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Eine scheinbar unüberwindbare Schlucht

Suizid ist eine erschreckend häufige Todesursache. Dennoch oder gerade deshalb wird das Thema tabuisiert und fetischisiert. Versuch einer Annäherung über zwei Filme


© [M] Adi Goldstein /https://unsplash.com
Als junger Mann zwischen 15 und 35 Jahren in Deutschland geht die größte Lebensgefahr für mich von mir selbst aus. In dieser sonst eher gesunden Bevölkerungsschicht ist jede sechste Todesursache der Suizid. Würde ich in Bayern leben, wäre es noch schlimmer. Würde ich in Sachsen-Anhalt leben, etwas weniger. Die Statistiken sind furchteinflößend. Jährlich nehmen sich in diesem Land etwa 10.000 Menschen das Leben, was die Gesamtanzahl der Toten durch Verkehrsunfälle, Drogenmissbrauch und HIV-Erkrankung deutlich überschreitet. Weiter„Eine scheinbar unüberwindbare Schlucht“

 

Wir brauchen die Einheit nicht

Auch wir Nachgeborenen unterscheiden noch zwischen „wir Ossis“ und „ihr Wessis“. Aber das ist nicht schlimm. Warum wir uns vom Einheitsgedanken verabschieden sollten.

© Peter Kneffel / dpa

Es ist wieder Herbst in Deutschland, und seit ich denken kann, bedeutet das, dass der Osten zum medial umsorgten Problemkind wird. Irgendwo zwischen der Veröffentlichung des Jahresberichts zum Stand der Deutschen Einheit im September und den Jubiläen von Einheitsvertrag und Mauerfall im Oktober und November, dieses Jahr zusätzlich befeuert durch die Wahlerfolge der AfD, fragt sich das Land rituell, wie es eigentlich den Ossis geht. Weiter„Wir brauchen die Einheit nicht“

 

Susanna bleibt einsam

Sie ist eine aufgeschlossene, kontaktfreudige Frau. Aber keiner ihrer Nachbarn spricht mehr als ein paar Worte mit ihr, niemand lädt sie ein. Weshalb nur?

© Andrew Hutchings/https://unsplash.com

Meine Freundin Susanna lebt in einem glücklichen Staat. Ich will jetzt keinen Namen nennen, aber in diesem Staat sind die Kühe zufrieden, die Schweine glücklich und die Eier einwandfrei. Weiter„Susanna bleibt einsam“

 

Der katalanische Masochismus

Die Unabhängigkeitsbewegung in Katalonien will unbedingt leiden. Und zur Not sorgt sie eben selbst dafür, dass die eigene Demontage vorangetrieben wird.

Katalonien: Der katalanische Masochismus | Freitext
© Jon Nazca / Reuters

Immer gut: Wenn man im Moment der höchsten Bedrängnis noch einen Trumpf ziehen kann, mit dem man sich nicht nur aus der Klemme rettet, sondern die Partie sogar gewinnt. Schlecht dagegen, wenn man den Trumpf nicht zieht und stattdessen mit voller Wucht gegen die Wand rennt. Weiter„Der katalanische Masochismus“

 

Der liebe Mischa kehrt zurück

Seit einigen Monaten können EU-Bürger ohne Visum nach Minsk reisen. Sind Ausländer etwa doch nicht allesamt Staatsfeinde und Spione? Über den langsamen Wandel in Belarus

Feier zum Unabhängigkeitstag im Juli 2017 in Minsk © Dan Kitwood/Getty Images

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In meiner Erinnerung sehe ich meine Mutter 1980 zum ersten Mal weinen. Ich war damals drei. Die Olympischen Spiele in Moskau gingen eben zu Ende, im Fernsehen lief die Schlussfeier. Da tauchte im Stadion nach festlichen Fanfarenstößen plötzlich ein riesiger Bär auf, das Maskottchen dieser Sommerspiele, und ein zutiefst ergreifendes Abschiedslied erklang. Die Kamera zeigte Gesichter auf den Rängen in Großaufnahme. Als der Bär abhob und unter einem Bündel Luftballons in den Himmel schwebte, weinten viele. Weiter„Der liebe Mischa kehrt zurück“

 

Der Winter ist doch eh nur Bluff

Wenn es draußen ungemütlich wird, sind Herbst- und Winterdepression nicht weit. Dabei könnte alles so schön sein. Man muss nur lernen, sich richtig zu erinnern.

Winterzeit: Winter ist doch eh nur Bluff
© Kinga Cichewicz / – (https://unsplash.com/@lets_run_away)

Tagsüber ist alles noch okay. Machmal scheint die Sonne. Und man könnte denken: Vielleicht klappt es ja diesmal. Es ist alles fake und der Winter fällt aus. (Dank Klimawandel und globaler Erwärmung.) Wir haben es schon mal im Sommer versucht, in den Ferien. Wir haben mit Jimmy gesprochen. Wir haben ihm erklärt: „Der Herbst ist eine durch und durch deutsche Jahreszeit. Das gibt es sonst nirgendwo.“ (Das müssen nur wir ertragen.) „Ihr in Südfrankreich habt es echt leicht.“ Aber Jimmy hat nur den Kopf geschüttelt. Müde und ein bisschen traurig. Es fällt leichter, Abschied vom Sommer zu nehmen, wenn man an Jimmy denkt. An seine Karriere und dass sie jetzt langsam zu Ende geht. Weiter„Der Winter ist doch eh nur Bluff“

 

Das finnische Geheimnis

Das Beharren auf Eigenheit muss nicht zwangsläufig den Willen nach Abspaltung nach sich ziehen. In Finnland kann man sehen, wie Europa funktionieren könnte.

© [M] ZEIT ONLINE – Frantisek Gela/CTK / AP/dpa

Sisu. Das muss man mit scharfem zweitem „s“ aussprechen. Betont auf der ersten Silbe: sisu. Klingt für deutsche Ohren zwar nach „Susi“, ist aber das finnische Geheimnis. Als solches natürlich unübersetzbar. Annäherungen sagen, es heiße Durchhaltekraft, Zähigkeit, eine Art Mut im Ertragen – sozusagen Stapfen durch Kälte und Schnee, bei karger Kost. Darauf ist man hier stolz. Darauf gründet man hier, erzählen mir die Finnen, die mich seit drei Wochen umgeben – ich bin in Helsinki – und blicken heiter-ernst. Eine bedeutende Sache, schließlich, so ein Nationalgefühl. Weiter„Das finnische Geheimnis“

 

Auf den Ferrari hätte ich gern geschissen!

Wenn irgendwo „Zukunft“ oder „Fortschritt“ draufsteht, hecheln alle brav hinterher. Ob die Ideologie dahinter aggressiv oder frauenfeindlich ist, dafür sind wir blind.

© Jean Gerber/https://unsplash.com/photos/vkCyrRJsHss

Stell dir vor, du wachst eines Morgens auf und weißt: Heute ist der Tag, der dein Leben endlich verändern wird. Und falls du männlich sein solltest, stell dir vor, du seist eine Frau, die sich von Geburt an als Frau fühlen musste, die, auch wenn sie es wollte, kein Mann sein wollen konnte, eine Frau in ihren besten Jahren, eine reife Frau in einer fabrikneuen Welt, in der sie als Weib eine Zumutung ist. Du verachtest dich jeden Tag dafür, dass du nicht als Junge geboren wurdest oder dich wenigstens als Junge fühlen konntest. Du verachtest deine Mutter dafür, dass sie dich nicht rechtzeitig abgetrieben hat. Und deinen anonymen Samenspender hasst du dafür, dass er ein ignorantes Arschloch war, dass er kein Interesse an deiner Geburt gezeigt hat, er hätte dich wenigstens noch totschlagen können. Weiter„Auf den Ferrari hätte ich gern geschissen!“

 

Warum schreit das Ich so laut?

Vom Selfie-Wahn bis zum personalisierten Kaffeepott: alles schön individuell, bitte. In der Abscheu vor dem Wir und den anderen zeigt sich unsere pubertäre Gesellschaft.

Individualität: Das Ich schreit so laut, warum nur?
© Elvis Ma/Unsplash.com

Ich habe weder einen Garten noch einen Balkon. Ich habe auch keine Pflanzen in der Wohnung. Das sei nur deshalb erwähnt, um klarzustellen, dass es für mich keinen, aber auch gar keinen Grund gibt, auch nur die Existenz eines Gartenbedarfsartikelfachgeschäft zu bemerken. Subjektive Wahrnehmung, die uns beobachtungslos durch den Alltag führt: Als Nichtraucher weiß man nicht, wo die Tabakläden im eigenen Viertel sind, und wer kein Haustier hat, dem fällt meist nicht auf, dass sich in der Straße nebenan Der Hundling oder Die Zierfisch-Oase findet. Letztens aber blieb ich doch, wahrscheinlich zum ersten Mal in meinem Leben, vor dem Schaufenster eines Garten-Centers stehen, Samenpäckchen, Schaufeln jeder Größe mit unterschiedlichsten Griffen im Schaufenster, ein gestreifter Liegestuhl auch, außerdem ein menschengroßer Blumentopf aus Plastik. Auf dem Topf ein Schild: „Hier können Sie Ihren Blumentopf individualisieren.“ Weiter„Warum schreit das Ich so laut?“

 

Der Schmutzkübelkampagnen-Schmierenroman

„Kurz und Kern“ – das wäre kein guter Buchtitel. Und überhaupt: Die österreichische Wahlkampfkomödie taugt nicht mal als Romanstoff. Könnte bitte ein Lektor eingreifen?

Reuters/Leonhard Foeger

Wollte man einen Roman über Politik schreiben und die Protagonisten Kurz und Kern nennen, es ginge bei keinem Lektor durch. Zu gewollt, zu naheliegend, zu kalauerhaft klingt das, wäre der berechtigte Einwand. Überhaupt wäre die Schmierenkomödie, die sich die beiden fiktiven Spitzenkandidaten der österreichischen Volksparteien SPÖ und ÖVP liefern, vermutlich nicht originell genug. Gab es das nicht schon mal, vor dreißig Jahren, in Schleswig-Holstein? Weiter„Der Schmutzkübelkampagnen-Schmierenroman“