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EZB: neue Aufgaben, neue Ziele

 

Die Krise zeigt, dass die geldpolitische Verfassung Europas nicht so wetterfest ist wie gedacht, dass es zu Entwicklungen gekommen ist oder kommen könnte, mit denen in der Gründungsphase des Eurosystems nicht gerechnet wurde. Die Finanzbranche ändert sich augenblicklich auf dramatische Weise, und mit ihr die Rolle der Notenbanken.

Auch bei der EZB und dem Vertrag von Maastricht gibt es Reformbedarf. Mehr als bei nationalen Zentralbanken haben wir es bei der Währungsunion mit einem „work in progress“ zu tun – die Anzahl der Akteure und ihrer Beziehungen untereinander ist in der EWU ungleich viel größer als in den einzelnen Ländern, mit steigender Tendenz, da der Euroraum im Endstadium ganz sicher größer sein wird als heute.

Ich denke zunächst einmal an die folgenden drei Bereiche:

Erstens: Das Inflationsziel von „knapp unter 2 Prozent“ ist nicht zu halten. Es sieht danach aus, dass die Rezession tief und lang sein wird, bei uns und auch global, und dass wir auf eine Deflation zusteuern. Die deutschen Zahlen für den Arbeitsmarkt im Dezember und die Industrieproduktion im November, die gerade herauskamen, lassen vermuten, dass das reale BIP im 4. Quartal saisonbereinigt gegenüber dem 3. Quartal um etwa 1,5 Prozent gefallen ist, also mit einer Verlaufsrate von mehr als 6 Prozent. Sieht nach einem freien Fall aus. Und eine Wende ist nicht in Sicht, wie der ungebremste Rückgang der Auftragseingänge zeigt. Dadurch ist meine Prognose wahrscheinlicher geworden, dass wir im nächsten Sommer bei der Inflationsrate des Euroraums eine Null, wenn nicht sogar ein Minus sehen werden. Was dann, EZB?

Produktion und Auftragseingang - dt Industrie - 0811

Sie hat sich mit ihrer Fokussierung auf die Headline-Inflation selbst gefesselt. Sie reagiert damit de facto auf die Schwankungen der Rohstoffpreise. Die Zinserhöhung im vergangenen Juli auf 4¼ Prozent wäre uns erspart geblieben, wenn die EZB sich an die Kerninflationsrate gehalten hätte, bei der die Effekte von Energiepreisen und Nahrungsmittelpreisen ausgeklammert werden; sie liegt bislang ziemlich stabil bei 2 Prozent. Die Headline-Rate hatte dagegen im Sommer 4 Prozent erreicht und in Frankfurt Panik ausgelöst. Auch die mittelfristigen Inflationserwartungen, die die EZB möglichst stabil bei etwas unter 2 Prozent halten möchte, waren beunruhigend gestiegen, wodurch sie wohl ihre Glaubwürdigkeit angeknackst sah. Aktuell hätten die Zinssenkungen der EZB nicht so dramatisch ausfallen müssen, um auf das niedrige Zinsniveau zu kommen, das die Wirtschaft jetzt braucht, hätte sie sich an der Kerninflation orientiert.

Euroland Headline und Kerninflationsrate - 0812

Schwer zu sagen, wie es ausgehen wird. Jedenfalls wären bei einem Festhalten am jetzigen Ziel angesichts eines fallenden Preisniveaus in Kürze Nullzinsen und eine Reihe unkonventioneller Maßnahmen angesagt. Wie sonst ließe sich eine Inflationsrate von knapp 2 Prozent erreichen? Die EZB dürfte sich allerdings gegen einen solchen Automatismus sträuben und auf Sondereinflüsse verweisen. Das hat jedoch zur Folge, dass sie das präzise Inflationsziel de facto aufgeben wird, so wie sie de facto das Geldmengenziel aufgegeben hat. Vielleicht werden Asset-Preise in die neue Zielfunktion aufgenommen.

Zweitens braucht die Währungsunion eine Finanzaufsicht mit Biss. Eine Zentralbank ist nicht nur für Preisstabilität zuständig, sondern zu aller erst für das Funktionieren des Finanzsystems. Wie kann das gehen, wenn es zum einen keinen europäischen Finanzminister gibt, der beim bail-out der großen multinationalen Institute helfen kann, und zum anderen die Aufsicht bei nationalen Behörden – wie etwa der deutschen BaFin – angesiedelt ist, die nur ad hoc zusammenarbeiten? Benötigt wird eine schlagkräftige zentrale Finanzaufsicht (für Banken, Versicherungen und alle anderen Finanzdienstleister), die wiederum von der EZB beaufsichtigt wird. In Großbritannien wird diskutiert, die FSA organisatorisch bei der Bank of England aufzuhängen. Das Thema steht aber nach dem schlimmen Versagen der Aufseher in allen Ländern, die zur Zeit mit der Rettung des Finanzsektors beschäftigt sind, auf der Agenda. Die Briten beschäftigt dabei im Übrigen nicht zuletzt die Frage, wie man die Gehälter der Aufseher so attraktiv machen kann, dass man auch die richtigen Leute bekommt. Für einen Europäer wie mich ist nicht zuletzt der Aspekt erfreulich, dass die wirtschaftliche Integration durch die zentrale Aufsicht weiter vorangetrieben werden dürfte.

Drittens wird der Maastricht-Vertrag angepasst werden müssen. Es ist angesichts der Konjunkturaussichten und der bereits angekündigten Programme einigermaßen sicher, dass die staatlichen Budgetdefizite schon bald deutlich die 3 Prozent-Grenze übertreffen werden, und das nicht nur in einem einzelnen Jahr. Wenn man sich, wonach es aussieht, in dieser Krise notgedrungen über das Defizitkriterium hinwegsetzt, schadet das dem Europrojekt. Statt ständig gegen die Regeln zu verstoßen, sollten diese geändert werden – es wird sich nämlich herausstellen, dass die Defizite deshalb stark anschwellen, weil sich die Wirtschaft in einer deflationären Notsituation befindet, nicht dagegen weil es inflationäre Ausgabenexzesse gäbe.

Geändert werden sollten auch die Aufnahmekriterien für neue Mitglieder der Währungsunion. Vor allem muss die Forderung abgeschafft werden, dass die Inflation maximal 1,5 Prozentpunkte höher sein darf als in den drei EU (27)-Ländern mit der niedrigsten Inflationsrate. Die ehemals kommunistischen Länder im Osten werden vermutlich mindestens ein Jahrzehnt brauchen, bis sie das schaffen, es sei denn sie gehen ähnlich trickreich vor wie einst Griechenland. Das kann aber nicht gewollt sein.

Es gab vergangenen Monat ein Working Paper der BIZ, in dem empirisch gezeigt wurde, dass der sogenannte Balassa-Samuelson-Effekt bei den osteuropäischen Ländern, die sich in einem wirtschaftlichen Aufholprozess befinden, eine bedeutende Rolle spielt. Die Inflation ist dort deshalb strukturell hoch, weil die Produktivität in der Industrie im Verlauf des Modernisierungsprozesses stark zunimmt; da das zu einem Wettbewerb um Arbeitskräfte führt, kommt es zu einem raschen Anstieg des Lohnniveaus in der Wirtschaft insgesamt, was wiederum die Inflation treibt und für lange Jahre hochhält. Die Slowakei ist nach dem Stand der Dinge auf absehbare Zeit das letzte Land aus der Region, das noch den Fuß in die Tür der Währungsunion bekommen hat.

Dabei brauchen gerade die kleinen Länder des Ostens – und das sind sie gemessen an ihrem BIP allesamt – stabile Wechselkurse. Auch für das Bankensystem des Westens wäre es gut zu wissen, dass die auf Euro lautenden Kredite an diese Länder nicht durch große Abwertungen unbedienbar gemacht werden und es selbst dadurch in Schwierigkeiten gerät. Ein großzügigeres, weniger formales Inflationskriterium würde allen dienen, nicht zuletzt aus politischen Gründen. Gefahren für die Inflation in den „alten“ Ländern der Währungsunion entstehen dadurch nicht. Es geht im Übrigen in nächster Zeit nicht um eine zu hohe, sondern vielmehr um eine zu niedrige Inflationsrate.