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Hat da jemand Paranoia gesagt?

Normale Geisteshaltung? Vollkommen überschätzt! Lieber sollte man mal etwas Unsinniges tun. Zum Beispiel durch die Schweiz reisen und nach geheimen Botschaften suchen.

Das Montreux-Palace Hotel © [M] Philippe Desmazes/AFP/Getty Images
Wenn man den verkritzelten Stadtraum Berlins verlässt und, sagen wir mal, eintritt in ein von förstergrünen Straßenbahnen sanft durchbimmeltes Basel, dann kann es passieren, dass das Auge hungrig bleibt. Auch wenn es in der Baseler Buchhandlung mit dem tollsten Buchhandlungsnamen Basels, nämlich Labyrinth, zahllose Buchstaben zu verschlingen gibt. Viele stecken in den zu Studienzeiten süchtig eingekauften, aufgereihten, angeblätterten und gelegentlich sogar gelesenen stw-Bändchen, einige aber auch in dem schönen schmalen Band Simeliberg des Schweizer Autors Michael Fehr, erschienen im Verlag Der gesunde Menschenversand. Weiter„Hat da jemand Paranoia gesagt?“

 

Man wird ja wohl noch mal tuten dürfen

Eines Tages steht er vor der Tür, der neue Wagen: mehr PS, top Spritverbrauch, aller Schnickschnack. Aber wie man ihn vermisst, den alten klapprigen Ford. Ein Abgesang

Ford: Man wird ja wohl noch mal tuten dürfen
Das ehemalige Auto des Schriftstellers Frank Schulz

Längst steht ein Funkelnagelneuer, Schickerer, Größerer vor der Tür. Ein sogenannter Kombi. Mit mehr Pferdestärken, aber weniger Spritverbrauch (uns können sie ja viel erzählen) und allem möglichen Schnickschnack (begeistern kann mich allerdings allenfalls die Lordosenstütze). Aus verschiedenen mal mehr, mal weniger guten Gründen bin ich auf einen angewiesen. Weiter„Man wird ja wohl noch mal tuten dürfen“

 

Die Halbangst im Nacken

Die Kölner Fans taumeln glückselig durch die Saison. Bis jetzt. Die ersten Niederlagen bringen den Schmerz zurück. Was hilft: Das Leid teilen. Wie im echten Leben.

© PATRIK STOLLARZ/AFP/Getty Images
© PATRIK STOLLARZ/AFP/Getty Images

Übrigens, das ist keine Einbildung, das ist wirklich wahr: Das Stadion ist der Ort der Poesie und zwar der Poesie der Katharsis. Man braucht nur ein bisschen Geduld, bevor die innere Reinigung abgeschossen ist. Zum Beispiel neulich im Berliner Olympiastadion. Das Spiel ist eigentlich schon vorbei und, obwohl die Niederlage schon feststeht, ereignet sich trotzdem noch ein kleiner Glücksmoment. Wir sind im Block F3 und warten noch ein paar Minuten bis die meisten draußen sind, nur die blauweiße, düstere Wand der Berliner Fans, die den ganzen Nachmittag über in Wellen ihren dumpfen, tierhaften Siegesgesang herüberschwappen ließen, ist auch noch da. Weiter„Die Halbangst im Nacken“

 

Über Leonard Cohens unfassbare Komik

Du singst für eine Angebetete, die aber mit Musik leider gar nichts am Hut hat? Das zeugt schon von Humor. Der verstorbene Liedermacher hatte eine Menge davon.

© Nicolas Maeterlinck/AFP/GettyImages
© Nicolas Maeterlinck/AFP/GettyImages

Natürlich habe ich geweint, morgens um sechs in der Küche, die Fenster der Nachbarn gegenüber schwarz, der Himmel darüber noch dunkler. „Weißt Du, wer gestorben ist?“ fragte mich meine Frau, und ich wusste es, obwohl ich es nicht wissen konnte, und hielt das Lied, das gerade im Radio kam, fälschlicherweise für einen Cohen-Song, obwohl doch eindeutig eine Frauenstimme sang, alle Lieder waren in diesem Moment von ihm.

Und natürlich habe ich nicht um Leonard Cohen geweint, sondern um mich selbst. Um die erste große Liebe, mit der ich immer Songs From a Room hörte in ihrem großen weißen Zimmer. Um den Freund, den ich in seinem Blut und Erbrochenen fand, die Pulsadern aufgeschnitten, das leere Chorbleichegebinde daneben, aber er lebte und fragte mich: „Kannst Du Songs of Love and Hate auflegen?“ und ich konnte, und während wir auf den Notarzt warteten, hörten wir Avalanche. Und natürlich weinte ich um die bittere Erkenntnis, dass wir, wenn es selbst jemanden wie Cohen erwischt, alle irgendwann sterben müssen, there ain’t no cure, weder für die Liebe noch das Leben, diese verdammte Krankheit zum Tode. Weiter„Über Leonard Cohens unfassbare Komik“

 

Eine Poetik des Knochenbrechens

Krieg zerstört Körper. Und er erzeugt sie. Als Speicher für Erinnerung und Sprache. Selten zeigt sich das so eindrücklich wie in den Gedichten von Ocean Vuong.

Nach der Eroberung Saigons im Jahr 1975 © Francoise Demulder/AFP/Getty Images
Nach der Eroberung Saigons im Jahr 1975 © Francoise Demulder/AFP/Getty Images

Glas, später (Warten / Vergessen)

Das Glas erscheint später, und es wird nur eine Erzählung gewesen sein: Seit Monaten sind sie auf diesem Schiff; Wasser, so weit das Auge reicht; keine Richtung. Von Küsten spricht er ohne Artikel. Salt in our sentences. Die Stadt, die sie verlassen hatten, ist namenlos geworden. Auf den Straßen lag das, was übriggeblieben war, zerbrochene Baguettes, zerdrückte Croissants vor der Bäckerei nach ihrer Bombardierung; Tauben auf diesem Asphalt. Das Karussellpferd war schwarz von Ruß, weiße Hyazinthen, September. Das sind die letzten Bilder, die sie mitgenommen haben werden. Die Frau ist schwanger. Everyone can forget us – as long as you remember. Weiter„Eine Poetik des Knochenbrechens“

 

Von zu viel Denken schrumpft das Hirn

Es gibt keine Fakten mehr und Lesen sollte verboten werden. Unser Autor hat ausprobiert, was passiert, wenn sich ein Schriftsteller auf den Trampelpfad gefühlter Wahrheiten begibt.

© Mauricio Lima/AFP/Getty Images

Wie lang es manchmal dauert, bis man sieht, was längst vor Augen steht. Ne lisez jamais, zum Beispiel. Lesen Sie niemals! Wann dieser seltsame Satz an die Außenmauer eines Charité-Gebäudes in Berlin gesprüht worden ist, kann ich gar nicht sagen, obwohl ich jeden Morgen daran vorbeifahre.

Eine gute Frage wäre jetzt, was die bisherige Wahrnehmungsschwelle an diesem einen Morgen so herabgesetzt hat, dass mir der Satz plötzlich ins Auge sprang. War etwa, nachdem ich gerade gestern auf mubi.com den Godard-Film Masculin –Feminin entdeckt hatte, die Leiche meiner Französischkenntnisse wiederbelebt worden? Und mit ihr die Erinnerung an den Französischunterricht? Und gleichfalls an den Französischlehrer, der immer einen vom Pferd erzählt hat, von seinem Pferd? Gut möglich. Weiter„Von zu viel Denken schrumpft das Hirn“

 

Und es hat Zoom gemacht

Der Elektronikmarkt ist ein Ort der kindischen Sehnsüchte. Aber Erwachsene brauchen doch eigentlich nichts. Außer dem neuen Smartphone mit 100 Zoll Bildschirmdiagonale natürlich!

© Reuters/Hannibal Hanschke
© Reuters/Hannibal Hanschke

Einen der wesentlichen Vorteile am Erwachsensein vergesse ich regelmäßig, nämlich dass ich mir meine Wünsche jetzt selbst erfüllen kann. Ich gehe nur leider so ungern in Geschäfte. Meistens komme ich gar nicht auf die Idee, mein Leben spielt sich zwischen Postfiliale, Sparkassenfiliale, Netto, Mülltonne und Mister Minit ab, wo ich mir in der Euphorie über eine gelungene Schuhreparatur manchmal bunte Plastikringe leiste, die man auf seine Schlüssel steckt, um sie am Schlüsselbund besser unterscheiden zu können.

Nur wenn ich auf Reisen bin, bekomme ich manchmal Lust, ein anderes Geschäft zu betreten, vor allem, wenn es ein Fachgeschäft ist, das speziellere Wünsche befriedigt, für die im Alltag keine Zeit bleibt. In Bonn stieß ich neulich beim Spazieren an einer stark befahrenen Ausfallstraße, wie ich sie gern als Spazierweg wähle, weil mich das Rauschen der Autos beruhigt, und weil ich dort sicher sein kann, nicht von allzu hübschen Stadtdetails abgelenkt zu werden, auf einen Konsumbunker, der Heim für ganz unterschiedliche Fachgeschäfte war, im zweiten Stock lockte Conrad Electronic. Weiter„Und es hat Zoom gemacht“

 

Die Höhepunkte aus 2.714 Jahren

Shakespeare sagt Signierstunde ab, Goethe hat keinen Knabberkram zu Hause, Kafka steht traurig zwischen Fans: In Frankfurt eröffnet die Buchmesse. Auch nicht immer schön.

Die Höhepunkte aus 2714 Jahren
Gefährliche Signierstunde: Julius Cäsar inmitten von interessierten Fachbesuchern © Wikimedia Commons

698 v. Chr.:
Die erste Frankfurter Buchmesse wird mit einer Festrede von Homer feierlich eröffnet. Schon von Beginn an gilt sie als großer Erfolg, mit insgesamt einem Aussteller (Homer), rund einer Veranstaltung (Lesung der Ilias) und zwei zahlenden Gästen (Homers Frau und ein Oberstudienrat aus dem Frankfurter Raum, der sich vor allem für zeitgenössische griechische Epik interessiert). Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels ist in diesem Jahr Homer. Bei der Verleihung des Deutschen Buchpreises setzt sich Homer durch. Weiter„Die Höhepunkte aus 2.714 Jahren“

 

Immer schön auf die Oberschenkel

Mit der Show Curvy Supermodel verspricht RTL 2 all jenen Erlösung, die nicht in Heidi Klums Schlankheitsideal passen. Sieht so die Emanzipation vom Magerwahn aus?

© RTL 2
Die Jury der Castingshow: Der Modelagent Ted Linow, das Model Angelina Kirsch, die Tänzerin Motsi Mabuse und der Modemacher Harald Glööckler (© RTL 2)

Ich habe die überaus erfreuliche und beruhigende Nachricht bekommen, dass sich RTL 2 in Zukunft um die Dicken kümmern wird. Wahrscheinlich nicht um alle, aber immerhin um die dicken weiblichen Mitglieder unserer Gesellschaft.

Die Ankündigung des Events ist vollmundig: „Neue Kurven braucht das Land!“ Das neue Showformat bei RTL 2 für Models mit gesunden Rundungen erweitert das gängige Schönheitsideal und zeigt, wie der Pressetext verrät, „dass sich Schönheit nicht mit dem Maßband messen lässt“.

Wow. Das ist doch mal eine Erkenntnis. Weiter„Immer schön auf die Oberschenkel“

 

Der Affe entscheidet

James Bond war schon da. John Lennon und Yoko Ono haben hier geheiratet. Das Schicksal Gibraltars aber hängt von 240 Affen ab. Unser Glück ebenfalls.

© [M] ZEIT ONLINE/Jorge Gueferrero/AFP/Getty Images
© Jorge Gueferrero/AFP/Getty Images
Als würde sie nichts wollen, nichts dürfen, als würde nichts von ihr gewollt. Die Landschaft ist da wie ein Gegenstand, der herumliegt. Gibraltar ist nicht ausgeschildert, wir halten uns Richtung Westen. Die spanischen Radiosender sind nicht mehr zu empfangen. Der Suchlauf des Autoradios findet drei englischsprachige Sender. Auf Radio Gibraltar werden die Nachrichten im gestochen britischen Akzent verlesen, dann die Beatles, danach zwei triefende Stücke aus einem Musical. Dann sehen wir den Fels, ein gewaltiger Stein, ein absurdes Etwas, auf der südöstlichen Seite mit Grün überzogen, als wäre es ein riesiges Meerestier, auf dem Moos gewachsen ist. Wir erreichen die spanische Grenzstadt La Línea de la Concepción und brauchen eine Weile, bis wir das Hotel gefunden haben. Weiter„Der Affe entscheidet“