deutschland, und die windstillen Winkel von Auslandsmissionen eignen sich hervorragend für politische Abschiebungen. Oder für Nepotismus.

Der tatsächliche Mehrwert des neuen europäischen Botschafterdienstes dürfte sich daher auf absehbare Zeit auf bescheidene Effekte beschränken. Ein reeller Fortschritt wäre es schon, dass wenn Europa seine Stimme erhebt, dabei wenigstens keine Dissonanzen herauskommen. Mit Grausen erinnert sich mancher Eurokrat noch an den Winter 2008/2009, als während des Gaza-Krieges hintereinander ein egomanischer Nicolas Sarkozy, ein provokanter tschechischer Außenminister und ein weichspülender Europaparlaments-Präsident im Nahen Osten aufschlugen. Das war mehr Tourismus als Außenpolitik. Rechtzeitig vor solchen Gelegenheiten Strategien zu erarbeiten, die den Namen verdienen, statt Schauläufer für Verwirrung sorgen zu lassen, das wäre ein guter erster Schritt für ein EU-Diplomatenheer.

 

Europas trauriges Kurfürstentum

Europa hat zum 1. Januar 2010 zwei der renommiersten Arbeitsplätze zu vergeben, die die Weltgeschichte je gesehen hat. Ein permanenter europäischer Präsident sowie ein europäischer „Außenminister“ sollen nach dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages den größten Verbund von rechtsstaatlichen Demokratien der Erde vertreten.

Aber wie läuft die Benennung auf diese würdigen Ämter ab? Leider ungefähr so transparent und diskussionsfreudig wie politische Bestallungen in Pjöngjang.

Diese Übertreibung muss erlaubt sein, um deutlich zu machen, wie – eben –  unwürdig die Europäische Union sich ihre bedeutendsten Vertreter herbeischachert. Am Donnerstag und Freitag kommen die 27 EU-Staats- und Regierungschefs zu einem Gipfel in Brüssel zusammen. Am Rande von Debatten über Klimapolitik, die Neuaufstellung der EU-Kommission und der Finanzkrise wird es – hinter den Kulissen – auch um Frage gehen, wer wen für welchen Posten unterstützt.

Die Entscheidung wird vermutlich erst am 12. November auf einem Sondergipfel fallen, aber der Beschluss dürfte schon jetzt vorbereitet werden.

Doch ebenfalls schon jetzt drängt sich der Eindruck auf, dass es nicht in erster Linie darum geht, welche Wahl die beste für Europa wäre. Sondern darum, wie sich am besten Streit vermeiden lässt.

England schickt Tony Blair als Ratspräsidenten ins Rennen. Frankreich wollte ihn auch einmal – ist jetzt aber nicht mehr so sicher. Der Luxemburger Jean-Claude Juncker wirft ebenfalls seinen Hut in den Ring. Die Österreicher pushen Wolfgang Schüssel, die Belgier Guy Verhofstadt und die Niederländer Jan Peter Balkenende. Und Deutschland?

Vor einigen Monaten war aus Berlin noch zu hören, Angela Merkel unterstütze Juncker. Mittlerweile hört man gar nichts mehr. Das größte Land Europas hält es offenbar nicht für nötig, öffentlich seine Kandidaten vorzuschlagen. Das passt in ein Muster. Erst lässt sich Kanzlerin – recht unbegeistert – José Manuel Barroso als Kommissionspräsidenten gewähren. Dann schiebt sie den missliebigen Ministerpräsidenten Günther Oettinger nach Brüssel. Und jetzt? Die Besetzung Europas scheint Berlin keinen Gedanken zu viel wert zu sein. Als könne man sich in der EU-Arena nur mit überflüssigen Konflikten beladen statt etwas zu gewinnen.

Es ist traurig. Die Vertreter der höchstentwickelten Demokratien der Erde treten in Brüssel wie zu einem mittelalterlichen Treffen von Kurfürsten zusammen, um hinter geschlossenen Türen über einen primus inter pares zu verhandeln. Dieses Prozedere ist sowohl dem Gewicht wie auch der Rolle der beiden europäischen top jobs schlicht unangemessen.

Von beiden, Ratspräsident und EU-Außenminister, wird man erwarten, dass sie Europas Interessen und Werte in aller Welt vertreten. Aber was antworten sie, wenn sie ein russischer oder chinesischer Staatschefs fragt, wie demokratisch sie eigentlich an die Macht gelangt sind? – Infolge eines Beschlusses demokratisch gewählter Regierungschefs, sicher.

Aber wenn ihre demokratische Legitimation schon derart mittelbar ist, hätten die Europäer dann nicht die Chance verdient, sich zuvor wenigstens ein kritisches Bild machen zu können von denen, die sie vertreten sollen? Wäre es nicht lohnenswert gewesen, die Kandidaten zunächst einmal über ihre wichtigsten Visionen und Ziele Auskunft geben zu lassen? Wäre es nicht ein Gebot der Transparenz, genau zu wissen, wer hinter welchem Kandidaten steht? Wenigstens eine nachvollziehbare öffentliche Debatte zu führen, mit anderen Worten?

Ganz selbstverständlich wird die Kanzlerin an der Wahl und der Leistung ihrer Bundesminister gemessen. Doch wen werden die Europäer für die Wahl der Brüsseler Chefposten zur Rechenschaft ziehen können?

 

Die Freiheit nahm es sich

Das Europaparlament schont Berlusconi. Ein Glück, genau besehen

Die Mehrheit des Europäischen Parlaments hat gestern mehrere Resolutionen verworfen, die auf mangelnde Medienfreiheiten in Italien aufmerksam machen wollten. Das war gut so.

Denn in den Anträgen ging es nur vordergründig um die skandalöse Machtballung, die Silvio Berlusconi sich in Rom erlaubt. Sozialisten, Grüne und Liberale wollten vielmehr die EU-Kommission dazu aufrufen, die Medienvielfalt in Europa zu regeln. Damit würde die  EU allerdings ihre Kompetenzen überschreiten. Denn Medienpolitik ist, gerade weil sie so wesentlich ist für das Funktionieren der Demokratie, nationale Angelegenheit. Das sollte auch so bleiben.

Von allen vorgebrachten Vorschlägen scheiterte der Entwurf der Liberalen mit 338 Ja-, 338 Nein-Stimmen und 8 Enthaltungen am knappsten. Unter Verweis auf die „Risiken der Verletzung der Meinungs- und Informationsfreiheit in der EU, besonders in Italien“, hatten die Liberalen die EU-Kommission auffordern wollen, eine „Richtlinie“ zur Gewährung journalistischer Pluralität zu erarbeiten.

Die EVP-Fraktion, der auch die deutschen CDU-Abgeordneten angehören, stimmte dagegen. Daraus kann allerdings nicht geschlossen werden, dass die Unionsleute Herrn Berlusconi vor Kritik in Schutz nehmen wollten. Ihnen passte, so versichern sie, bloß der Nexus zwischen der Verurteilung Italiens und dem Ruf nach europäischer Gesetzgebung nicht.

„Das Thema ist nichts für die EU-Ebene“, sagt der deutsche EVP-Sprecher Thomas Bickl. „Die Presse- und Medienfreiheit ist in jedem Land garantiert. Deshalb muss sie auch jedes Land gewährleisten.“

Das sah sogar die zuständige EU-Kommissarin für Medien, Viviane Reding, so. Verkehrte Welt im Straßburger Plenarrund. Die Luxemburgerin versuchte den Parlamentariern verzweifelt klarzumachen, dass es diesmal nun wirklich nichts zu regeln gebe. Originalton Reding:

„Sie wissen, dass ich keine Kommissarin bin, die ein Problem mit Regulierung hat. Aber würde Gesetzgebung die Probleme lösen, die Sie bewegen? Könnten wir eine solche Gesetzgebung unter den bestehenden EU-Kompetenzen rechtfertigen? Besteht hier eine klare grenzüberschreitende Dimension?“

Es sind genau diese Testfragen, die sich das Europäische Parlament viel häufiger stellen sollte. Im Fall der Medienfreiheit lauten die Antworten: Nein. Nein. Und nein.

Natürlich ist es nicht hinzunehmen, dass der italienische Ministerpräsident zugleich der mächtigste Medienunternehmer des Landes ist. Aber die gefragten Instanzen, um dies zu ändern, sitzen nicht in Brüssel. Es ist zuerst der italienische Wähler. Dann die italienischen Gerichte. Mag sein, dass die richterliche Unabhängigkeit in Italien nicht gewährleistet ist. Aber das wird eine EU-Richtlinie zu Medienpluralismus nicht ändern. Wenn der Rechtsstaat unter Berlusconi nachweisbar erodiert, kann und sollte die EU mit ganz anderem Kaliber feuern. Sie könnte, initiiert durch das Europäische Parlament übrigens, Italien das Stimmrecht im Europäischen Rat entziehen.

Was hingegen auf nationaler Ebene repariert werden kann, muss auf nationaler Ebene repariert werden. Die Verstrickungen von Medien und Parteien  in den 27 EU-Mitgliedsstaaten sind zu länderspezifisch als dass Bürokraten in Brüssel sie sachgerecht entflechten könnten. Sicher, es gibt Probleme, nicht nur in Italien. Es gibt sie in Ungarn. In Rumänien. In Bulgarien. Auch in Frankreich und Deutschland. Aber soll sich wirklich die EU-Kommission künftig um die Grenzen der Beteilung, der, sagen wir mal, SPD an der Frankfurter Rundschau oder der WAZ  kümmern? Wollen wir das nicht doch vielleicht besser der nationalen Politik, den nationalen Parlamenten und Öffentlichkeiten überlassen?

Axel Heyer, der Pressesprecher der Liberalen im Europäischen Parlament, hält dagegen. „Die Pressefreiheit ist nun einmal ein europäischer Wert. Das Parlament muss sich dann schon die Freiheit nehmen können, die Dinge zu kritisieren. Wir können schlecht Resolutionen zur Lage in Burma erlassen, zu unseren eigenen Problemen aber schweigen.“

Das verlangt allerdings niemand, im Gegenteil. Dem Europäischen Parlament stünde es völlig frei, Silvio Berlusconis Medienpolitik ebenso durch eine Resolution zu verurteilen wie Unrecht in ferneren Gefilden. Ein solcher Vorstoß, ohne gleichzeitige Gesetzgebungsabsicht, wäre sogar hoch willkommen. Auch deshalb, weil er entlarven würde, wer sich in Straßburg wirklich traut, das Angemessene zu sagen.

Wir bleiben gespannt.

 

Jetzt bitte nicht kleinlich!

Ein Blairdoyer

Es sieht fast so aus, als könne es Europa gar nicht erwarten, sich der Welt schon wieder als kleinlicher Kontinent darzubieten. Endlich scheint der Lissabon-Reformvertrag Wirklichkeit zu werden, da zuckt die EU davor zurück, den neu entstehenden Posten des permanenten Ratspräsidenten mit eben dem Mann zu besetzen, der dafür das wahrlich passende Gewicht besäße.

Kein anderer Name wird auf Brüssels Abendsalons derzeit mit so viel leidenschaftlicher Verachtung ausgespuckt wie Tony Blair. Er, der Irakkriegstreiber, er, der Euro-Verhinderer, er, der Schengen-Insulaner soll künftig Europas Geschäfte führen und die EU in der Welt repräsentieren?

Die britische Regierung möchte genau das, die Franzosen möchten es ebenfalls, und die Italiener können es sich auch vorstellen. Andere westeuropäischen Staaten werfen Brüssel-affinere Namen ins Rennen. Der Luxemburger Ministerpräsident Jean Claude Juncker gilt als aussichtsreichster Gegenkandidat. Ebenfalls genannt wird sein niederländischer Amtskollege Jan Peter Balkenende. Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn gab unlängst, stellvertretend für viele kleine Staaten die Widerstandsparole aus: „Tony Blair hat weder in Fragen der Europäischen Union noch in den großen Fragen der Weltpolitik das erforderliche Format. Er hat öfter gespalten als zusammengeführt.“

Bundeskanzlerin Angela Merkel schweigt zu all dem noch. Aber sie wird bald ihre Herrenwahl treffen müssen. Denn schon zum 1. Januar könnte der Europäische Präsident inthronisiert werden. Die Stimme der Deutschen dürfte den Ausschlag geben. Hoffen wir, dass Merkel Fragen von Format und Weltpolitik weitsichtiger einzuschätzen weiß als der Außenminister eines, zugestanden, landschaftlich reizvollen Großherzogtums.

Der Blairsche Makel, keine Frage, ist ein Krieg, der ohne völkerrechtliches Mandat eröffnet wurde und Tausende Menschen des Leben kostete. Das macht schon Blairs aktuelle Arbeit als UN-Sondervermittler für den Nahen Osten problembeladen. Aber eine Wahrheit über diesen Krieg ist offenbar zu simpel, um mitgedacht zu werden. Nicht die Soldaten der westlichen Koalition haben in den zurückliegenden Albtraumjahren so schrecklich viele Zivilisten getötet, sondern radikalislamische Terroristen.

In Wahrheit geht es den Blair-Gegnern darum, dass Europa von einem Eurokraten vertreten werden soll. Warum sonst hielt niemand dem gerade neu gewählten Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso entgegen, dass er ebenfalls den Irakkrieg unterstützte? Oder dem neuen Präsidenten des Europaparlaments, dem Polen Jerzy Buzek, der ebenfalls dafür war, europäische Soldaten zu schicken?

Apropos, New Europe. Nur Blairs Großbritannien und Irland gewährten nach der Osterweiterung Tschechen, Polen und Balten von Anfang an das Unionsprinzip der „offenen Tür“. Die alten Kerneuropäer hingegen sperrten mit Ausnahmeregeln jahrelang ihre Arbeitsmärkte vor den gefürchteten „Billigkräften“. Wer hat nun mehr für das Zusammenwachsen des wiedervereinten Europas getan?

Sicher, Blair hat während seiner Regierungszeit viele Hoffnungen enttäuscht, weil er im Königreich nicht den Euro einführte. Aber welche fiskalische Solidarität hat Luxemburg der EU damit erwiesen, dass es hartnäckig an seinem Sonderstatus als Steueroase festhielt? Es brauchte erst die Weltwirtschaftskrise, damit Jean Claude Juncker sein Parlament zähneknirschend auf neue, nun ernsthaft gemeinschaftliche Zeiten einstimmte.

Ja, aber, fragen die Briten-Gegner, welche Brüsselbilanz hat Blair denn aufzuweisen? Seine halbjährige Ratspräsidentschaft 2005 blieb als chaotisch in Erinnerung, Blair, heißt es, sei mit wichtigen Dossiers schlicht nicht vertraut gewesen. Doch welche EU-Ratspräsidentschaft wäre, erstens, je wirklich so geordnet verlaufen wie anfangs geplant? Und zweitens werden auch nach dem Lissabon-Vertrag die rotierenden Vorsitze in den expertenbesetzten Ratsarbeitsgruppen weiter laufen.

Dass Blair kein Intimus des Brüsseler Behörden-Apparates ist, wird ihm im Ausland mehr Achtung denn Skepsis eintragen, denn in China, Amerika und Indien achtet man die EU nicht wegen, sondern trotz ihres Institutionendschungels. Aber natürlich, man kann auch einen Herrn Balkenende nach Russland schicken, um Aug’ in Aug’ mit den Kremlherrn über Nachbarschaftspolitik zu sprechen, oder einen Herrn Juncker nach Amerika, um globale Finanzmarktregeln zu einzufordern…

Nein, der neue EU-Präsident darf und soll kein Prozesssteuerer sein. Sein Handwerkszeug muss das Fernglas sein, nicht die Lupe. Dass Tony Blair all das plus die Leidenschaft für Ergebnisse besitzt, hat er nicht nur in Nordirland bewiesen, wo er ehemalige Terroristen zu Gewaltverzicht und Gewaltenteilung bewegte. Er hat auch eine tot geglaubte Labour Party zu neuem Leben erweckt und Großbritannien ein lang vermisstes Wir-Gefühl gestiftet. Sollte im kommenden Frühjahr, wie die Umfragen es vorhersagen, der Tory David Cameron neuer Premierminister werden, würden die Europäer froh sein, Tony Blair in Brüssel zu haben. Denn Cameron will sein Land aus der europäischen Integration heraussteuern. Blair wäre der Kitt, der ein völliges Abdriften der Insel vermeiden könnte.

 Die neue interdependente Welt, die Barack Obama jetzt ausruft, hat Blair übrigens schon 2001 entdeckt. Die Welt brauche eine „neue Dimension internationaler Beziehungen“, „sie muss neu geordnet werden“, forderte er wenige Wochen nach der Zeitenwende des 11. September.

Es sind genau diese Ambitionen, die Europa braucht, um seinen Blick nach einem Vierteljahrhundert Vertragsdebatten von selbst sich ab- und breiteren Horizonten zuzuwenden.