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Der Hass bleibt auf der Strecke

Schade. Der Streik ist schon vorbei. Der hat immerhin dazu geführt, dass alle zu Hause bleiben mussten, die sonst ihre sozialen Abgründigkeiten in den Abteilen entladen.

© Adam Berry/Getty Images© Adam Berry/Getty Images

Wer an einem verlängerten Wochenende mit der Bahn Berlin verlässt und einen Ausflug macht, kann im Regionalexpress erleben, warum die europäische Flüchtlingspolitik so ist, wie sie ist, warum es Pegida gibt und was es heißt, deutsch zu sein.

Bei der Hinfahrt Richtung Usedom am vergangenen Donnerstag, Christi Himmelfahrt, schieben und stapeln die Fahrradfahrer ihre Räder im Zug in- und übereinander. Alle schimpfen über die Deutsche Bahn, an diesem Feiertag keine Sonderzüge einzusetzen, sind aber überwiegend frohen Mutes, von der Zuversicht geleitet, unbeschadet und einigermaßen pünktlich ans Ziel zu gelangen.

Auf der Rückfahrt am Sonntag herrscht dagegen eine Das-Boot-ist-voll-Atmosphäre. Weiter„Der Hass bleibt auf der Strecke“

 

Wien feiert und vergisst

Conchita Wurst als Klimt-Figur? Der morgige Life Ball folgt starren Stilregeln. Wie Österreich die individuelle und nationale Selbstinszenierung feiert, ist schon verwunderlich.

Wien feiert und vergisst mit Conchita Wurst
© Life Ball/Ellen von Unwerth

Jedes Jahr, bevor der Life Ball in Wien ausgerichtet wird, kursiert in den Medien das Fotokompendium der sogenannten Style Bible: Sie soll eine „Orientierungshilfe und Inspiration für die Auswahl der Kostüme“ sein, wie der Organisator Gery Keszler schreibt, nachzulesen und durchzublättern auf stylebible.org.

Die Style Bible zelebriert in diesem Jahr 2015 den formal-ästhetischen Rückgriff auf das Fin de Siècle und das angehende 20. Jahrhundert und bedient sich dazu der Schlagworte vom Ver sacrum, dem heiligen Frühling, der titelgebend war für die Zeitschrift der Wiener Secessionisten, und vom Sacre du Printemps, dem Frühlingsopfer oder der Weihe des Frühlings aus Strawinskis gleichnamiger Ballettmusik. Secession: eine Gruppe – ab 1897 rund um Gustav Klimt, Koloman Moser, Josef Hoffmann und weitere – stilisiert sich als Abspaltung vom Mainstream des herrschenden Kunstbegriffs. Der heilige Frühling der Antike: Eine Gruppe junger Männer wird ausgestoßen, um einen neuen Stamm zu gründen. Smells like Lebensreform und Avantgarde. Weiter„Wien feiert und vergisst“

 

Lasst locker, Mädels!

Bereut man, Kinder bekommen zu haben? Das ist unserer Autorin neu. Ist sie altmodisch? Oder leiden all die Germany’s Next Top-Muttis einfach an ihrem Perfektionismus?

© dpa ()
© dpa ()

Dass man bereuen kann, Kinder bekommen zu haben, auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen. Dabei habe ich schon so ziemlich alles bereut, und damit meine ich nicht die unzähligen falschen Schuhkäufe. Die Osterferien in Ampflwang? Der One-Night-Stand in Brighton? Sprechen wir nicht drüber.

Das große Latinum habe ich verbucht unter „Dinge. die zwar irgendwie sinnvoll sind, aber zeitraubend“ – Prophylaxe gehört auch dazu. In grosso modo Kinder auch. Gottergeben habe ich mich meinem Schicksal gefügt. Schließlich hatte ich sie bekommen. Nun musste ich sie auch durchkriegen. Weiter„Lasst locker, Mädels!“

 

Rammstedt – Wege zum Glück

Alkohol, Sex, Kinder, keine Kinder, die Farbe Orange: Seit Jahren suchen Forscher die ultimative Glücksformel. Unser Autor kennt sie längst.

Das Gute an Artikeln wie „Macht Schokolade glücklich?“ ist, dass man die Antwort schon kennt. Sie lautet nämlich immer: irgendwie ja. Halt nicht richtig, aber wenn man so will, schon. Das reicht. Schokolade kommt also mit auf die Liste, auf der sie schon längst steht, was aber nicht auffällt, weil die Liste sehr lang ist. Wenn man so will, macht ganz schön viel glücklich. Erschreckend viel.

Yoga zum Beispiel, das weiß jeder, macht glücklich, Joggen macht glücklich und Achtsamkeit sowieso. Sex macht glücklich, Reisen macht es und Arbeit und Freizeit und Verzicht. Ausreichend Wasser zu sich nehmen macht sowas von glücklich und Alkohol (in Maßen) und Alkohol (in Unmaßen) und scharfes Essen und gesundes Essen und fettiges Essen und die Farbe Orange (angeblich) und die Farbe Pink (angeblich) und Grün (sowieso). Glücklich machen Freunde (wahre, viele) und Partnerschaften (harmonische, nicht ganz so viele) und Zeit für sich (Pi mal Daumen zwei Stunden pro Kilogramm Körpergewicht). Weiter„Rammstedt – Wege zum Glück“

 

Berlin, du bist mein Ruin

Clowns und Hipster auf der Demo, Tocotronic im SO 36, Säufer und Liebende, die sich nicht voneinander lösen mögen. Ein Erlebnisbericht vom 1. Mai aus Kreuzberg

I. Der doofe Clown

Auf dem Mariannenplatz steht ein Metaclown namens Gregor Wollny. Er sieht aus wie der junge Helge Schneider ohne Bart, aber mit Turban. Er spielt kein Instrument, sagt kein Wort, und seine Kunststücke funktionieren nicht. Mit einer Handbewegung bittet er zwei Kinder auf die Bühne, lässt das eine einen Kescher halten, das andere einen Plastikreifen, deutet an, dass er eine Barbiepuppe mit einer Konfettikanone durch den Reifen ins Netz schießen werde. Immer wieder rückt er die Kinder in Position, und als er den Startschuss gibt, fällt die Puppe vor dem Reifen auf den Boden, und es regnet Konfetti. Wie um diesen Fauxpas wieder gutzumachen, bläst er schnell ein paar Luftballons auf, tut so, als würde er sie zu Tierfiguren zusammenfalten, lässt es dann aber doch sein und verschenkt die halbgeknickten Röhren ans Publikum. Am Schluss holt er ein Messer heraus, schaut auffordernd grimmig ins Rund, lässt einen Schein in einen Hut fallen – und die Kinder kommen nach vorn und werfen Münzen hinein. Weiter„Berlin, du bist mein Ruin“

 

Jeder große Roman ist unbezahlbar

Wie schreibt man eigentlich ein gutes Buch? Unser Autor hat die Schriftstellerin Verena Boos über Jahre begleitet – und plötzlich erschien ihr großartiges Debüt.

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Im November 2014 gab ich für die Endrundenteilnehmer des Berliner Literaturwettbewerbs Open Mike einen Workshop mit dem Titel Thema und Stoffe – Worüber wollen wir schreiben?. Um die jungen Schriftsteller kennenzulernen, hatte ich ihnen zuvor eine E-Mail mit drei Fragen geschickt: „Wer bin ich? Was will ich? Und was ist mein verdammtes Problem?“ Letzteres zielte auf einen möglichen Grundkonflikt ab. Ich wollte herausfinden, was sie am stärksten beschäftigt, was sie aufreibt, um daraus mit ihnen zusammen ihr ganz persönliches Thema abzuleiten – eine Art literarische Gruppentherapie. Aber alle verstanden die Frage anders, und als wir uns in der Alten Post in Neukölln gegenübersaßen, erzählten sie von ihren Schreibproblemen, davon, nicht anfangen oder fertigwerden zu können.

Worüber sie, wenn sie schreiben, denn schreiben, wollte ich wissen.

Das wollten sie nicht sagen.

Wie, dachte ich, soll dann ein Gespräch zustande kommen?

Das ist dein Problem, dachte ich, das Gespräch schon mit mir selbst führend.

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Das Grauen wiederholt sich jeden Tag

Der Großvater unserer Autorin hat das grausame Verbrechen an den Armeniern überlebt. Erzählt hat er darüber kaum. Versuch einer Annäherung an das Unsagbare

Ein siebenjähriger Junge kommt von der Schule nach Hause. In der Stube riecht es nach Ofen und Weihrauch. Der Junge setzt sich ans Fenster und beobachtet die Gendarmen, die mit geraden Rücken und wichtigen Gesichtern durch die Straßen von Ordu reiten, Geld einsammeln und gar nicht merken, welche Fratzen auf ihren Rücken kleben.

Auf dem Platz vor dem Haus sammeln sich Leute, sie schreien, aber was sie schreien, versteht der Junge nicht. Irgendwann fliegt ein Stein. Dann noch einer. Der Junge erkennt den Schneider, auch er hat einen Stein in der Hand. Das Fenster zerbricht, und die Splitter der Scheibe liegen auf dem grauen Steinboden verteilt, grau glänzend, wie das eine Auge der Mutter, das die Kinder immer im Blick hat, auch jetzt. Das andere Auge erlosch beim Kochen durch heißes Öl. Trotzdem ist die Mutter schön mit ihrem runden Gesicht und den schweren, vollen Haaren. Der Junge kauert in einer Ecke, das Auge der Mutter ruht auf ihm. Weiter„Das Grauen wiederholt sich jeden Tag“

 

Dallas, Texas, Activity 434

In global vernetzten Zeiten pflegt man seine Sportgruppe in einer App. Unser Autor läuft mit seinen Literaturfreunden um die Wette, jeder in einer anderen Stadt. Manchmal treffen sie sich sogar.

Laufstrecke in Dallas
Thomas Pletzingers Laufstrecke in Dallas

Gestern morgen gelaufen: in Oak Cliff, einem Stadtteil von Dallas, Texas. In der Hand mein Telefon. Erst am Highway, Billboards und Tankstellen, dann schlängelt sich der Weg durch sattes, feuchtes Grün einen Bach entlang. Wohnhäuser, flach und beige und texanisch, Palmen und Kakteen. Ein riesiger Golfplatz, früh morgens noch ohne Golfer, kleine Canyons und Wasserstürze, Affenbrotbäume und Magnolien. Es geht jetzt bergan. Ich versuche, den gemächlichen Sechs-Minuten-pro-Kilometer-Schnitt zu halten, alle fünf Minuten sagt eine leise Stimme die Zeit, die Distanz und die Geschwindigkeit an. Keine Musik.

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Geschlechterproblem gelöst!

Seit Tagen quält sich die Welt mit einem Mathe-Rätsel. Seit Jahren mit der Frage danach, wie es klappt mit der Liebe. Unser Autor hat beide Fragen gleichzeitig geknackt.

Letzte Woche versuchte angeblich die halbe Welt genau so logisch zu denken wie singapurische Schüler. Es ging um Cheryls Geburtstag. Und wer ihn herausgefunden hatte, war sehr kurz und sehr nutzlos stolz und machte dann wieder etwas anderes, womöglich Unlogisches.

Jetzt wurde das Rätsel allerdings von seinen Herstellern zurückgerufen, weil versehentlich eine verfälschend verkürzte Version des Rätsels veröffentlicht wurde. Nämlich diese hier:

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Das Erleben des Sturzes

Die Medialisierung des Terrors ist normal geworden. Die Literatur aber kann an der Darstellung des Schreckens nur scheitern. Gerade darin liegt ihre Wahrhaftigkeit.

© Getty Images
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Ein Flugzeug stürzt ab. 150 Menschen sterben. Von 150 Opfern ist die Rede. Dann von 149. Selbstmord des Copiloten. Mord an allen anderen, wird gesagt. Trauer und Bestürzung sind groß. Politiker reisen an. Sofort.

Man lässt sich am Ort des Absturzes sehen. Frau Merkel und Herr Hollande höchstpersönlich. Wir verstehen das, haben Erfahrungen gemacht mit der Bildwichtigkeit und Bildmacht in unseren Mediendemokratien. Der Staatsführer als erfolgreicher Krisenmanager. Es rächt sich, wenn sie solchen Gelegenheiten fernbliebe. Weiter„Das Erleben des Sturzes“