Für mich war Deflation lange Zeit der größte anzunehmende Unfall, der uns und der Weltwirtschaft insgesamt drohte. Es gab verschiedene Blasen, vor allem an den amerikanischen, britischen, spanischen und vermutlich auch an den chinesischen Immobilienmärkten, aber auch an den Kreditmärkten, wo Risikoprämien zeitweise verschwunden waren, an den Aktienmärkten Chinas und anderer Emerging Markets, oder an den Märkten für Rohöl und Metalle. Die idealen Voraussetzungen für ein Deflationsszenario waren also gegeben.
Die Preise und Kurse hatten sich weit über ihre Trendlinien hinaus erhöht und würden einbrechen, wenn erst einmal klar würde, dass sie von den Ertragsaussichten her nicht haltbar seien. Die Ertragsaussichten würden sich nicht zuletzt auch dadurch verschlechtern, dass die Notenbanken die Zügel anziehen würden.
Das würde dann zwangsläufig auf breiter Front zu Vermögensverlusten bei Verbrauchern, Banken und anderen Unternehmen führen. Da eine hohe und zunehmende Verschuldung ein bestimmendes Charakteristikum der meisten Blasen ist, käme es durch den Preisverfall bei den Sicherheiten zu Insolvenzen, mindest aber in großem Stil zu einer Verschlechterung der Bilanzen. Das wiederum würde die Schuldner oft auf Jahre hinaus zwingen, ihre Schulden zu vermindern, also mehr zu sparen und weniger auszugeben. Das war das Muster in der Depression der dreißiger Jahre und der langen japanischen Rezession der neunziger Jahren.
Jetzt sind wir aber in einer Situation, wo zwar die Immobilienblasen allesamt platzen, wo es eine ausgewachsene Kreditkrise gibt, wo die Aktienmärkte Chinas um mehr als die Hälfte an Wert verloren haben, aber wo von Deflation im Weltmaßstab nicht viel zu sehen ist. Die Rohstoffmärkte sind zudem fest wie eh und je.
Inflation ist heute das Thema, nicht Deflation. Global hat sie sich innerhalb eines Jahres auf fast 4 ½ Prozent verdoppelt. Auf den Vorstufen des Wertschöpfungsprozesses nimmt der Kostendruck deutlich zu, einschließlich der Löhne, und die Inflationserwartungen beginnen, aus dem Ruder zu laufen. Die EZB, die Fed, die Bank of England und alle übrigen Notenbanken planen gegenwärtig, im nächsten Schritt die Zinsen zu erhöhen. Sie haben immer weniger Bedenken, dass es dadurch zu einer nicht beherrschbaren Rezession kommen könnte.
War es vielleicht so, dass die Notenbanken, in ihrer Furcht vor Deflation und Nullzinsbarriere, jahrelang eine viel zu expansive Politik betrieben hatten – was sich nunmehr rächt? In den goldenen Anfangsjahren dieses Jahrtausends schien der Traum aller Wirtschaftspolitiker wahr geworden zu sein: Es gab rekordhohes Wachstum bei sehr moderater Geldentwertung. Vor allem die Emerging Markets mit ihrem hohen Produktivitätswachstum, dem Überschuss an Arbeitskräften und relativ schwachen Wechselkursen sorgten dafür, dass der Wettbewerbsdruck stark blieb und sich die Preise nur schwer erhöhen ließen. Nicht nur in den USA blieb die expansive Geldpolitik lange ohne negative Folgen für die Inflation.
In den Emerging Economies wurde noch mehr auf Wachstum gesetzt. Da die Leistungsbilanzen meist deutliche Überschüsse aufwiesen und es zudem wegen der hervorragenden Wachstumsaussichten zu privaten Netto-Kapitalzuflüssen kam, waren die Notenbanken dieser Länder gezwungen, gewaltige Devisenreserven anzusammeln, wenn sie nicht den Wechselkurs ihrer Währung gegenüber dem Dollar aufwerten lassen wollten. Wie Martin Wolf am Mittwoch in der Financial Times zeigt, haben die Währungsreserven der Welt vor allem aus diesem Grund in den vergangenen sieben Jahren von 1,9 auf 6,8 Billionen Dollar zugenommen. Im Gegenzug sind die Schwellenländer finanziell unabhängig von Geldgebern im Westen geworden und brauchten nicht mit Sanktionen des IWF und anderer Gläubiger zu rechnen. Netto waren sie zu den größten Kapitalexporteuren geworden. Das Ganze ging auch deshalb lange so gut, weil das Angebot an Gütern und Diensten Schritt hielt mit der boomenden Nachfrage. Sowohl die Sparquoten als auch die Investitionsquoten waren so hoch, wie vor Jahrzehnten in Japan und in den Tigerstaaten Korea, Taiwan, Singapur und Hongkong.
Inzwischen zeigt sich, dass die Auslastung der weltwirtschaftlichen Produktionskapazitäten trotz ihrer starken Ausweitung so hoch ist wie seit den sechziger Jahren nicht mehr. Gleichzeitig liegen die Realzinsen sowohl bei den kurzen als auch bei den langen Laufzeiten nur bei etwa 1 Prozent und damit nach wie vor deutlich unter der Wachstumsrate des globalen BIP, die zur Zeit 3 bis 3 ½ Prozent betragen dürfte. Aus China ist inzwischen ein Exporteur von Inflation geworden, nachdem die Reservearmee an willigen und billigen Landbewohnern inzwischen deutlich geschrumpft ist und die Löhne mit zweistelligen Raten zunehmen – und das bei einer nicht länger real abwertenden Währung.
Es fehlt nicht an Liquidität, aber die freien Kapazitätsreserven sind allmählich verschwunden. Jetzt geht es daher also in die Preise. Das unterstützt im Übrigen natürlich auch die Rohstoffmärkte.
Die Deflationsgefahr ist meiner Ansicht nach aber noch nicht ausgeräumt. Ich vermute vor allem, dass die Vermögenseffekte die Konjunktur in den USA, Großbritannien, Spanien und China stark dämpfen werden. Hinzu kommt bei allen erdölimportierenden Ländern, einschließlich Eurolands, der massive Kaufkraftverlust durch die Verteuerung der Einfuhren. Je teurer das Öl, desto größer das Risiko einer ausgewachsenen Weltrezession – so wie das in der Vergangenheit stets der Fall war. Nicht zu vergessen die zu erwartende restriktivere Geldpolitik, die ebenfalls die Nachfrage und damit die Konjunktur dämpft.
Es ist noch nicht ausgemacht, dass wir es tatsächlich mit einer neuen Inflationsmentalität zu tun haben. Ich vermute insbesondere, dass es die Fed nicht so ernst nehmen wird mit ihrer Ankündigung, dass der nächste Schritt eine Zinserhöhung sein wird. Bislang ist nämlich noch gar nicht abzusehen, dass es wieder zu einem Konjunkturaufschwung kommt. In der Vergangenheit hat die Fed nie die Zinsen erhöht, solange die Beschäftigung und die Industrieproduktion rückläufig waren. Das ist aber immer noch der Fall.
Wenn ich recht damit habe, dürfte der Dollar demnächst erneut unter Druck geraten. Ich vermute auch, dass der steile Anstieg der Bondrenditen sowohl hier als auch in Amerika eine mittelfristig unberechtigte Inflationsfurcht widerspiegelt. Ich schließe nicht aus, dass wir bei den zehnjährigen Bundesanleihen noch die Fünf vor dem Komma sehen werden, danach aber müsste die Aussicht, dass wir uns auf eine Rezession zu bewegen, die entscheidende Determinante der Renditen werden. Das klingt alles, nebenbei gesagt, nicht sehr positiv für die Aktienmärkte. Sie werden schwach bleiben.
Wie kommt es übrigens, dass wir keine Flucht in die Sachwerte, also Immobilien und Aktien, erleben? Warum fällt der Goldpreis? So groß kann die Inflationsfurcht nicht sein, jedenfalls nicht bei den Anlegern.