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Das Grauen wiederholt sich jeden Tag

Der Großvater unserer Autorin hat das grausame Verbrechen an den Armeniern überlebt. Erzählt hat er darüber kaum. Versuch einer Annäherung an das Unsagbare

Ein siebenjähriger Junge kommt von der Schule nach Hause. In der Stube riecht es nach Ofen und Weihrauch. Der Junge setzt sich ans Fenster und beobachtet die Gendarmen, die mit geraden Rücken und wichtigen Gesichtern durch die Straßen von Ordu reiten, Geld einsammeln und gar nicht merken, welche Fratzen auf ihren Rücken kleben.

Auf dem Platz vor dem Haus sammeln sich Leute, sie schreien, aber was sie schreien, versteht der Junge nicht. Irgendwann fliegt ein Stein. Dann noch einer. Der Junge erkennt den Schneider, auch er hat einen Stein in der Hand. Das Fenster zerbricht, und die Splitter der Scheibe liegen auf dem grauen Steinboden verteilt, grau glänzend, wie das eine Auge der Mutter, das die Kinder immer im Blick hat, auch jetzt. Das andere Auge erlosch beim Kochen durch heißes Öl. Trotzdem ist die Mutter schön mit ihrem runden Gesicht und den schweren, vollen Haaren. Der Junge kauert in einer Ecke, das Auge der Mutter ruht auf ihm. Weiter„Das Grauen wiederholt sich jeden Tag“

 

Dallas, Texas, Activity 434

In global vernetzten Zeiten pflegt man seine Sportgruppe in einer App. Unser Autor läuft mit seinen Literaturfreunden um die Wette, jeder in einer anderen Stadt. Manchmal treffen sie sich sogar.

Laufstrecke in Dallas
Thomas Pletzingers Laufstrecke in Dallas

Gestern morgen gelaufen: in Oak Cliff, einem Stadtteil von Dallas, Texas. In der Hand mein Telefon. Erst am Highway, Billboards und Tankstellen, dann schlängelt sich der Weg durch sattes, feuchtes Grün einen Bach entlang. Wohnhäuser, flach und beige und texanisch, Palmen und Kakteen. Ein riesiger Golfplatz, früh morgens noch ohne Golfer, kleine Canyons und Wasserstürze, Affenbrotbäume und Magnolien. Es geht jetzt bergan. Ich versuche, den gemächlichen Sechs-Minuten-pro-Kilometer-Schnitt zu halten, alle fünf Minuten sagt eine leise Stimme die Zeit, die Distanz und die Geschwindigkeit an. Keine Musik.

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Geschlechterproblem gelöst!

Seit Tagen quält sich die Welt mit einem Mathe-Rätsel. Seit Jahren mit der Frage danach, wie es klappt mit der Liebe. Unser Autor hat beide Fragen gleichzeitig geknackt.

Letzte Woche versuchte angeblich die halbe Welt genau so logisch zu denken wie singapurische Schüler. Es ging um Cheryls Geburtstag. Und wer ihn herausgefunden hatte, war sehr kurz und sehr nutzlos stolz und machte dann wieder etwas anderes, womöglich Unlogisches.

Jetzt wurde das Rätsel allerdings von seinen Herstellern zurückgerufen, weil versehentlich eine verfälschend verkürzte Version des Rätsels veröffentlicht wurde. Nämlich diese hier:

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Mann und Poesie ist wie Mann und Kosmetik

Ein Mann verzweifelt. Seine Frau liest plötzlich Gedichte. Warum kocht sie nicht lieber Marmelade ein? Unser Kolumnist versucht zu vermitteln. Das Fax der Woche

Pasche Bombe, Zypriot, neuer Mann im Viertel, Arme wie Kellen, Beine wie Keulen, sagt in der Stunde seiner Verstimmung: Der Heiland, der ist mir gut, der hält einen Platz für mich frei… Er will über das Himmelreich reden, ausgerechnet mit mir, dem Muslim, er will mich im Kieler Hafenbecken taufen, ich lehne ab.

Er schraubt den Deckel des Weckglases auf, sticht mit der Plastikgabel eine Orangenscheibe mit Schale heraus, der Sirup tropft mir auf Hosensaum und Schuhe, ich mag Pascha nicht verärgern, beiße ein Stück ab. Es schmeckt wie gesüßter Ziegelsplitter, er reißt mir beim Schlucken den Rachen auf. Ich lobe die Marmeladenkochkünste seiner Frau, er verbittet sich das Lob, tänzelt um die Discounter-Kassiererin, der er eine tropfende Orangenscheibe vors Gesicht hält. Weiter„Mann und Poesie ist wie Mann und Kosmetik“

 

Das Erleben des Sturzes

Die Medialisierung des Terrors ist normal geworden. Die Literatur aber kann an der Darstellung des Schreckens nur scheitern. Gerade darin liegt ihre Wahrhaftigkeit.

© Getty Images
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Ein Flugzeug stürzt ab. 150 Menschen sterben. Von 150 Opfern ist die Rede. Dann von 149. Selbstmord des Copiloten. Mord an allen anderen, wird gesagt. Trauer und Bestürzung sind groß. Politiker reisen an. Sofort.

Man lässt sich am Ort des Absturzes sehen. Frau Merkel und Herr Hollande höchstpersönlich. Wir verstehen das, haben Erfahrungen gemacht mit der Bildwichtigkeit und Bildmacht in unseren Mediendemokratien. Der Staatsführer als erfolgreicher Krisenmanager. Es rächt sich, wenn sie solchen Gelegenheiten fernbliebe. Weiter„Das Erleben des Sturzes“

 

Hamsterrad oder Fressnapf

Das Betreuungsgeld ist Unsinn. Was wir aber brauchen, ist eine neue Diskussion über die Aufteilung von Lebens- und Arbeitswelt.

© Adam Berry/Getty Images
© Adam Berry/Getty Images

Man stelle sich folgendes Unruheszenario vor: Viele, ja zu viele Menschen in unserer wirtschaftlich gut funktionierenden Republik widersetzten sich der Verwertung ihrer Arbeitskraft, um ein Kind jahrelang Vollzeit zu betreuen. Klar, Deutschland braucht Nachwuchs, um den drohenden demografischen Wandel abzudämpfen, aber ebenso dringend braucht es Fachkräfte, um weiterhin über jeden Krisenmahlstrom hinweg zu segeln. Was, wenn gerade Menschen in ihren Zwanzigern und Dreißigern keine Lust mehr hätten, auf dieser Segeltour mitzuschippern? Weiter„Hamsterrad oder Fressnapf“

 

Oskar Matzerath ist eine ganze Epoche

Günter Grass hatte eine Meinungsmacht, die heute kein Intellektueller mehr für sich beanspruchen kann. Und es scheint auch nicht mehr erwünscht.

© AP Photo/Jens Meyer
© AP Photo/Jens Meyer

In den vergangenen Jahren hat man sich gern über Günter Grass lustig gemacht, sofern man ihn nicht gleich ignorierte. Da war dieser Gigant, der einmal Inbegriff der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur war, und mutete nun in der Flut der Häme, die nach seinem in der Süddeutschen Zeitung publizierten Gedicht Was gesagt werden muss über ihn herrollte, beinahe wie vom Alter geschrumpft und nicht mehr in unsere Zeit gehörend an. Zugegeben, seine letzten veröffentlichten Gedichte waren weder ästhetisch noch politisch auf der Höhe seines Werkes, der Wirbel um sie war aber eben deshalb wichtig, weil sie nicht bloß das Scheitern eines einzelnen Mannes zeigten, sondern das Scheitern eines engagierten Literaturverständnisses generell. Weiter„Oskar Matzerath ist eine ganze Epoche“

 

Nachts sind alle Menschen schwarz

Unser Kolumnist bekommt über Nacht schwarze Haut. Frauen wollen ihn küssen, Männer recken die Fäuste. Er gibt ihren Vorurteilen Gestalt. Das Fax der Woche

Ich hatte einen Traum: Ich war schwarzhäutig. Hatte sich ein Schleier aus Fliegen auf mein Gesicht gelegt? Hatte ich mich bis zur Unkenntlichkeit verbrannt? War ich eine wiederauferstandene weiße Leiche? Ich strich mit der Handkante über den Spiegel: Das Bild verblasste nicht. Ich war befremdet, den ganzen Morgen, da ich mich versteckte vor den Menschen, die mich kannten, die mich nicht wiedererkennen würden.

In diesen Stunden in meinem Unterschlupf verwuchs ich mit meiner neuen Haut. Schwärzer als das Schwarz auf den Farbbögen der Weißen. Ich sah nicht aus wie einer der Mulattenjungen, von denen die Schulmädchen schwärmten. Ein dunkler Mann, den die Nacht leicht verschluckt, das war ich. Ich schritt hinaus, ich wurde von einem Kind entdeckt, es sagte: Bist du ein Neger? Ich sagte: Bist du ausgebleicht?, dann ging ich weiter. Dies eine Wort klang nach, dies eine Wort wurde zum Gerücht, älter als das Kind, jünger als der Himmel. Weiter„Nachts sind alle Menschen schwarz“

 

Herrchen im Himmel

Das Leben wird immer komplizierter. Kein Grund zu verzweifeln! Unser Autor weiß, wie man den Überblick behält: Er erklärt die Welt seinem Hund. Heute – die Religion.

© Daniel Berehulak/Getty Images ()
© Daniel Berehulak/Getty Images ()

Adele, komm mal her! Mach Sitz! Und hör gut zu, ich muss dir was erklären. Also, pass auf, Adele! Vor langer Zeit, als es noch mehr Wölfe als Hunde gab, da glaubten alle Menschen auf der Welt, es gäbe für sie ein, nun sagen wir: Herrchen. Allerdings nicht, wie bei euch Hunden, ein Herrchen für jeden, sondern eines für alle. Und noch etwas war anders an diesem Menschen-Herrchen. Es lebte nämlich nicht hier auf der Erde, schnauzte einen nicht an, zerrte einen nicht an der Leine und gab, leider, auch kein Futter aus der Hand. Die Menschen dachten sich ihr Herrchen vielmehr irgendwo anders, weiter oben, von wo es allerdings jeden Menschen aufmerksam beobachtete. Und wenn der Mensch gegen die Regeln des Herrchens verstieß, musste er mit allerlei Strafen rechnen, die gewissermaßen indirekt vollstreckt wurden, zum Beispiel in Form von Krankheit und Armut oder Quälereien nach dem Tod.

Nun weißt du als Hund ja aus eigener Erfahrung, wie schwierig es ist, schon die Wünsche und den Willen eines real anwesenden Herrchens richtig zu deuten. Um wie viel schwieriger ist es da, Wunsch und Wille eines abwesenden, aber gewissermaßen universellen und omnipotenten Herrchens dauernd richtig zu treffen. Weiter„Herrchen im Himmel“

 

Nach zwölf Tagen im Wasser verfaulen die Beine

Was kann man ausrichten in einer Zeit, in der junge Männer sterben, die man schon als Kind kannte? Über die Ohnmacht der Worte angesichts des Ukraine-Konflikts

© John MacDougall/AFP/Getty Images ()
© John MacDougall/AFP/Getty Images ()

Ich werde oft gefragt, was die Intellektuellen in der Ukraine dieser Tage machen. Und was sie machen können. Und ich antworte immer, dass es keine allgemeinen Regeln gibt, denn jeder reagiert auf die Situation anders – wird zum Beispiel sehr aktiv, schreibt viel, oder hört auf zu schreiben und wird zum freiwilligen Helfer, bringt den ukrainischen Soldaten warme Socken, Essen und Zigaretten. Oder macht ein Literaturfestival in Slowjansk, wo noch vor Kurzem schwere Kämpfe stattfanden. Oder wird einfach verrückt.

Jeder reagiert anders, ich kann nur von mir selbst sprechen. Das antworte ich immer, und das ist ein großer Fehler, weil die nächste Frage, die kommen könnte, dann lauten müsste: Gut, was machst Du denn? Und diese Frage, die Gott sei Dank noch nie gestellt wurde, ist für mich fatal. Ich mache gar nichts. Diesen Krieg kann ich weder gewinnen noch stoppen. Was ich auch tun würde, es könnte doch nichts ändern.

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