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Bucovina Club

R ’n‘ Balkan, Bucowina Dub, Balkan Pop: Shantel schießt den Mojo Club für eine Nacht in den Orbit seines Planeten Paprika.

„Yabadabaday yoboboboboy, I wanna be your disco boy!“ Muss man mehr sagen? Er hat der Welt Disco Boy und Disko Partizani beschert. Vielleicht hat er den Balkan-Pop nicht erfunden, aber mit Sicherheit hat er ihn geadelt. Seine Compilations sind Legende, seine Auftritte an den Reglern überirdisch. Wer einmal erlebt hat, wie Stefan Hantel aka Shantel die Tanzflächen der Clubs oder die staubigen Plätze von Festivals zum Vibrieren bringt, kennt die wahre Bedeutung des Wortes „Spektakel“. Im Mojo tut er, was er am besten kann, und eröffnet für eine lange, schweißtreibende Nacht einen Außenposten des Planeten Paprika unter der Reeperbahn. Sein Bucovina Club ist eine autonome Zone für Tanzwütige.

Shantel & Areti Ketime // EastWest – Dysi Ki Anatoli from guilty76 on Vimeo.

 

Matthew E. White

Zart gehauchter Country-Soul: Der Sohn christlicher Missionare bringt den Sound der Südstaaten in den Nochtspeicher. 

Er ist ein echter Crooner: Matthew E. White destilliert aus seiner brüchigen rauen Stimme mehr Zucker, als man es dem bärtigen, stämmigen Hünen mit dem langen Haar zugetraut hätte. Sie ist das klebrige Topping für die opulenten Arrangements des 32-jährigen Singer-Songwriters aus Virginia, dessen Sound irgendwo zwischen Country-Soul, Tropical und Gospel einzuordnen ist, wie auch sein aktuelles Album Fresh Blood, das er im März vorlegte, eindrucksvoll belegt. Dass diese Mischung ziemlich grooven kann, bewies der Sohn christlicher Missionare zuletzt mit einem Auftritt bei US-Talker David Letterman, wo er samt Band, Gospelsängern und Bläsern aufschlug. Schön, wenn die auch im Nochtspeicher dabei wären. Und natürlich ganz viel Zuckerguss.

Text: Theresa Huth

 

Eisermann & Vinje

Werther, der labile Schwärmer: Mit ungetrübter Energie bringt das Duo seine erfolgreiche Goethe-Adaption auf die Bühne der Fabrik.

In Goethes Leiden des jungen Werther legt ein fingierter Herausgeber in bester Found-Footage-Manier dem Leser die angeblich echten Briefe eines bis in den Selbstmord Liebenden ans Herz. Das ist über 200 Jahre her und bei manchen der damaligen (jungen) Leser, solcherlei Kunstgriffe nicht gewohnt, wirkte dieser Kniff bekanntlich verheerend. Goethe gab dem idealistischen Gefühlsüberschwang seiner Zeit zwar literarische Gestalt, doch die Ironie konnten seine Leser nicht erkennen. Wer sich die Studio-Aufnahme des Werks aus dem Jahr 1999 von André Eisermann und Jakob Vinje am Piano anhört, den nimmt sie auch mit diesem Vorwissen sofort gefangen. Dort gibt er den Werther mit virtuoser Empathie als labilen, emotional hoch entzündlichen Schwärmer. Doch ist das, ganz im Sinne des Sturm und Drang, ernst gemeint oder schon ironisch überhöht? Eisermann und Vinje präsentierten ihre Performance in über 600 Vorstellungen mit ungebrochenem Erfolg, jetzt wieder zu erleben in der Fabrik.

Text: Reimar Biedermann

 

Plastic Propaganda

Beim Release-Konzert der Hamburger pink Punker in der Cobra Bar gibt’s jede Menge Druck – und handgezählte Vinyl-Specials.

Jeder, der sich regelmäßig auf Punkkonzerten herumtreibt, trifft immer wieder auf die gleichen Schemata, oft inspiriert vom raubeinigen Deutschpunk der 1980er oder dem melodischen Westküstenpunk der 1990er. Viel zu selten trifft man auf die Spielart, der sich Plastic Propaganda widmen: die The-Clash-Variante, knackig und tanzbar, mit Einflüssen aus verschiedensten Richtungen. „Lieber irre als tough, lieber albern als elitär“, sagen sie über sich selbst. „Weder Schwarz noch Weiß, sondern Neonpink.“ In der Cobra Bar feiern sie den Release ihres Debutalbums, also nicht den Jutebeutel für die handnummerierten Platten vergessen. Vielleicht erwischt ihr sogar eine der 77 pinken Vinyl-Specials!

Text: Benedikt Ernst

 

Locas In Love

Freundlich, aber nicht gefällig: Die Kölner Combo kommt mit ihrem neuen Album und jeder Menge Indie-Pop-Hits ins Nachtasyl.

„Würdest du mich auch noch wollen, wenn du mich nicht schon hättest? Würdest du alle Verbrechen begehen, nur um mich zu retten? Dann ruf es laut, ruf es proud, rufe Dinge, die sich niemand traut, rufe: Ich habe das System durchschaut und es ist am Ende! School is out!“ So sangen Locas In Love beim Reeperbahnfestival 2012 in der Prinzenbar. Bunte Luftballons stiegen über Björn Sonnenbergs abstehendes Kräuselhaar und Stefanie Schranks Ponyfrisur und blieben an der stuckverzierten Decke hängen. Und irgendwie wirkte das überhaupt nicht kitschig, sondern ging auf sehr direkte Art ans Herz. Vielleicht deswegen, weil die Band aus Köln eigenen Regeln folgt. Sie erlauben sich, freundlich zu sein, und sind dabei trotzdem nicht lieb. Tiefsinnige Songs sind voll kluger Verweise auf die Kultur- und Musikgeschichte. Im Nachtasyl präsentieren Locas In Love ihr neues Album Use Your Illusion 3&4. Der kleine, intime Club im Dachgeschoss des Thalia Theaters dürfte ein guter Ort dafür sein.

Text: Michael Weiland

 

Bier-Releaseparty

Ein Fest für Hopfenfreunde: Begleitet von DJ Sternsanchez präsentiert Wilko Bereit im Galopper des Jahres sein neues Bockbier.

Der April ist der Monat des Biergenusses. Zumindest in der Sternschanze. Denn dort laden gleich zwei Veranstaltungen zur Huldigung des güldenen Gebräus. Zum Tag des deutschen Bieres veranstaltet der Galopper des Jahres in der 73 eine Bier-Releaseparty. Dort widmet man ja ohnehin schon einen Zapfhahn regelmäßig wechselnden, neuen Spezialitäten aus der Brauwelt. Am Tag des deutschen Bieres bringt Braumeister Wilko Bereit von der alternativen Rollberger Brauerei aus Berlin sein neues Bockbier mit. Das Rolli, wie es liebevoll genannt wird, gibt es auch zwei Tage später beim zweiten Bock Beer Day am 25. April in den Schanzenhöfen zu verkosten. Und nicht nur das, sondern auch Bockbier von Brauereien wie Ratsherrn, Hops & Barley, Braukatz, Scheider Weisse und Gruthaus.

 

„Mülheim Texas“

Nicht nur für „Scheißfans“: Der äußerst kurzweilige Dokumentarfilm über den Mülheimer Helge Schneider hat Premiere im Abaton.

Was Sie schon immer über Helge Schneider wissen wollten (aber bisher nicht zu fragen wagten), erfahren Sie auch in Andrea Roggons Dokumentation nicht … Beim Versuch, dem Ausnahmekünstler aus Mülheim „filmisch nahezukommen und ihm dabei sein Geheimnis zu lassen“, hat sich die Filmemacherin (die zur Premiere ins Abaton kommt) aber ganz pfiffig angestellt. Sonst hätte Schneider ihr wohl kaum so viele schöne, fast schon Videoclip-taugliche Szenen geschenkt: ausdruckstanzend am Strand, Playback-singend in der Steppe und – fast können wir hier die Juwelen Seiner Majestät erblicken – badend in einer viel zu kleinen Wanne. Einer der Schlüsselsätze während einer idyllisch anmutenden Paddelfahrt auf der Ruhr lautet: „So, da hast du noch was für deinen blöden Film.“ Und für uns Scheißfans halt. Mülheim Texas ist keine Biografie und kein Werksverzeichnis in bewegten Bildern. Die künstlerischen Facetten Schneiders werden hier verteilt in nur kleinen Häppchen angerissen. In die Tiefe kann keines der Themen gehen, dazu reicht die Zeit nicht. Ein „Geheimnis“ kann der Film aber lüften: Helge Schneider sieht beim Treckerfahren nicht anders aus als jeder andere – nur, selbst das, ein bisschen lustiger.

Text: Michele Avantario

 

Marcus Miller

Vielseitig am Viersaiter: Der Ausnahmebassist kommt mit seinem neuen Album „Afrodeezia“ und seiner neuen Band in die Fabrik.

Er hatte sie alle. Marcus Millers Bassspiel ist so konkurrenzlos, dass sich in der Vergangenheit Musiker von Elton John über Miles Davis bis Aretha Franklin auf seine Fähigkeiten am Viersaiter stützten und die Firma Fender einen E-Bass nach ihm benannte. Doch statt permanent nur anderen beim Verdienen ihrer Lorbeeren zu helfen, schraubte der Grammy-Preisträger dabei immer akribisch an seiner Solokarriere. Auf seinem aktuellen Werk Afrodeezia begibt er sich auf eine Reise durch die Musikgeschichte und findet mit seiner sechsköpfigen Band einen ganz eigenen Sound zwischen Jazz, Soul und World Music – die Essenz einer beeindruckenden Künstlerbiografie, präsentiert in der Fabrik, in der er schon vor zwei Jahren ein großartiges Konzert gegeben hat.

Text: Benedikt Ernst

 

„Ex Machina“

Ein futuristisches Kammerspiel mit Neo-Noir-Touch: Das Studio Kino zeigt das Regiedebüt des Schriftstellers Alex Garland.

Liebe auf den ersten Blick ist es gerade nicht, was den jugendlichen Programmierer Caleb (Domhnall Gleeson) mit der schönen Ava verbindet. Zwar ist die junge Frau (Alicia Vikander) nett und freundlich zu dem schüchternen Nerd, doch gibt es einen deutlich erkennbaren Grund dafür, dass Caleb auf ihren Charme zurückhaltend reagiert – weil nämlich unter ihrer transparenten Bauchdecke ein elektronisches Antriebswerk sichtbar wird. Zudem finden die Begegnungen der beiden unter sterilen Laborbedingungen statt. Drahtzieher ihrer bizarren Dates ist Calebs Vorgesetzter Nathan, ein enigmatisches – von Oscar Isaac (Inside Llewyn Davis) mit großer Coolness verkörpertes – Programmiergenie, das mit dieser Versuchsanordnung herausfinden will, wie selbstständig sein künstliches Geschöpf zu denken und zu handeln in der Lage ist. Das Regiedebüt des britischen Schriftstellers Alex Garland (The Beach), das im Studio und im Abaton anläuft, steht zunächst ganz in der Tradition seiner Science-Fiction-Drehbücher (Sunshine, 28 Years Later). Langsam erst wandelt es sich zu einer zarten Romanze – und dann zu einem Film noir. Ex Machina ist ein elegantes, stilsicher inszeniertes Gedankenspiel zur Mensch-Maschine-Symbiose, das sich klug auf wenige visuelle Spezialeffekte beschränkt.

 

„Härte“

Hart, nicht herzlich: Rosa von Praunheim kommt ins Abaton, um seinen Film über Karate-Champion und Zuhälter Andreas Marquardt vorzustellen.

Der Karate-Weltmeister Andreas Marquardt war über 20 Jahre lang Geldeintreiber, Zuhälter und Millionär in Berlin – bis er für acht Jahre eingebuchtet wurde. Härte heißt darum der Film, den Rosa von Praunheim über ihn gedreht hat. Er erzählt in einem halb dokumentarischen, halb nachgespielten Film die erschütternde Geschichte eines vielfach missbrauchten Menschen und seines außergewöhnlichen Lebenswegs, der ihn schließlich aus der Gewalt wieder zurück ins Leben führte.

Zur Hamburg-Premiere im Abaton kommen Rosa von Praunheim, der Protagonist Andreas Marquardt sowie die Hauptdarsteller Luise Heyer und Hanno Koffler, der im Film Marquardt verkörpert. Auch Jürgen Lemke, Diplom-Sozialpädagoge, Psychotherapeut und Coautor der Marquardt-Autobiografie, ist zu Gast.