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Mats Hummels isst ein Stück Vorderfuß

Trotz Hymne, High Fives und einer Schüssel Nüsschen: Gegen die Türkei ist den deutschen Basketballern nichts gelungen. Nichts. Überhaupt gar nichts.

Copyright: John Macdougall/AFP
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Die Gewinner leuchten. Ein knappes Dutzend Fans hat Tickets in die Hand gedrückt bekommen: Deutschland – Türkei, Logenplatz, Chips und Bier und Promibesuch. Nowitzki-Trikots und T-Shirts von Niels Giffey. Großes Hallo. Kommentator Frank Buschmann schreibt Autogramme und macht seine Witze, später öffnet sich die Tür und Nationalverteidiger Mats Hummels steht im Rahmen. Auch Hummels leuchtet, eine Art Aura umgibt ihn, ein Schimmer aus Vorfreude und großen Erwartungen. „Weltmeister!“ skandieren zwei Gewinner. Zuvor hat er in Glasgow noch mit der deutschen Nationalmannschaft gegen Schottland gespielt, jetzt hat er einen Tag frei und will Dirk Nowitzki und die Mannschaft sehen. Weiter„Mats Hummels isst ein Stück Vorderfuß“

 

Der Flaschengeist am Spielfeldrand

© John Macdougall/AFP
© John Macdougall/AFP

Keine Backpfeifen, keine Maulschellen, kein Schlag in die Magengrube: So ein gutes Spiel wie gegen die Mannschaft aus Serbien hat keiner von den Deutschen erwartet.

Wenn man die Fernsehbilder der letzten Sekunden des Spiels gegen Serbien ansieht, sieht man Krenz am Spielfeldrand, direkt hinter dem Schiedsrichter, konzentriert und schweigend. Die Arme verschränkt, den Blick geradeaus. Alle anderen brüllen, die ganze Halle steht, die Fans unter dem Dach krakeelen, Serben und Deutsche. Ein paar können nicht hinsehen, verbergen ihre Gesichter in den Händen. Krenz sieht starr geradeaus. Es sind noch nullkommaneun Sekunden zu spielen, Deutschland liegt hinten. 66:68. Der Schiedsrichter übergibt den Ball an Dennis Schröder, es geht los, letzter Einwurf, letzte Chance, der Lärm wird ohrenbetäubend, und Krenz konzentriert sich. Weiter„Der Flaschengeist am Spielfeldrand“

 

Lampedusa-Helden als Benimmlehrer!

Ein gewesener Ausländer – unser Kolumnist – gratuliert einem kommenden dunkelhäutigen Deutschen. Da kotzt der Pegida-Arier sich die Seele aus dem Leib. Das Fax der Woche

Eritreer schnalzen mit der Zunge. Ich weiß nicht, ob sie ihr Gegenüber ermutigen und bestätigen. Ich weiß nicht, ob es ein Laut des sanften Widerspruchs ist. Eritreer in Mainz: schöne Frauen, schöne Männer. Im Vergleich sehe ich aus wie Borstenviech. Man sollte sich ein Beispiel nehmen an Eritreern im Hochsommer: Sie sind vornehm, sie lächeln, auch wenn sie Kopfschmerzen haben.

Ich sehe und höre einen eritreischen jungen Mann Röhrennudeln essen – kein Schlucklaut, die Gabel stößt kein einziges Mal auf den Teller. Der wahre Adel kommt aus Eritrea. Ich sehe und höre eine adelige deutsche Dame essen: schön, leise, unbürgerlich. Kein Schmatzen, kein Rachenröhren. Das perfekte vornehme Liebespaar: eine blaublütige deutsche Dame und eritreischer Mann des Volkes. Höflichkeit ist eine Himmelsgabe. Weiter„Lampedusa-Helden als Benimmlehrer!“

 

Diese winzige, widerliche Sekunde

Die schlimmsten Momente im Sport sind, wenn Schmerz ist, wo eben noch Kraft war. Ob Wut oder Verzweiflung des verletzten Robin Benzing beim EM-Auftakt größer war?

Robin Benzing: Diese winzige, widerliche Sekunde - Freitext
Trost für Robin Benzing (© Tilo Wiedensohler)

Eine winzige, widerliche Sekunde: Im Auftaktspiel gegen die Isländer bekommt Flügel Robin Benzing an der Freiwurflinie den Ball, in Zeitnot und Bedrängnis, die Wurfuhr tickt und tickt und Benzing muss den Ball loswerden, schafft das auch und wirft im Nach-hinten-Fallen, aber landet dann, knickt weg. Vielleicht war es der Fuß von Jakob Sigurdason. Eine winzige Sekunde nur, dann schlägt Benzing auf den Boden, krümmt sich, verzieht das Gesicht. Sein Team springt auf und rennt zu ihm. Doc Neuendorfer und Alex King heben Benzing hoch und helfen ihm zur Bank, eigentlich schleppen und schleifen sie ihn. Weiter„Diese winzige, widerliche Sekunde“

 

Wer Foul sagt, kriegt ’nen Spruch

Hört auf mit Fußball! Das wahre Glück im Leben heißt: Basketball. Keiner fiebert der EM so entgegen wie unser Autor. Wenn bloß die Sache mit seinem Fernseher nicht wäre.

Basketball: Wer Foul sagt, kriegt 'nen Spruch
© cinematic/Photocase ()

Gestern unseren Fernseher aus dem Fenster geschmissen wie Keith Richards. Das alte Röhrenteil, einen halben Meter tief, tonnenschweres Glas, trauriger Elektroschrott. Krach. Die letzten Jahre hatten wir nur ab und zu mal eine DVD auf der alten Kiste angesehen, aber empfangen hat das Teil schon lange nichts mehr, seit einem halben Jahr konnte man ihn nicht einmal mehr anschalten.

Also weg damit, dachten wir, und zwar in aller Würde. Nicht auf die Straße stellen und „Zu verschenken“-Zettel draufkleben, aber niemand will das Teil geschenkt haben und man läuft tagelang jeden Morgen daran vorbei, als kenne man den eigenen Fernseher nicht mehr, und bei jedem Vorbeigehen wird einem klarer, dass die Zeit vergeht, dass man älter wird und irgendwann im Regen steht. Irgendwann pinkelt einem ein Köter an die Scheibe, der alte Dackel Vergänglichkeit. Weiter„Wer Foul sagt, kriegt ’nen Spruch“

 

Die Freiheit kann nicht grenzenlos sein

Ein Algorithmus ist politisch indifferent, ein Unternehmen darf das nicht sein. Warum Facebook Verantwortung übernehmen und gegen rassistische Inhalte vorgehen muss.

Facebook hat mal wieder Mist gebaut und zwar so großen, dass es viele seiner Nutzer gegen sich aufgebracht hat. Und das zu Recht, hat sich das soziale Netzwerk in letzter Zeit immerhin als Plattform für rechtsextreme und rassistische Hetze hervorgetan und geradezu verschlafen, gegen Posts vorzugehen, die zur Gewalt gegen Ausländer aufrufen. Nun schreitet sogar Justizminister Heiko Maas ein und bittet die Konzernleitung an den runden Tisch.

So weit der Tatbestand, der Fall ist ernst, die Fragen, die dahinter liegen, aber noch weit größer. Und sie sind drängend. Denn es braucht eine Antwort oder vielleicht auch viele Antworten darauf, wie mit einem immens mächtigen Kommunikationsnetzwerk, genannt Internet, umzugehen ist, dessen Strukturen sich zunehmend als ausgesprochen extremistenfreundlich erweisen und zwar international, von Heidenau bis zum IS. Weiter„Die Freiheit kann nicht grenzenlos sein“

 

Schlamm-Murat zerbeißt Transensocken

Per Bus von Istanbul nach Frankfurt? So mittelwitzig. Pöbelnde Sitznachbarn, Angst an der Grenze. Plötzlich klebt dem Fahrer eine Brustwarze im Gesicht. Das Fax der Woche

Tag der Rückreise. Der Digitalwecker im nicht bezogenen Nachbarzimmer klingelt seit 4.05 Uhr, ich rufe die Gastbetreuung an. Wecker verstummt um 4.29 Uhr. Schlaf unmöglich. Liege im Bett wie eine frisch geschlüpfte denkende Made. Option 1: Zugfahrt von Istanbul nach Frankfurt. Sechs Umstiege, unter anderem in Dimitrovgrad, Budapest Nordbahnhof, Budapest-Keleti. Dauer: 47,04 Stunden. Nix. Option 2: Busfahrt. Ja. Laufe nach dem Frühstück im geduckten Galopp zur Apotheke. Apothekerin misst Knie-, Waden- und Fußknöchelumfang, reicht mir die passenden Thrombosestrümpfe. Beim Hochziehen reiße ich mir zwei Büschel Beinhaare aus. Besser Bein als Arsch, sagt der Pförtner beim Abschied. Weiter„Schlamm-Murat zerbeißt Transensocken“

 

Die Saugpumpen schlürfen wie Seeungeheuer

Sylt und Rügen locken den Urlauber genauso wie den Künstler. Aber mitunter liegen Inseltraum und Frustrationsraum auch sehr nah beieinander.

Sylt: Die Saugpumpen schlürfen wie Seeungeheuer
© Patrik Stollarz/AFP/Getty Images

Wenn Inseln überhaupt jemandem gehören, dann dem Meer, den Fischern und den Künstlern. Mag das Schaffen Letzterer noch so anders sein, etwas vereint beide: die Unbehaustheit, in der sie einen großen Teil ihres Lebens verbringen. Sind die einen auf offener See täglich den Launen der Natur ausgesetzt – Unwettern, der fortwährenden Umwälzung des Meeresgrunds und dem nie gänzlich ergründeten Geheimnis der Fischzüge –, wissen die anderen oft nicht, was der nächste Tag, die nächste Stunde ihrer Arbeit bringen. Weiter„Die Saugpumpen schlürfen wie Seeungeheuer“

 

Menschenrechte im Schlussverkauf

Menschenrechte, na klar – aber bitte nur unsere eigenen! Die Schweizerische Volkspartei versucht mal wieder, demokratische Instrumente in Wahlkampf-PR umzumünzen.

SVP: Menschenrechte im Schlussverkauf - Freitext
© Reuters/Ruben Sprich
Ausblick über Horrenbach-Buchen, wo der Einwanderungsplan der SVP die meisten Anhänger hat.

Am Helvetiaplatz gleiten leise und pünktlich Straßenbahnen vorbei, gemächlich fließt das Schwyzerdütsch um mich. Als Gott Tag und Nacht schuf, schnitt er für die Schweizer die Zeit ein wenig großzügiger zurecht als für den Rest der Schöpfung. Die Schweiz, das ist das Land der Neutralität und der Volksbefragungen, der florierenden Privatbanken und Sitz so vieler internationaler Organisationen, eigenbrötlerisch und zugleich weltläufig, ach Schweiz, wären wir nur alle so wie du!

Erst als ich umständlich Franken aus meinem Portemonnaie krame, um meinen Kaffee zu bezahlen, der drei Mal so viel kostet wie in Berlin, fällt mir der Regen auf und die dunklen Wolken, die über Zürich hängen, und wie wenig ich mir diese Stadt leisten kann. Neben allem anderen ist die Schweiz auch der Ort, an dem privilegierte Westeuropäer das Wohlstandsgefälle einmal von unten und nicht von oben aus zu spüren bekommen – Zuwanderungsprobleme de luxe, derweil die Schweizer sich über die Flüchtlinge den Kopf zerbrechen und über die Frage, wann das sprichwörtliche Boot mal wieder voll ist. Weiter„Menschenrechte im Schlussverkauf“

 

Werft mir einen Fischkopf hoch!

Wie schön sie singen, die Türken! Liebesballaden im Abenddämmer. Ziemlich blöd, wenn einem ausgerechnet dabei eine Gräte im Hals steckenbleibt. Das Fax der Woche

Die Türken sind schön, schön in der Arbeit, beim Überqueren der Straßen, beim Hupen, beim Schwitzen, bei der beiläufigen Verrichtung einer Arbeit, beim Beten und Fasten, beim Abschiedskuss, beim Abendgruß, beim Fastenbrechen, bei der Stille, die sich ausbreitet, wenn sie angefeindet werden. Beim Fluchen.

Die Türken sind schön, wenn sie von Bestimmungsorten sprechen. Wenn sie die heiße Suppe auslöffeln, wenn sie Brot in die Fleischbrühe tunken. Bin ich in Istanbul unter meinesgleichen? Es wäre eine Lüge, zu glauben, dass es so sei. Ich bin in der Fremde, unter schönen Türken, und ich lächle sie an. Es ist gut, unter jenen zu sein, die man für Bestien hält. Nur noch wenige Tage bis zum Abschied, bis zur Rückkehr. Weiter„Werft mir einen Fischkopf hoch!“