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Chuzpe

Lily Bretts humorvoller Bestseller in der Regie von Henning Bock hat am 25. Januar in den Hamburger Kammerspielen Premiere. Weitere Vorstellungen finden vom 29. bis 31. Januar statt.

Die neurotische Ruth ist Inhaberin einer erfolgreichen Agentur und führt ein wohlsituiertes Leben. Ihr fast neunzigjähriger Vater Edek zieht von Melbourne zu ihr nach New York. Doch will sich der polnische Holocaust-Überlebende nicht zur Ruhe setzen. Im Gegenteil, er richtet in Ruths Leben ein heilloses Durcheinander an. Erst macht er sich in ihrem Büro „nützlich“, dann fängt er eine Liaison mit einer siebzigjährigen Polin an und schließlich kommt er auf die Idee, ein Klops-Restaurant in New York zu eröffnen. Die Uraufführung nach Lily Bretts Bestseller in den Wiener Kammerspielen bestach durch absurde Situationskomik und exzentrische Figuren. Den handlungstechnisch eher schlichten Roman mit langen narrativen Passagen bühnentauglich zu machen, ist eine Herausforderung, doch Regie und Besetzung stimmen optimistisch. Henning Bock adaptierte bereits zahlreiche Literatur- und Kinderbuchklassiker für die Bühne. Joachim Bliese, der die Rolle des rüstigen Greises übernimmt, hat sich als starker Charakterdarsteller profiliert und wurde 2008 für seine schauspielerische Leistung mit dem Rolf-Mares-Preis ausgezeichnet.

Text: Natalia Sadovnik

 

Fräulein Julie

Liv Ullmann hat August Strindbergs berühmtestes Stück in der Tradition eines Kammerspiels inszeniert. In den Hauptrollen: Colin Farrell und Jessica Chastain.

Liv Ullmanns Verfilmung des berühmtesten Stücks von August Strindberg bleibt in der Tradition des Kammerspiels: Gerade mal drei handelnde Personen gönnt die Regisseurin ihrer Leinwandfassung. Auf einem Landsitz in Irland entspinnt sich 1890 nach der Feier zur Mittsommernacht ein fatales Dreiecksverhältnis: Die junge Gräfin Julie (Jessica Chastain) verführt den Diener Jean (Colin Farrell), der sie bereits als kleiner Junge begehrte – das alles unter den Augen seiner frömmelnden Verlobten Christine (Samantha Morton). Statusbewusstsein und Verlangen hindern und befeuern die verhängnisvolle Affäre der beiden Manipulatoren, in der die Machtverhältnisse selten eindeutig sind. Ein kurzer Zeitausschnitt, eine reduzierte Besetzung – doch maximale Wirkung erzielt Ullmann mit dieser Knappheit nicht. Ohne besonderes inszenatorisches Flair verlässt sie sich vollständig auf ihre famosen Darsteller, deren Kunst den Film dann auch tatsächlich rettet.

Text: Thorsten Moor

 

The Imitation Game

Denkmal für einen Codeknacker: Benedict Cumberbatch brilliert in dem Weltkriegsdrama als schwieriger Vordenker Alan Turing.

Was die Hollywood-Praxis des In-Schubladen-Steckens angeht, hat es Benedict Cumberbatch ganz gut getroffen. Offenbar ist der Sherlock-Darsteller auf Intelligenzbestien abonniert: Neben dem berühmtesten Detektiv der Welt verkörperte der britische Schauspieler Julian Assange (Inside Wikileaks), den genetisch verbesserten Supermann Khan (Star Trek Into Darkness) und bereits 2004 Stephen Hawking. Außerdem verpflichtete der Comicverlag Marvel ihn jüngst als Ober-Zauberer Doctor Strange – immerhin ein akademischer Titel. Doch zuerst ist Cumberbatch als Alan Turing zu sehen. Noch ein Genie. Der britische Mathematiker wird im Zweiten Weltkrieg vom Geheimdienst als Codeknacker rekrutiert. Als Teil eines Spezialistenteams (darunter Keira Knightley als brillante Wissenschaftlerin Joan Clarke) soll er die hochkomplexe Enigma-Chiffrierung der deutschen Wehrmacht entschlüsseln – eine schier unlösbare Aufgabe… Regisseur Morten Tyldum (Headhunters) setzt Computerpionier Turing ein eindrucksvolles filmisches Denkmal, sein grandioser Hauptdarsteller hilft nach Kräften: Cumberbatch spielt den arroganten, unkonventionellen Theoretiker zurückhaltend und bringt dennoch das ganze Leid seiner verborgenen Homosexualität zum Ausdruck – die damals unter Strafe stand. 1954 beging er Selbstmord: Zur chemischen Kastration gezwungen biss er in einen vergifteten Apfel (ein Ende, das der Film nicht zeigt).

Text: Thorsten Moor

 

Cymbals Eat Guitars

Punkiges Gepolter und freundliche Indie-Verbindlichkeit: Das Quartett aus New York gastiert am 26. Januar im Molotow.

Unbedingten Willen zur Innovation kann man Cymbals Eat Guitars nicht unterstellen, der Zug ist ohne sie abgefahren – irgendwann in den Neunzigern, mit Pavement, Dinosaur Jr. und Modest Mouse im Raucherabteil. Ihr drittes Album, Lose, betätigt sich allerdings erneut als inspirierter Vermächtnisverwalter amerikanischer Indie-Rock-Großtäter, mal mit punkigem Gepolter, mal in kunstvoll-psychedelisch ausgefransten Songs. Die Band aus New York City klingt nicht wirklich nostalgisch, aber doch umgehend vertraut – auch Lose besitzt diese freundliche Verbindlichkeit, die man bei ambitionierteren Zeitgenossen oft vermisst. Doch nur mit Sympathie kämen Cymbals Eat Guitars nicht weit: Die Songs sind das überzeugende Verkaufsargument. Und im Gegensatz zum bekannten Gitarrensound begegnet man solchen nicht so häufig.

Text: Michael Weiland

 

Kleine Krisenkunde

Die Inszenierung „Eine (mikro)ökonomische Weltgeschichte, getanzt“ verdeutlicht, wie sehr das Wirtschaftsdenken unser Leben bestimmt.

Als Karl Marx auf die Idee kam, dass die ökonomische Basis den Überbau von Kultur, Politik und Religion bestimmt, ahnte er wohl nicht, wie sehr seine Worte heute nachhallen würden. Die Wirtschaftskrise avanciert zum gefühlten Dauerzustand unserer Zeit. Wie sehr die Ökonomie unseren Alltag bestimmt, erforschten drei Jahre lang unter der Leitung von Pascal Rambert die Einwohner einer Pariser Vorstadt. Aus ihren privaten Erzählungen gestaltete der Regisseur einen Theaterabend. Eine (mikro)ökonomische Weltgeschichte, getanzt wurde bereits in Frankreich, Japan und Deutschland aufgeführt und entstand jedes Mal aufs Neue. Nun folgen 40 Hamburger dem innovativen Impetus Ramberts und beleuchten gemeinsam mit Schauspielern, Tänzern und einem Chor unterschiedliche Wirtschaftssysteme – vom Tauschhandel der Naturvölker bis zu hochkomplexen Finanzverflechtungen.

Text: Natalia Sadovnik

 

In Vandas Zimmer

Filmporträt des portugiesischen Regisseurs Pedro Costa über die Bewohnerin eines Vororts von Lissabon, dem sich die Abrissbagger nähern.

Drei Stunden dauert der Film des portugiesischen Regisseurs Pedro Costa, den er In Vandas Zimmer (im Original No quarto da Vanda) gedreht hat. Drei Stunden, in denen die Bewohnerin, eine junge Obst- und Gemüseverkäuferin, auf wenigen Quadratmetern schläft, isst, Heroin raucht und von ihrem Leben in Fontainhas, einem Vorort westlich von Lissabon, erzählt. Fontainhas ist vom Abriss bedroht. Das verwinkelte Viertel soll verschwinden, damit dort ein ganz neues errichtet werden kann. Die Bagger rücken immer näher. Doch Vanda Duarte will nicht weichen… Das Metropolis Kino zeigt Pedro Costas im Jahr 2000 unter minimalem Budget und Aufwand entstandenen Film in der Originalfassung mit englischen Untertiteln. Vorher gibt es eine Einführung des Filmemachers und Bildenden Künstlers Volko Kamensky.

 

Das Ghetto von Riga

Im Dokumentarfilm des Berliner Journalisten Jürgen Hobrecht berichten Überlebende des Holocaust über das kaum bekannte Massaker in Lettland.

Wer sich mit der deutschen Geschichte auseinandersetzt, stößt auf Kapitel, in denen Abscheuliches im Namen des Volkes verbrochen wurde. Der Journalist und Filmemacher Jürgen Hobrecht aus Berlin wirft regelmäßig einen Blick zurück. Er arbeitet seit Jahren mit Überlebenden des Holocaust zusammen und macht Dokumentarfilme zum Thema. In seiner aktuellen Arbeit Wir haben es doch erlebt untersuchte er die Ereignisse rund um „Das Ghetto von Riga“. Lettland sei einer der unbekannteren Orte des Holocaust.

Hobrecht wollte herausfinden, was in Riga 1941/1942 geschah, bevor 25.000 deutsche Juden dorthin deportiert wurden, von denen weniger als tausend überlebten. „Bevor die deutschen Juden nach Riga kamen, fand dort eines der grauenhaftesten Massaker in der Geschichte des Holocaust statt. 27.000 lettische Juden wurden innerhalb von zwei Tagen von zwölf deutschen Schützen erschossen“, erläutert der Regisseur. In seinem Film berichten Zeitzeugen über die schrecklichen Dinge, die ihnen widerfuhren – wie beispielsweise Erwachsene und Kinder nackt in Gruben getrieben wurden, in denen die noch warmen Leichen ihrer Vorgänger lagen.

Es sind Filme wie dieser, die in Zeiten wachsender Fremdenfeindlichkeit in Deutschland angeschaut werden müssen. Gegen das Vergessen. Der Regisseur ist bei der Vorstellung im Abaton anwesend.

Text: Lena Frommeyer

 

Lubomyr Melnyk

Melodien wie ein warmer Regenguss: Der Pianist aus der Ukraine spielt seine „Continuous Piano Music“ am 28. Januar live im Golem.

Wer über Lubomyr Melnyk schreibt, muss auch seine Continuous Piano Music erwähnen: Die Klavierspieltechnik des ukrainischen Pianisten lässt nicht viel Platz für Ausklang und Stille. Seine Musik besteht aus rasend schnell gespielten, mit leichten Variationen durchzogenen Klavier-Läufen und aufgelösten Akkorden, deren einzelne Töne kaum noch erkennbar sind und in auf- und abschwellenden Sound-Wellen aufgehen. Das Ergebnis erinnert an die Minimal Music von Komponisten wie Steve Reich, Philip Glass und Michael Nyman, wobei Lubomyr Melnyks unique selling point eindeutig in der hohen Geschwindigkeit liegt. Bereits im letzten Jahr spielte Melnyk ein umjubeltes Konzert im Golem. In die gleiche Bar verschlägt es ihn diesmal wieder. Wer sich für diese etwas andere Art der lounge music erwärmen kann, sollte rechtzeitig erscheinen. Die Plätze im Golem sind begrenzt.

 

Hambourg – mon amour

Eine Collage aus Zeitzeugenberichten, Musik und Bildern entführt das Monsun-Theater-Publikum zurück in die „Franzosenzeit“ Hamburgs.

Was passiert, wenn zwei Französinnen und ein Deutscher sich zusammentun, um in der theatralischen Collage Hambourg – Mon Amour das Hamburg zur Franzosenzeit wieder aufleben zu lassen? Es entsteht eine Art lebendig gestalteter Geschichtsunterricht, der Wissen vermittelt und dabei auch noch Spaß macht. Das Trio hat mithilfe von verschiedenen Zeitzeugenberichten, Musik und Bildern ein kurzweiliges Programm zusammengestellt, in dem unter anderem geklärt wird, warum das Franzbrötchen seinen Namen trägt und woher vermeintlich typisch hamburgische Ausdrücke wie „pingelig“, „plietsch“ und „tschüß“ stammen – drei Mal dürft ihr raten… Die Schauspielerin Véronique Elling, durch internationale Auftritte und als Dozentin für Schauspiel und Gesangsinterpretation bekannt, wird musikalisch von Mathias Husman begleitet. Regie führt Géraldine Hélène Schramm (Foto).

 

Cold Specks

Die kleine Kanadierin mit der großen Stimme präsentiert den Doom Soul ihres aktuellen Albums „Neuroplasticity“ live im Nochtspeicher.

Gleich und gleich gesellt sich anscheinend gern. So gastierte der Zeremonienmeister des Untergangs, Michael Gira (seines Zeichens Chef der 1982 gegründeten New Yorker No-Wave-Legende und Noise-Rock-Wegbereiter Swans) auf Neuroplasticity, dem aktuellen Album der 26-jährigen kanadischen Musikerin Cold Specks – auch wenn sein eigener Abrissbirnenrock doch ganz anders klingt. Die Wahl-Londonerin (eigentlich: Al Spx) ließ sich von einer Zeile aus James Joyce‘ monströsem Hauptwerk Ulysses zu ihrem Künstlernamen inspirieren und hat ihre Spielart düsteren „Doom Soul“ genannt, ganz treffend für die tief ins Herz der Dunkelheit kriechenden Gitarrensongs. Gekonnt und eigenwillig, selbstbewusst und sehr schön kann das manchmal klingen. Ein passender Soundtrack zur Jahreszeit. Also: Frag nicht nach Sonnenschein.