Europa sollte mit dem Lissabon-Vertrag eine „Telefonnummer“ bekommen. Jetzt zeigt sich: Diese Hoffnung wird sich nicht erfüllen
Es war eine vielsagende Szene, die sich vor knapp einem Jahr in Brüssel abspielte. Barack Obama war gerade als neuer US-Präsident inthronisiert worden, und der German Marshall Fund hatte die Planungsstabchefin des US-Außenamts, Anne-Marie Slaughter, zu einer Podiumsdiskussion in die EU-Hauptstadt geladen. „Wie werden sich die EU-USA-Beziehungen unter der neuen Regierung entwickeln?“, lautete das Thema der Runde. Bekomme Europa, wollte der Moderator von Slaughter wissen, mit dem Lissabon-Vertrag endlich die lang ersehnte, eine Telefonnummer? Den klaren Anschluss, den sich schon Henry Kissinger gewünscht hatte?
„Oh, natürlich“, entfuhr es der US-Diplomatin eher spontan als überlegt, „Europa hat sogar viele Telefonnummern!“ – Das Publikum brach angesichts dieser Freudschen Fehlleistung in schallendes Gelächter aus. Doch die Intuition der Frau sollte Recht behalten.
Der Lissabon-Vertrag, zeigt sich, löst eines seiner Hauptversprechen nicht ein. Europa beschallt die Welt auch weiterhin nicht mit einer Stimme. Sondern mit einem ganzen Chor. Die beiden Spitzenämter, die dies ändern sollten, der permanente Ratspräsident sowie die „EU-Außenministerin“ bündeln nicht, wie erwartet, Europas außenpolitische Vertretungsmacht. Sie vergrößern vielmehr die Vielgesichtigkeit der EU.
Die Verschlimmerung der Euro-Schizophrenie infolge von Lissabon äußert sich in einem bizarren Vorgang, der sich dieser Tage zwischen Washington, Brüssel und Madrid abspielt. Im Mai, so plant es die derzeitige spanische Ratspräsidentschaft, soll ein EU-USA-Gipfel stattfinden. Solche Drittstaaten-Gipfel gab es schon immer im internationalen Terminkalendar. Bisher fanden sie im so genannten Troika-Format statt. Das heißt, die EU wurde vertreten von 3 Figuren. – 1. vom Hohen Beauftragten für Außenpolitik (bisher Javier Solana, jetzt Catherine Ashton). 2. vom Kommissionspräsidenten (Jose Barroso). 3. vom jeweiligen Land, das gerade den Ratsvorsitz innehatte. Natürlich würde man nun erwarten, dass statt der rotierenden EU-Geschäftsführer (3) der neue permanente Ratspräsident Herman Van Rompuy diesen Job übernimmt. Das allerdings sehen die Spanier nicht so. Deren Ministerpräsident José Luis Zapatero wollte Barack Obama gerne in seiner Hauptstadt die Hand reichen.
„Die permanente Ratspräsidentschaft war [in die Vorbereitung des Gipfels] nie involviert“, bestätigt der Sprecher Van Rompuys, Dirk De Backer.
Hat auch jemand allen Ernstes erwartet, dass die Alpha-Tiere dieses Kontinents sich die besten Außenpolitik-Shows von einem unbekannten Belgier stehlen lassen würden? Schon die Wahl Herman Van Rompuys entlarvte, dass der Lissabon-Vertrag in der Frage der europäischen Sprachgewalt ambitionierter war als seine Autoren. Van Rompuy war eine gewollt kleinliche Lösung für eine große Gelegenheit. Die Hauptqualifikation des 61jährigen konservativen Flamen war seine Unauffälligkeit. Der praktizierende Katholik, hieß es vor seiner Kür in europäischen Regierungskreisen, sei uneitel, verschwiegen, zurückhaltend unter Großen und scheinwerfer-avers.
In einem vertraulichen „Persönlichkeitsbild“, welches das Auswärtige Amt Bundeskanzlerin Merkel über den damaligen belgischen Regierungschef erstellte, hieß es: „Herman Van Rompuy gilt als Ministerpräsident wider Willen. (…) Durch seine Glaubwürdigkeit und Verschwiegenheit („die Sphinx“), hat er sich 2007 als königlicher „Erkunder“ großes Vertrauen erworben. Er gilt als kompetent und durchsetzungsfähig. (…) Trotz Eloquenz sucht er nicht die Mikrophone und das Scheinwerferlicht.“
Gesucht und gefunden, kurzum, hat die EU eine graue und verlässliche Maus, die keinem die Kameras klaut. Alles andere widerspräche auch den Interessen der EU-Staatschefs. Sie sind es schließlich, die daheim (auch für außenpolitische Erfolge) wieder gewählt werden müssen. Das Schicksal des Ratspräsidenten hingegen hängt nach zweieinhalb Jahren allein von der Gnade der Staatschefs ab.
In Washington schüttelt man angesichts dieser Unklarheiten in Europa nur den Kopf. Ob angesichts der „Konkurrenz in Europa“ Barack Obama selbst zum geplanten Gipfel reisen werde, sagten US-Diplomaten vor zwei Tagen dem Wall Street Journal, „wird davon abhängen, wer das Treffen einberuft. Wir haben ihnen [den Europäern] gesagt: ,Werdet auch einig und gebt Bescheid’.“
Mittlerweile teilte das Weiße Haus mit, Obama werde nicht zum Gipfel reisen. Er habe dies nie geplant.
Der Sprecher des US-Außenministeriums, Philip J. Crowley, begründete die Absage ausdrücklich mit der Unklarheit, welche die Lissabon-Reform geschaffen habe. “Bis jetzt hab es alle sechs Monate ein Treffen, eines in Europa und eines hier“, sagte er vor Journalisten in Washington. „Jetzt gibt es eine neue Struktur. Es gibt nicht nur die rotierenden Präsidentschaften, sondern auch noch einen EU-Ratspräsidenten und einen Kommissionspräsidenten. Wir versuchen uns dadurch zu arbeiten.“ Die Frage, wann es Treffen gäbe, wo sie stattfänden und wer der Gastgeber sei, „wird im Lichte der neuen Architektur gerade neu bewertet.“
Ganz abgesehen von den Querelen in Brüssel, ist diese Entscheidung nachvollziehbar. Europa ist der amerikanischen Regierung nicht halb so wichtig wie es glaubt. Warum auch? Wahre Chancen und Risiken der Weltpolitik warten anderswo. In China, in Afghanistan, in Indien und Lateinamerika. Statt Gipfel zu besuchen, bei denen nicht viel mehr besprochen wird als die Tatsache, dass es eigentlich nichts zu besprechen gibt, hat Obama weiß Gott Wichtigeres zu tun.
Die schmerzhafteste Erkenntnis über ihre Rolle in der Welt könnte der Lissabon-EU noch bevorstehen: Stell‘ dir vor, Europa redet mit einer Stimme und keiner hört zu.